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Lust auf ein Blinddate? Willkommen in der Mitess-Zentrale! (Podcast 116)

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Mitessen. Das ist wie ein Blinddate. Es gibt ein Abendessen. Man kennt das Menü, den Termin und die Adresse. Nur die Menschen, mit denen man gemeinsam essen wird, die kennt man nicht. Es ist ein Treffen mit Fremden. Man könnte meinen, die Mitesszentrale wolle mit dem Singletum in München und in Deutschland überhaupt Schluss machen. Davon wollen die Initiatoren Markus Henssler und Jörg Zimmermann aber nichts wissen. Sie gründeten die Mitesszentrale im April 2010, um das gemeinsame Essen wieder zu etwas Besonderem zu machen. Wissen.de war neugierig und hat Dorothea Schmidt zum Mitessen geschickt.

 

Kristina rührt in einem Topf, schenkt sich nebenbei Wein ein, trinkt einen Schluck und sagt: „Ich bin gespannt.“ Sie hat sich gerade erst bei der Mitesszentrale registriert und lädt zum ersten Mal Unbekannte zum Essen ein. Im etwa 25 Quadratmeter großen Zimmer ihrer Mitbewohnerin hat sie den Tisch liebevoll hergerichtet: ein großer Teller, darauf ein kleiner und ein Suppenteller, außerdem Gläser für Wasser und Wein. Die Servietten stehen dekorativ auf den Geschirrtürmen. „Wir sind zu sechst“, sagt die Gastgeberin und geht in die Küche. Sie stellt ein Backblech auf eine Bank und schneidet Karotten.

 

Von Anspannung ist bei Kristina nichts zu spüren. Als die Gäste kommen, ist es, als kenne man sich, und scherzt sofort. Einer der Gäste heißt Mo – von Mohamed. So könne man die Namen fast aller Anwesenden kürzen, meint er. Das sind wir also: Mo und Mo, Mi, Ma und Do. Kristine heißt Krissi. Mit diesem Namen ist sie auch bei der Mitesszentrale registriert. „Was magst Du trinken? Wein, Wasser, Bier, Cola?“ fragt sie jeden einzeln.

 

Wer bei einem Essen der Mitesszentrale dabei sein möchte, muss sich unter mitesszentrale.de registrieren. Dann kann man als Gast für eine Mitessgelegenheit anfragen - oder als Gastgeber ein Essen anbieten, wie Krissi es getan hat. Wer letztlich zu einem Essen eingeladen wird, entscheidet der Gastgeber. Schließlich sollen die Fremden auch irgendwie zu einem selbst passen: Hobbies und Kochinteressen, die man ins Profil schreibt, geben Aufschluss. Das genaue Alter und der richtige Name bleiben verborgen - und wenn man kein Bild hochgeladen hat, auch das Geschlecht.  
Genau das macht die Sache so spannend: Die Gastgeber und Gäste wissen bis zum Schluss nicht, mit wem sie den Abend verbringen werden. Das ist gewollt. Weg von der Scheuklappensicht hin zu einer offenen Haltung gegenüber dem Anderen lautet die Devise der Gründer.

 

Wir sind an dem Abend zwischen 20 und 40 Jahre alt, drei Männer, drei Frauen. Monika, die Jüngste, gesteht später, sie habe sich gefragt, worüber man denn mit jemandem sprechen sollte, der viel älter sei als sie. Aber die Frage sei völlig überflüssig gewesen, sagt sie mit einer abwiegelnden Handbewegung.
Wir sind nämlich sofort im Thema. Peinliche Pausen gibt es nicht. Michl, mit 40 der Älteste, ploppt eine Proseccofalsche auf und serviert diverse Aperol-Spritz – nachdem er es mit einiger Mühe geschafft hat, die Eiswürfel aus dem Behälter zu lösen, den er mit der kleinen Schüssel für das Eis von zu Hause mitgebracht hat. „Für ein bisschen Sommerfeeling in der kalten Jahreszeit“, sagt er feierlich.

 

Krissi wollte kein Geld fürs Essen haben, sie hatte lediglich vorgeschlagen, eventuell Wein oder Sekt mitzubringen. Davon ist nun genügend da. „Prost!“ wünscht Michl. „Auf den Abend.“ Die Gläser klingen. Michl lehnt sich légère in den Stuhl. Nur kurz allerdings. Es stellt sich nämlich ziemlich bald heraus, dass Markus einer der Gründer und zudem der Geschäftsführer der Mitesszentrale ist. „Ach so“, sagt Michl erstaunt und beugt sich vor, als wollte er noch ein „Und warum bist Du hier?“ oder so ähnlich hinterherschicken. Aber es kommt nichts. Nach wenigen Sekunden hat sich seine sonst flinke und redegewandte Zunge jedoch wieder gelockert. Michl weiß einfach zu jedem und allem etwas zu erzählen. Wie Markus übrigens auch.

 

Wir lachen viel und reden unter anderem über unsere Reiseerfahrungen nach Indien, Spanien und Marokko, wo Mo seine Wurzeln hat. Er schwärmt von dem „lockeren Leben“ drüben. „Da kann jede Frau rumlaufen, wie sie will.“ Wir tauschen Erlebnisse aus dem Couchsurfing und aus Mitfahrgelegenheiten aus. Markus erinnert sich an einen Jugendlichen, der von München nach Como unbedingt über den Brenner fahren wollte. Der Fahrer nahm den direkten Weg. Damit war für den Jugendlichen an der Schweizer Grenze Endstation: Er hatte nur einen polnischen Personalausweis mit dabei. Die Schweiz war zu der Zeit noch kein Schengenstaat. Für die Einreise war ein Reisepass notwendig.

