Lexikon

russische Literatur

Mit dem Christentum byzantinischer Prägung (Christianisierung um 988) erhielt Russland im 11. Jahrhundert ein beachtliches Schrifttum in bulgarisch-kirchenslawischer Sprache (Ostromir-Evangelium 1056). Daneben entwickelte sich, von Klöstern und Fürsten gefördert, eine russische Literatur, die außer Heiligenlegenden, Belehrungen (W. Monomach) besonders die Geschichtsschreibung (Nestorchronik) pflegte und im Igorlied (11851187) ihren Gipfelpunkt erreichte. Das Vorhandensein einer reichen Volksdichtung bekunden die Reste der bis in die Neuzeit hinein überlieferten epischen Heldenlieder, der sog. Bylinen. Die Zusammenstellung des ersten vollständigen kirchenslawischen Bibelkodex erfolgte 14901499 unter Mithilfe eines Dominikaners (G. von Nowgorod).
Die russische Literatur des 16. Jahrhunderts stand im Zeichen der Theorie von Moskau als dem „dritten Rom“. Umfangreiche Monumentalwerke (liturgische Schriften, reich illustrierte Chroniken u. a.) bezweckten die Kodifizierung des Ererbten.
Durch die Beteiligung von Amtsleuten und Kaufleuten am literarischen Schaffen kam es im 17. Jahrhundert zu einer Verweltlichung der russischen Literatur. Westeuropäische unterhaltsame Erzählstoffe wurden verarbeitet. Fest gefügte literarische Gattungen erhielten einen neuen Inhalt: Aus dem Heiligenleben erwuchs z. B. die Autobiografie (P. Awwakum), aus dem Kirchenlied die Satire. Erstmalig erhielt Russland eine Versdichtung (S. Polozkij).
Die von Peter I. durchgeführte Angleichung des kyrillischen Alphabets an das lateinische bewirkte im 18. Jahrhundert eine Aufspaltung der russischen Literatur in eine weltliche und eine am kirchenslawischen Alphabet festhaltende kirchliche. Die weltliche russische Literatur orientierte sich an der französischen und deutschen Literaturtheorie. W. K. Tredjakowskij, A. P. Sumarokow, der Leiter des ersten ständigen russischen Theaters, und M. W. Lomonossow stellten Verslehren mit Musterbeispielen zusammen und förderten durch ihre Oden die russische Literatursprache. Klassizistische Tragödien (W. I. Lukin) entstanden. Verbreitung fanden satirische Versdichtungen und seit 1769 Zeitschriften zumeist satirischen Inhalts (N. I. Nowikow). In Milieukomödien (D. I. Fonwisin) wurden russische Missstände gegeißelt. Ende des 18. Jahrhunderts fanden N. M. Karamsins empfindsame Novellen zahlreiche Nachahmer. G. R. Derschawins Anakreontik näherte sich dem Rokoko.
Die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts standen im Zeichen der Versdichtung (W. A. Schukowskij, K. N. Batjuschkow). A. S. Puschkin, der russische Nationaldichter, schuf Meisterwerke in fast allen Gattungen und begründete durch Überwindung des Zwiespalts zwischen Kirchenslawisch und Russisch die moderne Literatursprache. Westeuropäische Einflüsse der Romantik wurden maßgebend (M. J. Lermontow). An N. W. Gogols mit stark realistischen Beobachtungen durchsetzte Erzählungen (er gilt als Vorläufer des psychologischen, sittlichen und sozialkritischen Realismus) schlossen sich in den 1840er Jahren die „Physiologischen Skizzen“ an, drastische Schilderungen des Elends. Sie wurden in den 1860er und 1870er Jahren von den „Bytowiki“ (byt, „alltägliches Dasein“) zur Anklageliteratur erweitert (D. W. Grigorowitsch, N. A. Nekrassow), der Wegbereiterin des Naturalismus (P. G. Boborykin).
Puschkin, Alexander Sergejewitsch
Alexander Sergejewitsch Puschkin
In den 1840er Jahren entstanden die beiden sich befehdenden Gruppen der „Westler“ (die nach Europa orientiert waren) und der Slawophilen (die die Eigenständigkeit der russischen Kultur verfochten). Seit 1846 verfolgte die russische Literatur soziale und politische Ziele. Sie übte scharfe Kritik an der Umwelt im Glauben an eine bessere Zukunft. Das Inhaltliche besaß Vorrang vor der Form im poetischen (I. S. Turgenjew), pragmatischen (I. A. Gontscharow), satirischen (M. J. Saltykow), psychologischen (F. M. Dostojewskij), plastischen (L. N. Tolstoj) und sozialen (A. N. Ostrowskij) Realismus.
