Tschechoslowakei bis 1992
Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus in Europa zu Beginn der 1990er Jahre verschwanden drei multinationale Staatsgebilde von der Landkarte: die Sowjetunion, Jugoslawien und die Tschechoslowakei. Am wenigsten hätte man dieses abrupte Ende für die Tschechoslowakei erwartet, denn sie galt als festgefügter Staat, und die Differenzen zwischen den beiden Staatsvölkern erschienen gering. Ein Blick auf die Geschichte zeigt ein etwas anderes Bild.
In das Gebiet der späteren Tschechoslowakei wanderten im 6. Jahrhundert slawische Stämme ein, aus denen im Lauf der Zeit die beiden Völker der Tschechen und der Slowaken hervorgingen. Im 9. Jahrhundert waren sie im Großmährischen Reich vereint, dann gingen ihre Wege auseinander. Die Länder Böhmen und Mähren, wo die Tschechen siedelten, fanden Anschluss an die politische und kulturelle Entwicklung Mitteleuropas. Herzog Wenzel I., der Heilige, Böhmens Landespatron erkannte 929 den deutschen König als Lehnsherrn an. Die Herzöge von Böhmen erhielten 1198 die erbliche Königswürde und wurden mächtige Reichsfürsten. Sie riefen viele deutsche Siedler ins Land. Unter Kaiser Karl IV., der 1346-1378 regierte, war Prag die Hauptstadt des Heiligen Römischen Reichs; hier wurde 1348 die erste deutsche Universität gegründet. In den Hussitenkriegen des 15. Jahrhunderts mischten sich religiöse und soziale, aber auch nationaltschechische Bestrebungen.
1526 fiel das Königreich Böhmen im Erbgang an das Haus Habsburg. Die Revolte des böhmischen protestantischen Adels gegen Habsburg, die 1618 den Dreißigjährigen Krieg auslöste, wurde niedergeschlagen. Die seit dem Mittelalter lebendige tschechische Nationalkultur wurde für ein Jahrhundert zurückgedrängt. Im 18. Jahrhundert setzte mit zunehmender Abgrenzung vom deutschen Kulturleben ein neuer Aufschwung ein. Ein neues tschechisches Nationalbewusstsein erwachte und fand im 19. Jahrhundert politischen Ausdruck in der Forderung nach Autonomie im Rahmen der österreichisch-ungarischen Monarchie.
Sehr viel einförmiger verlief die slowakische Geschichte. Die Slowakei wurde im 11. Jahrhundert ein Bestandteil des Köngreiches Ungarn und blieb es bis 1918, ohne jemals irgendwelche Sonderrechte zu genießen. Eine Schicht ungarischer Großgrundbesitzer beherrschte das weithin bäuerliche Land. Erst seit Anfang des 19. Jahrhunderts gab es eine slowakische Schriftsprache. Bescheidene Ansätze einer Nationalbewegung wurden von den ungarischen Behörden unterdrückt.
Der Erste Weltkrieg offenbarte die Brüchigkeit der Donaumonarchie. Tomáš Masaryk (1850-1937) und Edvard Beneš (1884-1948), die an die Spitze der tschechischen Nationalbewegung getreten waren, verwarfen die Autonomieforderung und strebten die volle Unabhängigkeit an. Mit Vertretern der slowakischen Bewegung einigten sie sich auf einen gemeinsamen tschechisch-slowakischen Staat. Sie gewannen die Unterstützung der Westalliierten für ihre Ziele, so dass noch vor dem Kriegsende am 28.10.1918 die Unabhängigkeit ausgerufen und wenig später die Tschechoslowakische Republik (CSR) mit Masaryk als erstem Präsidenten proklamiert werden konnte. Die Slowakei und die Karpato-Ukraine mussten den Ungarn mit militärischer Gewalt und alliierter Hilfe entrissen werden; sie waren erst im Juli 1919 endgültig in der Hand des neuen Staates.
Von den 14,7 Millionen Einwohnern der CSR im Jahr 1930 waren 7,2 Millionen Tschechen, 2,5 Millionen Slowaken, 3,2 Millionen Deutsche (sogenannte "Sudetendeutsche"), 700000 Ungarn, 550000 Ukrainer und 80000 Polen. Die Minderheiten erhielten entgegen früheren Zusagen keine Autonomie, und auch die Slowaken fühlten sich benachteiligt. Ein "tschechoslowakisches" Staatsvolk gab es nur in der offiziellen Ideologie; in Wirklichkeit bestand die Vorherrschaft der zahlenmäßig, kulturell und wirtschaftlich überlegenen Tschechen.
Die Unzufriedenheit der Sudetendeutschen machte sich Hitler zunutze. Er schürte den Konflikt mit Prag und erzwang im Oktober 1938 die Abtretung des Sudetenlandes. Ein halbes Jahr später erreichte er sein eigentliches Ziel, die Zerschlagung der Tschechoslowakei. Böhmen und Mähren wurden als "Protektorat" dem Reich eingegliedert, während die Slowakei nominell unabhängig, tatsächlich aber ein Vasallenstaat Deutschlands wurde. Größere Gebietsteile musste sie an Ungarn abtreten. Gegen die deutsche Besatzungsherrschaft erhob sich Widerstand; er wurde mit erbarmungslosem Terror beantwortet. Im Zweiten Weltkrieg bildete Beneš in London eine Exilregierung, die von den Mächten der Anti-Hitler-Koalition anerkannt wurde. Nach Kriegsende wurde die Tschechoslowakei in ihren alten Grenzen wiederhergestellt, mit Ausnahme der Karpato-Ukraine, die die Sowjetunion annektierte. Fast 3 Millionen Sudetendeutsche wurden aus ihrer Heimat vertrieben, wobei mindestens 200000 elend zugrunde gingen.
