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Wie unsere Sprache unser Musikgespür beeinflusst

Dass der Sinn für Musik nicht bei allen Menschen gleich ausgeprägt ist, haben wir fast alle schon im Alltag erlebt: Während manche nicht einmal im Takt klatschen können, zeigen andere ein gutes Rhythmusgefühl, wieder andere haben ein gutes Gehör für Tonhöhen und Melodien. Doch was macht einen Menschen musikalisch und den anderen nicht? Und welche Faktoren beeinflussen unser Melodiegehör und Rhythmusgefühl?
NPO, 10.05.2023
Symbolbild hören

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Unser Sinn für Musik hat tiefe biologische Wurzeln: Schon unsere frühen Vorfahren trommelten und sangen bei Ritualen, Festen oder alltäglichen Arbeiten, einige der bisher ältesten bekannten Musikinstrumente sind gut 40.000 Jahre alt. Doch das musikalische Erbe reicht wahrscheinlich noch weiter zurück, denn auch unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen, mögen Musik – sofern es die richtige ist: Westliche Musik schreckt sie eher ab oder lässt sie kalt, bei abwechslungsreichen afrikanischen und indischen Rhythmen sind die Menschenaffen jedoch ganz Ohr.

Angeboren und früh geprägt

Was aber beeinflusst und prägt unsere musikalischen Vorlieben und auch unsere musikalischen Fähigkeiten? Klar scheint, dass unser Kontakt mit der Musik schon Mutterleib beginnt: Schon ab der 16. Woche reagiert das ungeborene Kind auf die Geräusche seiner Umgebung – auf die Stimme der Mutter, aber auch auf Musik, wie Ultraschalaufnahmen zeigen: Ertönt Musik, beginnen die Ungeborenen, sich verstärkt zu bewegen und reißen den Mund auf.

„Musik steckt uns in den Genen“, erklärt der US-Neurowissenschaftler Mark Tramo. „Alle Menschen kommen schon mit einem angeborenen Sinn für Musik auf die Welt.“ Dieses Gespür für Musik sorgt dafür, dass wir Melodien erkennen und bestimmte Harmonien als angenehm empfinden, und erklärt auch, warum Musik trotz vieler kultureller Unterschiede weltweit sehr ähnliche Grundprinzipien folgt. Auch bei unserem Rhythmusgefühl mischen die Gene mit: Wissenschaftler haben kürzlich 69 Genvarianten identifiziert, die beeinflussen, wie gut wie einen Takt halten oder einen Rhythmus klatschen können.

Wie stark wie diese angeborenen Fähigkeiten nutzen und ausbauen, hängt wiederum von uns selbst und unserem Umfeld ab. Hören wir in unserer Familie von früher Kindheit an viel Musik, wird gemeinsam gesungen oder lernen wir sogar ein Instrument, bringt dies auch unsere musikalischen Fähigkeiten voran.

Schreiender Säugling
Wenn Babys weinen oder schreien, dann hängt der Klang auch von der Muttersprache ab. Sie verinnerlichen bereits im Mutterleib die Sprachmelodie ihrer Eltern und imitieren diese später.

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Was Sprache mit Musik zu tun hat

Doch es gibt noch einen Einflussfaktor, der lange übersehen wurde: unsere Muttersprache. Denn je nachdem, mit welcher Sprache wir aufwachsen, kann auch sie unseren Sinn für Tonhöhen, Melodien oder Rhythmus prägen. Welche Verbindungen Sprache mit Musik hat, hören wir jeden Tag: Derselbe Satz kann beispielsweise je nach Betonung und Satzmelodie eine Frage oder eine Antwort ausdrücken. Wenn wir ein Wort genervt oder sarkastisch dehnen, bringt dies die Botschaft ebenfalls klar rüber.

In den sogenannten tonalen Sprachen wie dem Chinesischen und andere asiatischen und afrikanischen Sprachen verändert sich sogar die Bedeutung eines Worts je nachdem, ob es hoch, tief, mit auf- oder absteigender Tonhöhe gesprochen wird. Im chinesischen Mandarin kann „ma“ je nach Wortmelodie beispielsweise Mutter oder Pferd bedeuten. Studien zeigen, dass Kinder die typischen Melodien und Merkmale ihrer Muttersprachen schon im Mutterleib verinnerlichen. Schon die Schreie von Neugeborenen spiegeln dadurch sprachtypische Muster wider.

Wie die Muttersprache unseren Musiksinn prägt

Was aber bedeutet dies für das musikalische Gespür? Kann die Art unserer Muttersprache womöglich auch beeinflussen, wie gut wir Melodien, Töne oder Rhythmen erkennen? Genau das haben Jingxuan Liu von der Columbia University in New York und ihre Kollegen vor kurzem untersucht. Dafür stellten rund 500.000 freiwillige Testpersonen mit 54 verschiedenen tonalen und nicht-tonalen Muttersprachen in einem Online-Test ihre musikalischen Fähigkeiten auf die Probe. In drei Höraufgaben sollten sie erkennen, ob sich zwei sehr ähnliche Melodien unterscheiden, ob ein Beat im Takt zum Lied spielt und ob eine Stimme in der richtigen Tonhöhe zur Begleitung singt.

Es zeigte sich: Menschen mit tonaler und nicht-tonaler Muttersprache haben tatsächlich unterschiedliche musikalische Stärken. Diejenigen mit tonaler Muttersprache haben im Schnitt ein besser ausgeprägtes melodisches Gehör. Weil ihr Gehirn von frühester Kindheit an stärker auf die Wahrnehmung subtiler Tonhöhen-Verläufe trainiert ist, können sie besser zwischen ähnlichen Melodien unterscheiden als Menschen mit nicht-tonaler Muttersprache wie Deutsch oder Englisch. Dafür fällt es diesen oft leichter, Rhythmen zu verfolgen und schon kleine Abweichungen vom Takt zu bemerken.

Allerdings: Das heißt natürlich nicht, dass alle deutschen oder englischen Muttersprachler automatisch taktischer sind oder alle Chinesen das perfekte Gehör für Melodien besitzen – diese Tests geben einen Durchschnitt wieder. Es gibt daher auch deutsche Muttersprachler, die am Takt vorbeiklatschen, und gleichzeitig solche, die auch ohne tonale Muttersprache ein nahezu perfektes Melodiegehör besitzen.

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