In den 1880er Jahren verdrängte die pessimistisch-melancholische Kurzerzählung (A. P. Tschechow) die Vorherrschaft des Romans. Als Reaktion gegen die Überbetonung des Inhaltlichen entwickelte sich seit der Mitte der 1890er Jahre der kosmopolitisch-pessimistisch ausgerichtete, von starkem Formwillen geprägte Symbolismus (W. J. Brjussow, K. D. Balmont). Seine klingende Dichtung übertönte die von M. Gorkij gestützte Arbeiterdichtung. Um 1910 entstanden neue Strömungen von kurzer Dauer, aber z. T. beachtliche Leistungen: Futurismus (W. W. Majakowskij), Egofuturismus mit extravaganten Wortschöpfungen (I. Sewerjanin), Expressionismus (A. Belyjs Romane), der nach Klarheit und Dinglichkeit strebende, gegen den Symbolismus gerichtete Akmeismus (N. S. Gumiljow, A. Achmatowa, O. E. Mandelschtam) und Imaginismus (S. A. Jessenin).
Nach der Oktoberrevolution verließen viele Schriftsteller die Heimat (u. a. I. A. Bunin, D. S. Mereschkowskij [Begründer des russischen Symbolismus]), I. G. Ehrenburg, A. N. Tolstoj, A. Belyj kehrten wieder zurück. Den Bruch mit der literarischen Tradition und ein klassengebundenes Literaturschaffen verlangte der „Proletkult“ unter der Führung von A. Bogdanow. Die „Russische Vereinigung proletarischer Schriftsteller“ (RAPP) bekämpfte sämtliche Strömungen, die nicht parteipolitisch ausgerichtet waren, besonders die 1920 entstandene Gruppe der Serapionsbrüder (N. S. Tichonow, V. B. Schklowskij u. a.); sie setzten sich für eine apolitische Kunst ein. Thematisch überwog die Schilderung von Bürgerkrieg und Revolution. Um 1926 zeigten sich Ansätze, den ewigen „nackten“ Menschen (L. M. Leonow) in den Vordergrund zu rücken. Auf dem Gebiet der Komposition des Romans und in der Lyrik (W. W. Majakowskij, B. L. Pasternak) wurde viel experimentiert.
1934 erhielt die russische Literatur mit der Gründung des Verbands der Schriftsteller den Auftrag, mit der Methode des sozialistischen Realismus die Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung zu schildern. Historische Romane (A. N. Tolstoj) bezweckten die Hebung des russischen Selbstgefühls. Der 2. Weltkrieg verlieh der russischen Literatur eine stark patriotische Note (A. T. Twardowskij, aber auch I. G. Ehrenburg und A. A. Fadejew). Nach 1950 (Tauwetterperiode) erfolgte gleichzeitig mit der Rehabilitierung der meisten verfemten, verfolgten oder verbannten Schriftsteller eine Auflockerung des sozialistischen Realismus. Die Inhalte erfuhren eine Erweiterung durch Einbeziehung der Psychologie des Erlebens. Formprobleme gewannen an Gewichtigkeit. Im Gegensatz zur stalinistischen Literatur war nun ein ausgesprochen persönlich-menschlicher und kritischer Ton in Lyrik (W. D. Dudinzew, J. A. Jewtuschenko), Prosa (A. I. Solschenizyn) und Drama (A. J. Kornejtschuk) zu vernehmen. Eine rege schriftstellerische Tätigkeit im Untergrund (Samisdat; A. D. Sinjawskij, A. W. Kusnezow u. a.) war vom Staat streng verfolgt worden. Die Mitte der 1980er Jahre beginnende politische Liberalisierung wirkte sich auch auf die Literatur aus. Es erfolgte eine radikale Auseinandersetzung mit der stalinistischen Vergangenheit (u. a. A. N. Rybakow, D. A. Granin). Seit Ende der 1980er Jahre entwickelt sich eine sog. alternative Prosa, deren Vertreter sich um eine neue Ästhetik bemühen (W. Jerofejew, J. Popow, T. Tolstaja); einen breiten Publikumserfolg verzeichnet gegenwärtig B. Akunin mit seinen Detektivromanen.
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