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Ab ins Grüne! (Podcast 200)

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Die neue Lust aufs Land: Warum es immer mehr Menschen ins Grüne zieht

Städte sind attraktiv. Städte bieten Jobs. Und Städte werden immer größer. Doch es gibt einen Gegentrend, der erstaunlich viele Menschen begeistert – die neu entdeckte Landlust. Wem Balkon oder Schrebergarten nicht mehr genügen, zieht sich hinter Heckenröschen und Tomatenranken in eine selbstbestimmte Alternative zurück. Was der eine belächelt, gilt dem anderen als verantwortungsvoller Umgang mit der Natur und ihren Ressourcen. Doch kann man Globalisierungswahn und Handykult auf diese Weise dauerhaft entkommen? Wissen.de-Autor Kai Jürgens hat einen Spaziergang ins Grüne gemacht.

 

Schneller, höher, weiter – oder?

Die Geschichte der Stadt scheint eine fortwährende Erfolgsstory zu sein. Seit der industriellen Revolution kommt jenem Prozess, der als „Verstätterung“ bezeichnet wird, eine immer größere Rolle zu. Städte entwickeln sich zu Großstädten, und Großstädte wachsen zu Metropolen. Am Ende stehen die „Megacities“ – Ballungsräume mit mehr als zehn Millionen Einwohnern, von denen es weltweit etwa dreißig gibt. Zwei Drittel davon liegen in Asien und Lateinamerika. Je nach zugrunde gelegter Definition ist Tokio die größte Metropolregion der Welt und kommt auf weit über fünfunddreißig Millionen Einwohner – das sind beinahe dreißig Prozent von Japans Gesamtbevölkerung. Zum Vergleich: In Deutschland bringt es der Großraum Rhein-Ruhr mit Köln, Düsseldorf, Dortmund und Essen „nur“ auf etwa zehn Millionen. Die weltweit größte Stadt im engeren Sinn ist Mexiko-City, in der knapp zwanzig Millionen Menschen leben – Berlin bringt es auf ein Sechstel davon. Werden die Städte noch weiter wachsen?

Nicht unbedingt. Stadtentwicklung geht auf vielen Ebenen vor sich und kennt keineswegs nur Phasen ungebremster Zuwanderung. Schon im 19. Jahrhundert gab es Anstrengungen, der Lebensqualität wieder mehr Raum zu verschaffen, indem freiwerdender Bauplatz begrünt und nicht mit neuen Hochhäusern besetzt wurde. Städte können auch schrumpfen und oder wie Wien, das um 1910 als viertgrößte Stadt der Welt galt und heute Platz 139 einnimmt, ihren entsprechenden Rang einbüßen. Aspekte wie „Stadtumbau“ oder die Bereitstellung von Eigentums- und Reihenhäusern im Umfeld spielen eine wichtige Rolle. Es ist durchaus möglich, auch innerhalb der Stadt „ins Grüne“ zu gelangen – neben Parkanlagen werden hierzu auch immer öfter die Friedhöfe genutzt. Allerdings: Wer Gärten mag – und vielleicht sogar gärtnern möchte –, wer in der Natur spazieren gehen will und nicht nur in einer öffentlichen Anlage, den wird dieses Angebot nicht zufriedenstellen. Dann beginnt tatsächlich die Suche nach einer Alternative zum urbanen Leben. Dieser in letzter Zeit immer stärker werdende Trend lässt sich nicht zuletzt am Erfolg der Zeitschrift Landlust ablesen.

 

Entdeckungen auf vertrautem Gebiet

Folgt man der Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse, dann ist die Landlust der große Gewinner auf dem Zeitschriftenmarkt. Mit einer durch Umfragen ermittelten Reichweite von 3,01 Millionen Lesern ist sie 2012 nicht nur kurz davor, in die „Top 20“ dieses Marktsegments einzusteigen, sondern hat im Vergleich zum Vorjahr einen Zugewinn von 37,4 Prozent erzielt. Das sind Zahlen, auf die die Konkurrenz nur neidvoll blicken kann. Dieser Trend findet sich auch in der Auflagenhöhe wieder, die Quartal um Quartal im zweistelligen Prozentbereich wächst; genau so sieht es mit den Abonnenten aus. Was aber ist das Geheimnis der Landlust? Das 2005 in Münster gegründete und zweimonatlich erscheinende Magazin beschäftigt sich mit allem, was im ländlichen Umfeld von Interesse ist – mit Themen wie „Im Freien leben“ beispielsweise, den Jahreszeiten im Garten oder der geselligen Runde am Kartoffelfeuer. Essen und Trinken spielen dabei eine große Rolle, es geht um Eingemachtes oder um festliche Menüs für die ganze Familie.

