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Wie politisch ist der Eurovision Song Contest?
Laut den Regeln des Wettbewerbs ist der Eurovision Song Contest (ESC) ein „unpolitisches Event“. Im Vorfeld der jährlichen Austragung kommt es jedoch immer wieder zu politischen Diskussionen über Teilnehmer und teilnehmende Staaten und Diskussionen darüber, ob der ESC nun politisch ist oder nicht.
Völkerverständigung in der Nachkriegszeit
Wer eine Antwort auf diese Frage sucht, sollte zu den Anfängen des ESCs im Jahr 1955 reisen. Der damalige Vorsitzende der Programmkommission der European Broadcasting Union (EBU), Marcel Bezençon, schlug vor, einen europäischen Musikwettbewerb nach dem Vorbild des italienischen Sanremo-Festivals zu veranstalten. Das sollte in der Nachkriegszeit die Annäherung und Verständigung der Europäer vorantreiben.
Ein Jahr später standen sich dann mit den Niederlanden, Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Luxemburg und Italien sechs europäische Länder auf der Bühne gegenüber, die elf Jahre zuvor noch gegnerische Kriegsparteien waren. In den Folgejahren wurde der Wettbewerb zunehmend populär und es nahmen immer mehr Länder teil.
Spannungen zwischen Staaten
Doch trotz der friedlichen Anfänge und unpolitischen Absichten kam es über die Jahre beim ESC immer wieder zu „politischen Vorfällen“. 1968 beispielsweise wollte der eigentlich für Spanien antretende Kandidat Joan Manuel Serrat auf Katalanisch singen. Spaniens Franco-Regime gefiel das nicht und schickte stattdessen die Sängerin Massiel mit einer spanisch-englischen Version des Titels ins Rennen. Mit Erfolg: Massiel gewann.
Für Spannungen sorgte auch die Teilung Zyperns im Jahr 1974. Im darauffolgenden Jahr boykottierte Griechenland den ESC, weil die Türkei Zypern besetzte. 1976 nahm dann die Türkei nicht teil, übertrug den Wettbewerb jedoch. Während des griechischen Beitrags spielte der türkische Sender dann stattdessen ein nationalistisches türkisches Lied. Ähnliches trug sich zwei Jahre später in Jordanien zu: Angeblich aufgrund technischer Schwierigkeiten brach das Nachbarland Israels die ESC-Übertragung ab, als klar wurde, dass Israel gewinnen würde. Jordanien verkündete stattdessen das zweitplatzierte Belgien als Sieger.
Inmitten des Kalten Krieges zwischen den Westmächten und dem Ostblock gewann Deutschland 1982 den ESC zum ersten Mal – mit einem politisch umstrittenen Beitrag. Die damals erst 17-jährige Sängerin Nicole sang in ihrem Siegersong „Ein bißchen Frieden“ davon, sich Frieden, Freude und Wärme „für diese Erde, auf der wir wohnen“ zu wünschen. Kritiker bemängelten nicht nur Nicoles Gesangskünste, sondern auch, dass sie nur ein „bisschen“ Frieden und keinen „totalen Frieden“ forderte.
Der ESC greift ein – oder auch nicht
Nach der Jahrtausendwende griffen auch die Veranstalter des ESC mehrmals politisch in den Musikwettbewerb ein. So durfte Georgien beispielweise nicht teilnehmen, als der ESC 2009 in Moskau stattfand: In dem Titel ihres Songs „We Don’t Wanna Put In“ verbarg sich ein antirussisches Wortspiel – und politische Gesten sind laut den ESC-Regeln untersagt.
Das Lied „1944“, mit dem die Ukrainerin Jamala den ESC 2016 gewann, erlaubte die EBU hingegen – obwohl Russland den Song beanstandete. Das Lied handelt von der Deportation Jamalas krimtatarischer Urgroßeltern durch das Stalin-Regime. „Die EBU konterte damals, die Sängerin habe glaubhaft gemacht, dass es hier nicht um Politik, sondern um Familiengeschichte ging“, erklärt die Deutsche Welle (DW).
Belarus ist vom ESC aus politischen Gründen sogar seit 2021 ausgeschlossen. Zum einen, weil sowohl der damals zuerst eingereichte als auch der zweite Song gegen die Regeln verstießen, und zum anderen, weil die Rundfunkanstalt des Landes bis heute die Medienfreiheit unterdrückt. Seit 2022 ebenfalls vom Gesangswettbewerb ausgeschlossen ist Russland, wegen des Angriffskriegs gegen die Ukraine. Wegen des Nahost-Konflikts musste Israel 2024 sein Lied mehrmals abändern, um es zu entpolitisieren. Die EBU fand, der zuerst „October Rain“ genannte Song spreche sich im Nachgang des Hamas-Überfalls im Oktober 2023 zu sehr für Israel aus. Viele Teilnehmer forderten daraufhin sogar einen Ausschluss Israels aus dem ESC.
Faire Punktevergabe?
Neben den Teilnehmern ist auch die Punktevergabe oft politisch umstritten. Jedes Land vergibt insgesamt 116 Punkte. 58 kommen durch das Televoting der Zuschauer zustande und weitere 58 vergibt die Jury des jeweiligen Landes. Diese Jurys agieren jedoch nicht immer unpolitisch. „So ging es sicher nicht um die Musik, als die nationale Jury Russlands 2014 mit null Punkten auf den Auftritt der Drag Queen Conchita Wurst reagierte“, erklärt die DW. „Aber das russische Publikum wählte sie auf den dritten Platz.“ Conchita Wurst gewann den Wettbewerb.
Umgekehrt funktioniert die politische Punktevergabe aber offenbar eher nicht: „Die Gräuel der Jugoslawienkriege bescherten Bosnien-Herzegowina Anfang der 1990er Jahre trotz medialem Interesse keinen nennenswerten Contest-Erfolg. Und als Polen bei einem Flugzeugabsturz kurz vor dem Wettbewerb 2010 seinen Staatspräsidenten und mehrere Regierungsmitglieder verlor, schaffte das Land nicht einmal eine Finalqualifikation“, erklärt Sprach- und Kulturwissenschaftler Irving Wolther auf der deutschen Eurovision-Website des NDR. „Mitleidspunkte sind beim ESC offenbar eher rar gesät.“
Politisch oder nicht?
Laut Regelwerk ist der ESC unpolitisch und greift auch ein, wenn Teilnehmer beispielsweise in ihren Liedern politisch Stellung nehmen. Was Jurys, Zuschauer und Staaten aus dem Wettbewerb machen, kann der ESC jedoch nicht beeinflussen. Dennoch spiegelt sich in ihm in gewissem Maße die politische Situation Europas der vergangenen Jahrzehnte wider – egal, ob er es will oder nicht.