 

Krissi und Monika servieren die sämige mit Kürbiskernen dekorierte Karotten-Kokos-Ingwer-Suppe. Wir schlürfen genüsslich. Und reden weiter, sogar über Beziehungen. Bei so einem Abendessen, das ja schon recht intim ist, liegt der Verdacht nahe, die Mitesszentrale sei aus der Münchner Single-Not heraus entstanden. Rund die Hälfte aller Münchner Haushalte sind Ein-Personen-Haushalte. Deutschlandweit gibt es rund 40 Millionen, Regensburg hat gerade mit knappen 56 Prozent Ein-Personen-Haushalten den bisherigen Spitzenreiter Berlin abgelöst.

 

Geschäftsführer Markus stellt klar, dass seine Mitesszentrale keine Datingbörse ist. Er selbst ist liiert, und die meisten anderen Gäste des Abends auch. Es ist nicht ausgeschlossen, über die Mitesszentrale Bekanntschaften zu machen oder den Partner fürs Leben zu finden. Die Idee der Mitesszentrale aber sei eine andere, sagt Markus: Zum einen mache es mehr Freude, für mehrere Personen zu kochen als für sich allein. Vor allem aber sei der Gedanke in ihm aus dem Wunsch geboren, den Esstisch wieder zu einem Ort der Kommunikation machen.

 

Für Markus und seinen Mitgründer ist Essen nicht bloße Nahrungsaufnahme zum Sattwerden. „Essen hält doch Leib und Seele zusammen“, sagt Markus und fährt sich über den Bauch. Er legt übrigens Wert aufs Duzen. Wie bei der Mitfahrgelegenheit gäbe es hier keinen Grund, sein Gegenüber zu Siezen. Markus hat sich auch nicht gescheut, eine 70-Jährige zu duzen, die auch schon mal mit ihm am Esstisch saß. „Das war total klasse“, schwärmt er und schickt erklärend hinterher: „Der Abend war super. Gespräche mit Älteren sind immer die besten.“ Dass wir Markus ausgerechnet an diesem Abend treffen, war Zufall. Er lädt öfter mal als Gastgeber zum Essen ein oder geht zu jemandem essen. Nicht um zu kontrollieren. Sondern aus Spaß an der Sache.

 

Unterhaltsam ist das richtige Wort. Die Zeit vergeht wie im Flug. Es ist bald zwei Uhr morgens. Kein Wunder: Wir nehmen uns mit dem Essen nach französischer Manier richtig Zeit und reden ohne Punkt und Komma.

 

Michl hat das grüne Kuschel-Riesen-Krododil „Dino“ für sich entdeckt, krault es unaufhörlich an den Augen und im Mund, weil Monika ihm gesagt hatte, er möge das besonders gern. Nur zum Essen legt er es weg.

 

Nach jedem Gang frönen die Raucher draußen ihrer Sucht, während drinnen die Konversation ihren Lauf nimmt. Erstaunlicherweise bilden sich keine Grüppchen. Mal reden zwei oder drei gemeinsam, meist aber haben alle ein gemeinsames Thema. Das ist immer so, erfahren wir von Michl, unserm Unterhaltungskünstler. Er ist regelmäßiger Mitesser, gleich sein erstes Treffen war ein Volltreffer:

 

Ein Luxus-Essen in Wasserburg mit Hummersuppe, Garnelen, feinem Wein und anderem Gaumenschmaus mehr. Dass er bei so einem Abendessen mit fremden Menschen zu tun hat, macht ihm nichts aus. Das sei bei der Mitfahrzentrale und beim Couchsurfing nicht anders.

 

Später bringt Michl augenzwinkernd noch ein Argument für das Abendessen mit Fremden: „Meine Freunde kenne ich ja schon!“ Insofern kann Mitesszentrale durchaus hilfreich sein, wenn jemand neu in einer Stadt ist und Anschluss sucht. In Deutschland, Österreich und der Schweiz haben sich mittlerweile rund 4000 Teilnehmer registriert. Auf der Internetseite gibt es Mitessmöglichkeiten in rund 300 Städten. Tendenz steigend. Das Essen soll immer sehr gut sein, sagen Michl und Markus. Und es habe sich rumgesprochen, dass sich alle ordentlich verhalten und manchmal auch herausputzen. Trotzdem gibt es Verbesserungsbedarf, findet Markus:

 

Dass die Internetseite reformbedürftig ist, stimmt. Aber der Abend ist perfekt, spätestens als das Dessert kommt. Eben noch dröhnte der Mixer aus der Küche ins Zimmer, jetzt steht die Apfel-Vanille-Speise mit Krokantstreuseln auf dem Tisch. Wie im Chor stimmen alle zugleich ein lautes „Hmmmm“ an. Aber keiner stürzt sich auf die Leckerei. Markus hatte Recht: Es geht „immer kultiviert“ zu. Mo sieht zufrieden aus, grinst übers ganze Gesicht. Er schiebt sich einen Löffel Dessert in den Mund, gesteht später aber, dass ihm etwas anderes am besten geschmeckt hat.


Unsere Bilanz fällt ähnlich aus. Es war ein schöner, geselliger Abend, der nach Wiederholung schreit. Vielleicht treffen wir uns alle in Wasserburg wieder. Der Michl hat uns neugierig gemacht.
 

Dorothea Schmidt, wissen.de-Redaktion

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