Öko-Aktivisten, Landwirte und Obstbauern sind allerdings weit weniger die Adressaten als Vertreter jener gehobenen Mittelschicht, die zu größtem Teil ein Eigentumshaus in ländlicher Umgebung bewohnt und daher auch entsprechend verdient. Das zu einem sehr moderaten Preis abgegebene Magazin setzt keineswegs auf plakative Sensationen, sondern widmet sich dem Vertrauten oder Allzu-oft-Übersehenen, dem nun neue Seiten abgewonnen werden. Tiere im Garten, ländliche Produkte, saisontypische Rezepte für jede Gelegenheit – die Mischung macht‘s, und die Mischung kommt offenbar an. Der Trendforscher Peter Wippermann kommentiert dies in der Süddeutschen Zeitung wie folgt: „Wenn man sich klarmacht, dass diese Zeitschrift – die aus einem landwirtschaftlichen Verlag kommt und keinerlei News-Wert besitzt, sondern von verschwundenen Traditionen berichtet und die Natur mystifiziert – eine höhere Auflage hat als die einst größte Illustrierte Stern, dann bekommt man eine ungefähre Ahnung davon, wovon die Menschen in Deutschland träumen.“ Doch wovon träumt diese Klientel genau?

 

Rückzug ins Private oder Aufbruch zu neuen Ufern?

Dass das 21. Jahrhundert seine Tücken hat, ist unbestritten. Finanzkrise, Sorge um den Arbeitsplatz, Zwang zur umfassenden Mobilität – kaum jemand wird sich in den vergangenen Jahren nicht gewünscht haben, zumindest gelegentlich auf die Bremse treten und in einen ruhigeren Daseinsmodus zurückschalten zu können. Selbst Wochenende und Urlaub sind keine Rückzugsmöglichkeiten mehr – das Mobiltelefon ist schließlich immer dabei, und es klingelt auch unentwegt. Kein Wunder also, wenn sich „Entschleunigung“ als eines der Modewörter, die in diesem Zusammenhang immer wieder genannt werden, durchgesetzt hat. Nicht erreichbar sein zu müssen, Zeit zu haben für die wirklich wichtigen Dinge – grundsätzlich könnte man das auch in der Stadt. Vielen hilft es aber, sich einen räumlich separierten Rückzugsort zu suchen, der als Gegenpol fungiert. Das kann der berühmte Schrebergarten ebenso wie das Häuschen im Grünen sein. Hauptsache, der Alltag bleibt außen vor!

Der Erfolg von Landlust wird gern mit einer besonderen Mentalität in Verbindung gebracht, einer spezifischen Aufmerksamkeit für die Natur und einer generellen Achtsamkeit den Belangen der Umwelt gegenüber. Dies mag richtig sein, ist aber kein Ausschließlichkeitsmerkmal für jene, die sich „ins Grüne“ zurückziehen. Nachhaltige Produkte kann man auch in der Stadt kaufen, in deren Umfeld sie – der besseren Infrastruktur wegen – nicht selten hergestellt werden. Auch ist das Geld, das zum Erwerb eines Landhauses dient, wohl immer noch am ehesten in der Stadt zu verdienen. Dennoch – ein gutes Stück Utopie wird hier trotzdem sichtbar. Es kann mehr als entspannend sein, sich auf einen Sonnenuntergang als auf die neueste Folge einer hochgelobten TV-Serie zu konzentrieren, und die allgegenwärtigen E-Mails können bisweilen eben doch einen Tag warten – manchmal auch deren zwei. Wer es schafft, sich nicht unter Druck setzen zu lassen, kommt jener Form von Gelassenheit wohl recht nahe, die seit jeher mit romantisierenden Vorstellungen vom Landleben verbunden wird. Ob man dazu aus der Stadt fortziehen muss, kann jeder zum Glück selber entscheiden.

von Dr. Kai U. Jürgens, wissen.de - Redaktion

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