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Sind Sie noch ein Individuum? Oder gehören Sie zur grauen Masse? (Podcast 124)

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Jeder Mensch ist ein Individuum. Spätestens seit der Aufklärung gibt es daran keinen Zweifel mehr. Doch was bedeutet das eigentlich: Individuum? Der Begriff stammt aus dem Lateinischen und bezeichnet das Un-Teilbare. Demnach ist das Individuum die kleinste Einheit, das Atom einer Gesellschaft, unverwechselbares und unaustauschbares Einzelelement. So ist individuell  und authentisch zu sein (wen wundert‘s), eines der höchsten Ziele, nach denen die westliche Zivilisation strebt. So wie jedes Produkt unbedingt einen USP – also einen Unique selling point – braucht, will sich auch das menschliche Individuum durch ein solches Alleinstellungsmerkmal aus der Masse hervorheben. Doch das ist gar nicht so einfach. Schließlich verschwindet das Individuum fortwährend in der Masse, wird Teil wechselnder Kollektive, geht in den unterschiedlichsten Rollen auf – und merkt es nicht einmal. Das glauben Sie nicht? Dann hören Sie einfach weiter zu.

 

Der Zuhörer

 

Und schon sind Sie in Ihre erste Rolle geschlüpft – und die ist zugegebenermaßen nicht mehr als eine Statistenrolle. Wir haben Sie zum Zuhörer gemacht. Wann immer Sie einen Podcast herunterladen, das Radio anstellen oder einem Hörspiel lauschen, sind Sie Teil einer Hörerschaft geworden. Sie in einem in der Regel stummen und häufig unsichtbaren Publikum als Individuum auszumachen, dürfte weder einfach noch gewollt sein. Denn was in dieser Situation am meisten an Ihnen interessiert, ist lediglich Ihr Ohr. Das verleihen Sie übrigens ohne Bedenken und mit wachsender Freude. So hat die „Media Analyse 2011 Radio“ ergeben, dass die Schar der Radiozuhörer binnen sechs Monaten täglich um 312.000 zusätzliche Hörer angewachsen ist. Die Radio-Tagesreichweite in Deutschland betrug damit beinah 80 Prozent. 251 Minuten am Tag lassen sich die Zuhörer vom Radio beschallen, berieseln, unterhalten und informieren.

 

Der Konsument

 

Besonders wichtig sind solche Reichweitenerhebungen für Werbetreibende, denn diese Spezies hat Sie, liebes Individuum, unter einem ganz bestimmten Vorzeichen im Blick: Hier interessieren Sie in Ihrer Eigenschaft als Konsument. Auch „Konsument“ ist lateinischen Ursprungs. Es leitet sich ab von „consumere“: „verbrauchen“ oder „erschöpfen“ und bezeichnet nichts weniger als den Dreh – und Angelpunkt eines jeden Wirtschaftssystems. Nicht umsonst ist heute weniger von der Produktions-, sondern vielmehr von der Konsumgesellschaft die Rede. Die Bedeutung des Konsumenten lässt sich auch daran ablesen, dass er als schützenswert gilt. Seit John F. Kennedy 1962 erstmals die Rechte des Verbrauchers deklarierte, hat der Verbraucherschutz eine wichtige Wächterfunktion in den westlichen Konsumgesellschaften übernommen.  Das deutsche Bundesgesetzbuch betont dabei ausdrücklich den privaten Aspekt, der den Verbraucher kennzeichne:


„Verbraucher ist jede natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu einem Zwecke abschließt, der weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann.“
Privatheit hin oder her, genau genommen verfügt das Individuum unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten über keinen nennenswerten Einfluss.  Anders herum geht von dem Konsumenten eine beachtliche Machtfülle aus. Bewiesen hat das der Verbraucher in Deutschland Anfang 2011 in seiner Eigenart als Autofahrer und Kraftstoff-Konsument. Die kollektive Verweigerungshaltung gegenüber dem Biosprit E10 führte dazu, dass sich die Bundesregierung zu einem Benzingipfel treffen und an der Einführung des unbeliebten Kraftstoffes nachbessern musste. Wer das Individuum war, das als erstes die E10-Tanksäule boykottierte und den Konsumentenstreik initiierte, konnte natürlich nicht festgestellt werden. Bisweilen kann die Anonymität der Masse dem Einzelnen also durchaus zum Vorteil gereichen.

