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In schwindelerregender Höhe sitzen die Bauarbeiter auf dem Stahlträger, die Kappe schräg auf dem Kopf, das Lunchpaket in der Hand. Das Motiv geht um die Welt, genauso wie Alfred E. Smith, der Präsident der Empire State Corporation, es beabsichtigt hatte. Das höchste Gebäude der Welt möchte er 1931 eröffnen, mehr als einen Büroturm: einen Mythos. Der Bau des Empire State Buildings stellt Höhepunkt und Ende der goldenen Zeit des Wolkenkratzerbaus in den nordamerikanischen Großstädten dar, die im ausgehenden 19. Jahrhundert eingesetzt hatte. Anfang der 30er Jahre ist das Land von der Wirtschaftskrise gebeutelt, die Zahl der Arbeitslosen steigt drastisch an, Büroräume stehen leer. Smith weiß, dass es unter diesen Umständen schwer sein wird, Mieter für die insgesamt 102 Etagen zu gewinnen. Bereits während der Bauarbeiten rührt er kräftig die Werbetrommel. Er engagiert einen Fotografen, der den Baufortschritt dokumentiert, bringt die Spitze des Gebäudes als Anlegestelle für Luftschiffe ins Gespräch und spricht von dem 443 Meter hohen Wolkenkratzer als "achtes Weltwunder". All seinen Bemühungen zum Trotz sind am Tage der Eröffnung nicht einmal ein Viertel der Büroräume vermietet. Um Aktivität vorzutäuschen, werden die leerstehenden Etagen nachts beleuchtet. Die New Yorker sprechen spöttisch vom "Empty State Building", sind jedoch von Beginn an von ihrem neuen Wahrzeichen fasziniert. In den ersten Jahren nach der Eröffnung bringen die Eintrittsgelder für die in 320 Meter Höhe gelegene Aussichtsplattform mehr ein, als die Mieteinnahmen. Besonders nach dem Kinostart von "King Kong und die weiße Frau" strömen die Menschen in die Hochgeschwindigkeitsaufzüge, um den Ort der Handlung aus der Nähe zu betrachten. Dennoch schreibt das Gebäude rote Zahlen. Um doch noch Interessenten anzulocken, sorgt Smith unablässig dafür, dass das Empire State Building in den Schlagzeilen bleibt. Doch bis zu den 50er Jahren stehen viele der Büroräume leer. Als es dann endlich aufwärts geht, ist der Wolkenkratzer längst zum Mythos geworden, Schauplatz zahlreicher Hollywood-Filme und aus der New Yorker Skyline nicht mehr wegzudenken.