9/11
Ich war in der Mittelstufe, als mir ein Job als Gesellschafterin angeboten wurde. Ich kannte dieses Wort vorher nur aus alten Filmen, aber die Aufgabe schien einfach: einmal pro Woche sollte ich eine alte Dame im Altenheim besuchen, mich mit ihr unterhalten und sie bei gutem Wetter mit dem Rollstuhl spazieren fahren. Ihr Vormund – die Frau litt an einer fortgeschrittenen Demenz – engagierte mich, da sie kinderlos war und sonst kaum Besuch bekommen hätte.
Es kam mir anfangs seltsam vor „Ersatz-Gast“ zu sein. Auch deshalb, weil meiner Arbeitgeberin wohl nicht klar war, dass ich für die Zeit mit ihr bezahlt wurde. Aber mein Unbehagen schwand, als ich feststellte, dass sie es mit mir gar nicht so schlecht getroffen hatte, trotz meiner wenig selbstlosen Motive. Denn andere Bewohner des Hauses hatten zwar Verwandtschaft, was ihnen aber nichts nützte, weil sich die Sippschaft kaum blicken ließ. Ich war jeden Freitag da.
Dass die Dame mich aufgrund ihrer Demenz oft mit einer ihr bekannten Apothekerin verwechselte, störte mich gar nicht. Nur manchmal brachte mich ihre Krankheit in unangenehme Situationen. Einmal, es war schlechtes Wetter und wir saßen im Gemeinschaftsraum, fragte sie mich, wo ihr Mann sei. Die richtige Antwort wäre gewesen: auf dem Friedhof. Aber sein Tod war ihr entfallen und die Nachricht hätte sie getroffen wie am ersten Tag. Die Schwester bemerkte mein Zögern und sprang ein: „Der ist zum Bäcker gegangen, Brötchen holen. Er kommt in fünf Minuten wieder“, sagte sie und warf mir einen warnenden Blick zu. Die Dame akzeptierte diese Notlüge und nachdem die fünf Minuten um waren, hatte sie den Vorfall vergessen. So fiel ihr gar nicht auf, dass ihr Gatte vom „Brötchenholen“ nicht zurückkam. - Dagmar Oberndorfer