Alljährlich reitet in den zwölf Nächten zwischen Heiligabend und Heilig-Drei-König eine ungestüme Schar über den Himmel: Die Wilde Jagd ist unterwegs. Unter Hundegebell führt der germanische Gott Wotan zusammen mit seiner Gefährtin Holda das Heer von Verstorbenen an.
So jedenfalls lautet der Volksglaube. Die Zeit zwischen den Jahren war den Menschen früher unheimlich und sie trafen vielerlei Vorkehrungen gegen Geister und Dämonen. Noch heute werden in ländlichen Gegenden Stall und Haus unter Segenssprüchen ausgeräuchert - daher der Name "Rauhnächte" oder "Rauchnächte". Außerdem galten die Tage zwischen 24. Dezember und 6. Januar als "Lostage", an denen ein Blick in die Zukunft möglich schien. Es hieß, jede der zwölf Nächte entspreche einem der zwölf Monate.
Zugleich war es eine stille, ruhige Zeit. Wie die Natur, die sich im Winter ganz in sich zurückgezogen hat, schöpften die Menschen neue Kraft. Die Frauen arbeiteten nicht; die Wäsche durfte nicht gewaschen werden, man zehrte von den weihnachtlichen Vorräten an Brot und Früchtekuchen. Sogar in Kriegen ruhten die Waffen.
Zum Schutz gegen die bösen Geister wurden Freunde nach Hause eingeladen. Man feierte nach Herzenslaune. Auch für ungebetene Gäste stand die Türe offen. Gastgeber und Besucher spielten, scherzten und schmausten zusammen.
Es war vielleicht die schönste Zeit im arbeitsreichen Bauernjahr. Eine Verschnaufpause, als die Menschen noch keine Ferien und Fernreisen kannten. Für uns moderne Menschen könnte es eine Anregung sein, einmal innezuhalten in der Betriebsamkeit. Auch wenn das Leben heute in einer schnelleren Gangart läuft. Oder vielleicht gerade deshalb.
Aus Märchen und Mythen spricht oft eine tiefe psychologische Weisheit. Vielleicht bedurften die Menschen schon früher einer strengen Hand - oder einer Ausrede - um im Haus zu bleiben und ihre Arbeit niederzulegen. So entstand die Mär von der wilden Jagd, die jeden, der sich ihrem Lauf entgegenstellt, zu vernichten droht.
Für alle, die denken, sie könnten sich keine Auszeit gönnen, weil ohne sie alles zusammenbricht: Sie sollten wissen, dass die wilde Frau Holda eine uralte mythische Gestalt ist, die Verkörperung der Natur und des Lebens. Im Märchen heißt sie Frau Holle. In dieser Gestalt beschenkt sie die fleißige Goldmarie mit Reichtum und Fülle. Die faule Pechmarie dagegen wird bestraft.
Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet die Beschützerin der Fleißigen in der Zeit zwischen den Jahren als fürchterliche Himmelsreiterin auftritt. Wie eine strenge Mutter verdonnert sie uns sozusagen von oben zu einer Ruhepause. Im übertragenen Sinn lehrt uns die doppelgesichtige Holda: Der Mensch braucht Aktivität ebenso wie Ruhe. Nur wer die natürlichen Lebensrhythmen einhält, vermag auf Dauer etwas zu leisten.