Im erneuerten tschechoslowakischen Staat besaßen die Kommunisten unter Führung von Klement Gottwald (1896-1953) von Anfang an eine starke Stellung. Im Februar 1948 beseitigten sie durch einen Staatsstreich mit sowjetischer Rückendeckung das bürgerlich-demokratische System. Es folgten Jahre des stalinistischen Terrors, der sich nicht nur gegen "Klassenfeinde", sondern mit antisemitischem Akzent auch gegen höchste Parteimachthaber richtete. Der "Prager Frühling" von 1968 war ein kurzes Zwischenspiel der Freiheit. Danach vergingen noch einmal über zwei Jahrzehnte, ehe die Tschechoslowakei wieder eine Demokratie war. Und dann kam bald ihr Ende.
Die Auflösung des Staates
Unter der kommunistischen Diktatur war der Prager Zentralismus noch ausgeprägter als in der bürgerlichen Republik. Die Autonomierechte, die der Slowakei eingeräumt wurden, standen nur auf dem Papier. In den Schauprozessen der 50er Jahre gegen hohe Parteifunktionäre lauteten die Anklagepunkte nicht nur "Trotzkismus", "Titoismus" und "Zionismus", sondern auch "slowakischer Separatismus".
Der "Prager Frühling"
Im Gefolge der "Entstalinisierung" in der Sowjetunion musste das Prager Regime seine despotischen Züge mildern. In der Parteiführung bildete sich ein Reformflügel heraus, dem es Anfang 1968 gelang, den Staats- und Parteichef Antonín Novotný (1904-1975) zu stürzen. Die neue Führung mit dem Slowaken Alexander Dubcek (1921-1992) an der Spitze erstrebte einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz". Ihr Programm einer durchgreifenden Demokratisierung wurde von der Mehrheit der Bevölkerung begeistert unterstützt. Obwohl Prag die Zugehörigkeit zum "sozialistischen Lager" nie in Frage stellte, sah Moskau in dieser Politik eine Gefahr für die kommunistische Herrschaft im ganzen Ostblock. Am 21.8.1968 marschierten Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei ein und machten dem "Prager Frühling" ein Ende. Die Vertreter des Reformkurses wurden entmachtet. Unter dem Schlagwort "Normalisierung" fand eine großangelegte Strafaktion statt, die mit Berufsverboten und Freiheitsstrafen besonders die Intellektuellen traf. Alle Reformen wurden rückgängig gemacht, mit einer Ausnahme: Eine Verfassungsänderung, die die Tschechoslowakei zu einem Bundesstaat aus zwei gleichberechtigten Republiken erklärte, blieb in Kraft. Diese "Föderalisierung" war praktisch bedeutungslos, da die ungeteilte Macht weiter beim Präsidium der Kommunistischen Partei lag.
Die samtene Revolution
Völlig ließen sich die oppositionellen Kräfte nicht unterdrücken. 1977 formierte sich eine Bewegung für Menschen und Bürgerrechte, die "Charta 77". Sie war scharfen Verfolgungen ausgesetzt. Als Gorbatschow in der Sowjetunion seine "Perestrojka" einleitete, bekannte sich auch die Prager Parteiführung verbal zur Reformpolitik, ließ aber an ihrem Machtmonopol nicht rütteln. Bezeichnend war, dass der berühmte Schriftsteller Václav Havel (*1936), ein führender Bürgerrechtler, noch im Februar 1989 wegen "Rowdytums" zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Wenig später setzte jenes politische Erdbeben ein, das den Kommunismus im ganzen Ostblock zum Einsturz brachte. Nach Massendemonstrationen auf dem Prager Wenzelsplatz trat am 24.11.1989 die kommunistische Parteiführung zurück; am 28.12. wurde Dubcek, der zwanzig Jahre lang in "innerer Verbannung" gelebt hatte, zum Parlamentspräsidenten gewählt, und einen Tag später vereidigte er den neuen Staatspräsidenten Václav Havel.
Die Trennung
In den ersten freien Parlamentswahlen im Juni 1990 siegten die Bürgerbewegungen, die den revolutionären Wandel erzwungen hatten. Sie fächerten sich bald in politische Parteien mit unterschiedlichen Programmen auf. Sehr früh brachen auch die lange unterdrückten nationalen Gegensätze auf. Nur mühsam einigte man sich auf den neuen Staatsnamen "Tschechische und Slowakische Föderative Republik". Im Laufe des Jahres 1991 verschärfte sich der Konflikt; vor allem in der Slowakei mehrten sich die Stimmen für volle Unabhängigkeit. Nach den Wahlen im Juni 1992 wurde nur noch eine Übergangsregierung gebildet. Havel setzte sich für den Erhalt des Bundesstaates ein, konnte aber nicht einmal die Abhaltung einer Volksabstimmung erreichen und trat zurück. Meinungsumfragen zeigten, dass die Bevölkerung eher für den Fortbestand der Föderation war. Inzwischen hatten sich die Fronten verkehrt: Während die slowakische Seite, vor allem aus wirtschaftlichen Gründen, vor der klaren Trennung zurückschreckte und eine zwitterhafte "Union" vorschlug, bestand die tschechische Seite auf klarer Scheidung. Am 25.11.1992 stimmte das Bundesparlament dem Teilungsgesetz zu. Es wurde vereinbart, dass die beiden Staaten eine Zollunion mit freiem Personenverkehr bilden. Am 31.12.1992 hörte die Tschechoslowakei auf zu bestehen.