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Autoren und ihre Muttersprache (Podcast 199)

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„Etwa so, wie wenn man bei einem Explosionsunglück sieben oder acht Finger verloren hat und jetzt alle täglichen Handgriffe neu erlernen muss.“  So fühle sich der erzwungene Wechsel von der Muttersprache ins Englische an, erklärte Vladimir Nabokov. Diese Mühsal, mit nur drei Fingern zu tippen, können viele Autoren nachempfinden, die das sichere Terrain der Muttersprache verlassen und sich in einer neuen Sprache  - wie ungeliebte Stiefkinder - zurechtfinden mussten. Häufig haben sie vor der Muttersprache bereits das Vaterland verloren: so etwa Adelbert von Chamisso, Vladimir Nabokov oder Klaus Mann. Andere hingegen kehrten der Muttersprache freiwillig den Rücken, um in neuen Zungen zu reden - und zu schreiben. Allen voran: Sprachverweigerer Samuel Beckett.


Muttersprache: die Sprache des Herzens

Im Lexikon wird Muttersprache als die Sprache definiert, die der Mensch ohne Vermittlung durch eine andere Sprache lernt und gewöhnlich am besten beherrscht. Ganz automatisch, ohne nachdenken zu müssen, nutzen wir die Muttersprache, um Dinge zu benennen, um miteinander zu kommunizieren. Grammatikregeln, Aussprache, Syntax –  all dies macht uns das Leben erst beim Fremdsprachenerwerb schwer.
Tatsächlich ist die Muttersprache aber mehr als ein in der Kindheit verinnerlichtes System von Zeichen, die sich im de Saussure’schen Sinne zu unendlich vielen Aussagen kombinieren lassen. Für die Exil-Kubanerin Mercedes Cortázar etwa ist sie die Sprache des Herzens.

„Die Muttersprache, auch wenn wir sie nicht ausgewählt haben, wird von frühester Kindheit an ein Teil von uns, so wie die Familie oder die Nationalität.“

In ihr sei alles verwurzelt, was Heimat bedeute:  das Ich, die Kindheit. Im Exil jedoch müsse die neue Sprache „mit der Pistole an der Schläfe“ gelernt werden, der Immigrant dürfe dabei nicht mehr auf das Wohlwollen hoffen, das ihm noch als Kind entgegengebracht wurde. Englisch  zu lernen, war für die in den Staaten lebende Schriftstellerin Cortázar lebensnotwendig. Ein Festhalten an der spanischen Literatur hätte ihr künstlerisches Verstummen bedeutet: US-Verlage publizieren fast ausschließlich englische Literatur.


Vladimir Nabokov: Nach dem Verlust der Muttersprache wie amputiert

Die Erfahrung vom drohenden Verlust der Stimme, und damit einhergehend der Lebensgrundlage, haben vor der Kubanerin bereits viele andere Exilliteraten gemacht. Besonders darunter gelitten hat Vladimir Nabokov. Neun Romane, 55 Erzählungen, ungezählte Gedichte waren ihm bereits auf Russisch aus der Feder geflossen, als er schließlich einsehen musste, dass seine Muttersprache ihn nicht länger ernähren würde. Im Zuge der Oktoberrevolution als 18-Jähriger von den Bolschewisten vertrieben, hatte Nabokov sich im deutschen Exil der neuen Sprache verweigert, aus Angst, ihr Gebrauch würde den „kostbaren russischen Lack“ ankratzen. Doch so teuer dem Schriftsteller die Muttersprache auch war, im Laufe der Jahre, die ihn immer weiter von der russischen Leserschaft entfernten, wurde sie immer wertloser. Nabokov überwand sich, seinen ersten Roman auf Englisch zu verfassen. Damals lebte er in Paris, wohin er und seine Familie 1937 vor den Nazis geflohen waren. So widrig die Umstände – er schrieb im Bad auf einem Koffer – so qualvoll erschien Nabokov auch das Formulieren auf Englisch, eben … wie das mühsame Erlernen aller täglichen Handgriffe mit nur noch zwei, drei Fingern nach einem Explosionsunglück.

Erschien auch der Rest seines umfangreichen Œuvres auf Englisch und verhalf ihm der 1953 in Amerika vollendete Roman „Lolita“ zu Reichtum und Weltruhm – nie sollte sich der Autor von seiner sprachlichen Amputation ganz erholen. Wie wichtig ihm das Erscheinen der „Lolita“ in der Muttersprache war, zeigt, dass er den Roman selbst ins Russische übersetzte  - zu einer Zeit, als eine Veröffentlichung in der Heimat ganz aussichtslos war.
 

Klaus Mann: kein Vaterland, keine Muttersprache, keine Identität?

