Die Mutter aller Spiele

1/7

"Josef Friedrich Schmidt (1871 bis 1948) hat selbst nichts Neues erfunden. Denn das Spiel ist unter anderem Namen schon viele Jahrhunderte zuvor bekannt gewesen. Zuerst wurde es wohl in Indien gespielt. Man kannte es unter dem Namen Pachisi", erklärt Tom Werneck und holt zum Beweis einen Katalog hervor, in dem Szenen aus dem Alltag an einem indischen Hofe aufgemalt sind, und blättert im Kapitel "Palastleben". Der 69-jährige Spielekritiker nimmt die Lupe zur Hand - und tatsächlich...

Susanne Dreisbach

2/7

Das Spiel, das zwei der Männer auf dem Bild aus dem Ausstellungskatalag "Maharaja" spielen, hat große Ähnlichkeit mit unserem "Mensch ärgere dich nicht". Doch anders als das beliebte Würfelbrettspiel, das Familien auf der ganzen Welt heutzutage um des Spaßes willen spielen, hatte das Pachisi eine tiefere Bedeutung. "Es symbolisierte den Lebensweg des Menschen, aus dem man jederzeit herausgeworfen werden kann", erzählt Werneck, "doch kann man das Leben immer wieder neu starten, bis man irgendwann ins Nirvana, ins Paradies, eintritt und das irdische Leben mit seinen Neuanfängen hinter sich lassen kann." Tom Werneck tippt auf die Mitte des Spielfelds, das "Nirvana": "Man kann also sagen, das Pachisi stellte in spielerischer Form den Gedanken der Reinkarnation dar."

Susanne Dreisbach

3/7

Bei einer verbreiteten Form des indischen Pachisi-Spiels war das Spielfeld ein quadratischer Stoff. Eine Lösung, die sich deutlich besser zum Transport eignete als die modernen Brettspiele. Das Design des alten Pachisi hat mit unseren heutigen Sehgewohnheiten ebenfalls wenig zu tun. "Zu unübersichtlich, zu uneindeutig für den westlichen Geschmack", urteilt Werneck. Dennoch: Die Idee dieses einfachen Würfelspiels, in dem es nicht nur auf die Intelligenz des Spielers ankommt, sondern Glück und Zufall eine wesentliche Rolle spielen, fand spätestens im Zeitalter der Kolonialisation Anhänger in allen möglichen Teilen der Welt. "Es fand damals ein reger Kulturaustausch statt", erzählt der Profi, der viele Jahre als Spielerezensent für die ZEIT und die Frankfurter Rundschau gearbeitet hat, "die Briten, die Indien kolonialisiert hatten, brachten das Pachisi mit nach Europa. Unter dem Namen "Ludo" war es in England und Amerika bald weit verbreitet." Auch die Spiele "Eile mit Weile" und "Der Weg zur Herberge", die lange vor "Mensch ärger Dich nicht" gespielt wurden, funktionierten nach dem immer gleichen Prinzip: würfeln, einrücken, rausschmeißen.

Susanne Dreisbach

4/7

In der beeindruckenden Spielesammlung des Münchner Archivars lassen sich sogar zwei Faksimile des Original-Mensch-ägerere-dich-nicht finden, das der Angestellte Josef Friedrich Schmidt um 1910 entworfen hat. Selbst die Klebestreifen an den abgestoßenen Ecken des Kartons sind nachgedruckt! "Auch wenn Schmidt das Spiel nicht neu erfunden hat, so hat er ihm doch ungeheuren Auftrieb verliehen", stellt Tom Werneck klar, "er hat sich einen fantastischen Namen ausgedacht und ein sehr gutes Design entwickelt, dessen Formen und Farben für die westlichen Spieler sehr eingängig sind." Außerdem habe Schmidt, der 1914 den Schmidt Spieleverlag gründete, einen überraschend erfolgreichen Distributionsweg für "sein" Spiel gefunden. An eine herkömmliche Vermarktung sei 1914, dem Jahr, in dem der Erste Weltkrieg ausbrach, ja nicht mehr zu denken gewesen. Darum beschenkte J. F. Schmidt die vielen Kriegslazarette mit 3000 Ausgaben von Mensch ärgere dich nicht. "Und nachdem der Krieg zu Ende war und die Soldaten zu ihren Familien zurückgekehrt waren, brachten sie ihnen dieses Spiel bei, das sie in ihrer Krankenzeit so unendlich viele Male gespielt hatten", weiß Tom Werneck zu berichten. Schon 1920 hatte das Spiel eine Auflage von einer Million Exemplaren erreicht.

Susanne Dreisbach

5/7

Eine weitere, besonders aufwändige Version des Spieleklassikers ist dieses so genannte Dreidrehspiel, bei dem die Spielfiguren die verschiedenen Höhenstufen des Spielfeldes erklimmen müssen, bis sie oben in der Mitte angelangt sind.

Susanne Dreisbach

6/7

In den vergangenen hundert Jahren hat es immer wieder Varianten der "Mutter aller Spiele" gegeben. Doch den Plagiaten mit Namen wie "Der Mann muss hinaus" oder "Mensch, verdrück Dich" war keine lange Lebensdauer beschert. Auch die vielen verschiedenen Designformen sollten sich immer nur für kurze Zeit auf dem Spielemarkt halten. Am Ende entschieden sich die Käufer doch immer für das klassische, in der Mitte zu faltende Brettspiel mit den vier Farben rot, grün, gelb und blau. Dabei ist etwa die Idee, das Würfelspiel "Mensch ärgere dich nicht" im Design eines aufklappbaren Würfels zu präsentieren, doch eigentlich ganz nett, nicht wahr?

Susanne Dreisbach

7/7

"Zu Tode geliebt", so sehe sein eigenes "Familien-Mensch ärgere dich nicht" inzwischen aus, sagt Tom Werneck schmunzelnd. Aber man dürfe einem Spiel, das die Familie oft und gerne spiele, ruhig ansehen, dass es häufig in Gebrauch sei. Werneck spielt am liebsten mit seinen drei großen Enkelkindern im Alter von sieben, vier und drei Jahren. Was ihn dabei fasziniere sei, wie viel die Kinder bei diesem einfachen Spiel lernen würden: "Mit Anstand und Würde zu verlieren; die Regeln einzuhalten - Spielregeln sowie Lebensregeln", zählt Werneck auf, "und sie lernen, dass man niemanden sinnlos niedermetzeln kann, denn ein Sieg um jeden Preis ist häufig ein Phyrrussieg, weil dann die anderen nicht mehr mit einem spielen wollen. Streitpotenzial liegt übrigens häufig in der Einfachheit des Spieles begründet. Eben weil die Mensch ärgere dich nicht-Regeln so simpel seien, würden sich in den Familien häufig Hausregeln manifestieren, die sich leicht von den Grundregeln unterschieden, erklärt der Münchner Spieleexperte. Sein Tipp für weitere 100 Jahre Spielespaß mit Mensch ärgere dich nicht (und allen anderen Spielen auch): "Die Regeln vorher genau festlegen! Und dann viel Vergnügen!"

Susanne Dreisbach