 

Der Einwohner

 

Reicht es schon, etwas zu verzehren, zu benutzen oder es auch nur zu erwerben, um den Stempel „Konsument“ aufgedrückt zu bekommen, so ist noch weniger nötig, um vom einzigartigen Individuum zum „Einwohner“ zu werden. Sie müssen einfach nur da sein. Laut Statistischem Bundesamt erfüllen diese Voraussetzung in Deutschland 82 Millionen Menschen. Mit 230 Personen pro Quadratkilometer zählt die Bundesrepublik zu den am dichtesten besiedelten Ländern Europas. Noch. Der demographische Wandel, der schon im vollen Gange ist, wird schon in naher Zukunft zu einem erheblichen Bevölkerungsrückgang führen.  Ob eine geschrumpfte Einwohnerzahl  im Gegenzug die Bedeutung des Individuums heben wird, ist eher unwahrscheinlich.

 

Der Arbeitnehmer

 

Gewiss ist hingegen, dass das Individuum eine erhöhte Wertschätzung genießt, solange es sich im Aggregatzustand des Arbeitnehmers befindet.  Wie heiß begehrt dieser Typus ist, lässt sich nicht zuletzt an dem Vorhaben der Politik ablesen, das Renteneintrittsalter bis zum Jahr 2029 auf 67 zu erhöhen. Dass 18 Jahre zuvor nur rund ein Viertel der Bevölkerung überhaupt sozialversicherungspflichtig beschäftigt war, hat  zwar den Arbeitnehmer empört, jedoch im Kollektiv der Politiker nicht zu einem Umdenken geführt.

 

Der Wähler

 

Dabei ist das Individuum in keiner anderen Rolle als in der des Wählers ähnlich gefürchtet. Der Wähler sitzt jeder Partei, jedem Kanzlerkandidat und jedem Präsidentschaftsanwärter im Nacken. Besonders wenn nicht von den „Wählerinnen und Wählern“ die Rede ist, sondern er im Singular als „der Wähler“ auftaucht, erweckt er den Eindruck, ein sehr mächtiges, von einem unteilbaren Willen beseeltes Wesen zu sein. Sollte also dieser Wähler eine politische Entscheidung missbilligen, wird er seinen Unmut ganz sicher bei der nächsten Wahl zum Ausdruck bringen. Und zwar nicht nur dadurch, dass er seine Stimme einer bestimmten Partei oder Person verweigert, sondern indem er sich dem Wählen an und für sich verweigert. Laut Bundeszentrale für Politische Bildung hatte die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2009 nur noch knapp die 70-Prozent-Marke geknackt. Der Bürger – dieser Titel dürfte jedem aufgeklärten Individuum schmeicheln – manifestiert seine Überzeugung heute gerne auf direkterem Wege, als es eine repräsentative Demokratie wie die Bundesrepublik Deutschland für das Wahlvolk eigentlich vorsieht. Ob sich die Straßen mit aufgebrachten Menschen füllen, die vehement gegen den Bau eines Bahnhofes protestieren, oder ob Facebook-Fans in virtuellen Gruppen für die Rückkehr eines gescheiterten Ministers werben, das Individuum hat erkannt, dass es dann am meisten ausrichten kann, wenn es sich mit anderen zusammenschließt.

 

Der Steuerzahler

 

Das Gefühl von der Macht der Masse dürfte sich bei jedem Einzelnen jedoch verflüchtigen, wenn er einen Blick auf seinen Lohnzettel wirft. Als Steuerzahler fürchtet wohl jeder Wähler, Arbeitnehmer, Einwohner oder Konsument, man ziehe ihn über den Tisch. Aber betrachten wir den Umstand, Abgaben an die Allgemeinheit leisten zu müssen, doch einfach einmal als notwendiges Übel, um als Individuum Teil eines Ganzen sein zu können, was ja durchaus lohnenswert sein kann. In der modernen Logik definiert sich das Individuum ja gerade dadurch, dass es in Beziehung  zu anderen stehen kann. Und wenn uns jetzt noch gelingt, was der Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Erich Fromm als Losung für ein glückliches und erfülltes Leben ausgab, nämlich „authentisch zu  leben, aus uns selbst heraus zu leben und Entscheidungen zu treffen und nicht bloß die Erwartungen von außen zu erfüllen“, dann sollte doch auch die Geschichte mit dem Unique Selling Point, dem ganz besonderen Merkmal, klappen.

Susanne Böllert, wissen.de-Redaktion
 

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