„Damals -in der Jugend - hatte ich eine Sprache, in der ich mich flink auszudrücken vermochte; jetzt stocke ich in zwei Zungen. Im Englischen werde ich wohl nie ganz so zuhause sein, wie ich es im Deutschen war – aber wohl nicht mehr bin.“

Diese bittere Erkenntnis zog Klaus Mann 1949 kurz vor seinem Selbstmord. Die Nationalsozialisten hatten den Verfasser des „Mephisto“ 1933 nicht nur aus dem Vaterland getrieben,  sondern verleideten ihm auch zusehend die Muttersprache. Zwar suchte Mann erbittert, die Sprache seiner Väter vor dem Übergriff der Nazis zu schützen – „Es ist meine Sprache, kein Hitler kann sie mir nehmen“ –,zwar kämpfte er darum, seine Muttersprache, die die der europäischen Deutschen sei, von dem Gebell Hitlers abzugrenzen. Denn Klaus Mann war überzeugt, dass das saubere, noch nicht korrumpierte Wort von Exilliteraten wie ihm gerettet werden müsse. Doch nach Jahren im US-Exil, immer mehr darauf angewiesen, auf dem neuen Buchmarkt zu bestehen, wechselte er schließlich ins Englische. Anfangs durchaus mit Begeisterung:

„Das Vergnügen, Englisch zu schreiben. Experimentieren mit dem fremden Idiom, da man das eigene bis in alle Nuancen beherrscht."

Schnell wuchsen jedoch Zweifel, die neue Arbeitssprache gut genug zu beherrschen. Und letztendlich stürzte  der Verlust der Muttersprache als Arbeitssprache den Entwurzelten in eine Identitätskrise: "Soll ich das Einzige verlieren, was ich je besessen habe –: meine Sprache?"
 

Samuel Beckett: Befreiung von der Muttersprache

Ähnlich wie Nabokov und Mann befand sich Samuel Beckett seit Jahren in der Fremde, als er die Muttersprache aufgab. Auch für den Iren war es immer schwieriger geworden, in der Heimat verlegt zu werden. Dennoch gab es Unterschiede: So lebte der Meister des absurden Theaters  freiwillig in Frankreich, als er begann, das Französische als Arbeitssprache zu entdecken. Becketts Hinwendung zum Französischen war ein langsamer, von künstlerischer Neugier getriebener Prozess, in dem die Muttersprache nicht selten mit der neuen Arbeitssprache koexistierte. 1948 erschien Becketts erstes Drama: „En attendant Godot“ – dies Parabelstück des absurden Theaters hat Beckett unsterblich gemacht. Dass er es zunächst auf Französisch verfasste und später selbst ins Englische übersetzte, mag viele Gründe gehabt haben. So konnte sich der Ire aus der angelsächsischen Tradition befreien, besonders aber aus dem Schatten James Joyce‘.  Und nur so näherte sich Beckett seinem Ziel, ohne Reminiszenzen, mit ärmerem Vokabular und weniger Möglichkeiten des Ausdrucks zu schreiben. Diese durch die Fremdsprache ausgelöste Verarmung brachte Beckett näher an sein Ziel, die Nutzlosigkeit der Sprache durch ihre Benutzung zu beweisen.  Fest steht: Die Dialoge aus „Warten auf Godot“ entbehren jeglichen Sinns. Kommunikation funktioniert über diese Sprache nicht mehr.
 

Muttersprache adé: Wenn Schriftsteller zu Adoptivkindern neuer Sprachen werden

Immer wieder wenden sich Autoren bewusst von der Muttersprache ab,  um in größerer künstlerischer Freiheit zu schreiben. So erklärt etwa der Exil-Afghane Atiq Rahimi beim Erscheinen seines ersten französischen Romans „Stein der Geduld“:

„Mit der Muttersprache erlernt man auch Verbote und Tabus. In der adoptierten Sprache gibt es diese Selbstzensur nicht, diese unbewusste Schamhaftigkeit, die uns seit der Kindheit verankert ist.“

Auch in Deutschland leben ausländische Autoren, die dem Wechsel zwischen Muttersprache und neuem Idiom viel abgewinnen können. Die Japanerin Yoko Tawada, Autorin des Werkes „Überseezungen“,  begreift das Deutsche gar als neue „Sprachmutter“:

 „Wenn man eine neue Sprachmutter hat, kann man eine zweite Kindheit erleben. […] In der Muttersprache sind die Worte den Menschen angeheftet, so dass man selten spielerische Freude an der Sprache empfinden kann. Dort klammern sich die Gedanken so fest an die Worte, dass weder die ersteren noch die letzteren frei fliegen können. In einer Fremdsprache  wird alles entfernt, was sich aneinanderheftet und sich festklammert.“

In Biografien, die sich zwischen zwei Welten entwickeln, wie das häufig bei türkischen Einwanderern der Fall ist, kann der Adoptionsprozess durch die neue Sprache sogar Identität stiften. Die 1946 in der Türkei geborene Chamisso-Preisträgerin Emine Sevgi Özdamar sagt:

 „Ich bin in der deutschen Sprache glücklich geworden. Deshalb schreibe ich vielleicht deutsch.“

Dabei hat sich die Autorin von „Mutterzunge“ nicht einfach von der Sprache ihres Heimatlandes adoptieren lassen, sondern hat diese gleichzeitig um das eigene Erbe bereichert: Orientalische Einflüsse, türkische Denk- und Sprachmuster, die Rückkehr des Bildlichen, gar der Fantasie in die Sprache werden der Deutsch-Türkin attestiert. Durch die Kombination aus Mutter- und Fremdsprache hat Özdamar ein eigenes Idiom geschaffen. Ihr Beispiel zeigt, dass sich viele Exilliteraten keinesfalls wie ungeliebte Stiefkinder fühlen, sondern die neue Sprache selbstbewusst zur Identitätsfindung nutzen.

von Susanne Böllert, wissen.de-Redaktion
 

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