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Alles auf Anfang – warum uns Neuanfänge faszinieren (Podcast 111)

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Es ist ein wohl vertrautes Ritual zum Jahresende: Böller, Raketen, Anstoßen um Mitternacht  – und natürlich jede Menge guter Vorsätze fürs neue Jahr. Der eine möchte mehr Zeit mit seinen Kindern verbringen, die andere im Beruf durchstarten, der dritte mit dem Rauchen aufhören - und alle wollen für gewöhnlich viel stärker auf ihr Gewicht achten. Typische Vorsätze, wie man sie des öfteren hört, und von denen nicht wenige sogar durchgehalten werden. Warum aber spielt "der Anfang" für uns eine so große Rolle, was macht den "Neuanfang" – nicht nur zu Silvester – für uns so wichtig? Was fasziniert uns am "Anfang" überhaupt?


Am Anfang war … die Frage


Am Anfang wurde das Universum erschaffen.
Das machte einige Leute sehr wütend und
wurde allenthalben als ein Schritt in die
völlig falsche Richtung bezeichnet.

Douglas Adams

Was war am Anfang? "Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde", heißt es im 1. Buch Mose, und im Johannes-Evangelium kann man lesen: "Am Anfang war das Wort". Kein Zweifel, die Frage nach dem Nullpunkt, nach jenem einen besonderen Moment, an dem buchstäblich alles begann, gehört zu den elementaren Menschheitsfragen. Ein gläubiger Christ wird sie anders beantworten als beispielsweise ein Naturwissenschaftler, der sich streng an Fakten orientiert. Nach seiner Vorstellung war zu Beginn der "Urknall" – die Entwicklung von Raum, Zeit und Materie aus einem Punkt heraus. Vor diesem Knall gab es nichts – weder Raum, noch Zeit, noch Materie. Zugegeben, es fällt schwer, sich dies vorzustellen, und doch handelt es sich bei dem Urknallmodell um die derzeit am stärksten verbreitete Vorstellung vom "Anfang". Natürlich wird diese stets hinterfragt. Das liegt schon daran, dass man sich ihr nicht auf dem Wege der Anschauung, sondern nur über die Rekonstruktion nähern kann – es gibt kein Bild und keinen Videofilm des Urknalls, sondern bloß Daten, die auf ihn hindeuten. Entsprechend wird die Suche nach dem Anfang auch von jeder Forschergeneration neu vollzogen – durchaus mit überraschenden Ergebnissen, stellte doch der große Kieler Physiker Max Planck fest: "Für den gläubigen Menschen steht Gott am Anfang, für den Wissenschaftler am Ende aller seiner Überlegungen."

 

Was einen Anfang hat ...

 

Wenn eine Idee am Anfang nicht absurd klingt,

dann gibt es keine Hoffnung für sie.

Albert Einstein

 

Doch was einen Anfang hat, hat auch einen Schluss. Das gilt ebenso für das Universum, wobei sich die Wissenschaft hier längst nicht einig ist, wie der Kosmos dereinst "enden" wird.

Dehnt sich das Universum immer weiter aus, wovon man derzeit ausgeht, oder kommt es doch zu einer Umkehrung des Vorgangs, bei der die vorhandene Materie wieder in einem Punkt zusammenfindet? Beruhigend ist, dass derartige Szenarien so viele Milliarden Jahre in der Zukunft stattfinden, dass sie für uns ohne Belang sind. Typisch dürfte hingegen sein, dass wir danach fragen. Schließlich nehmen wir das Verstreichen von Zeit jeden Tag wahr – allein durch den Ablauf der Jahreszeiten, der sich kontinuierlich wiederholt. Alle 365 Tage, so bemisst es unser Kalender, setzt der Zyklus von vorn an. Dieser Moment wurde schon von den Germanen begangen. Auch die Römer kannten ein entsprechendes Fest, das seit 153 v. Chr. am 1. Januar stattfand – vorher begann bei ihnen das Jahr am 1. März. Unsere Bezeichnung "Silvester" geht auf Papst Silvester I. zurück, der am 31. Dezember 335 starb; verbindlich festgelegt wurde der 31.12. als letzter Tag des Jahres 1691 von Papst Innozenz XII. Spätestens seitdem feiern wir „Silvester“ – und beginnen jedes Jahr von vorn. Warum eigentlich?

 

Der richtige Anfang

 

Wenn die anderen glauben, man ist am Ende,

so muss man erst richtig anfangen.

Konrad Adenauer

 

Mancher Anfang ist relativ. Der Zyklus der Jahreszeiten ist naturgegeben, der Kalender ist es jedoch nicht. Es gibt andere Möglichkeiten als die unsrige, die Zeit zu strukturieren; es sind auch solche vorstellbar, die die Wiederkehr von Frühling, Sommer, Herbst und Winter außen vor lassen. Für den modernen Menschen, der mit Ackerbau und Viehzucht nichts zu tun hat, ist der Jahreswechsel primär symbolisch interessant. Er setzt einen Punkt und bietet sich damit als Markierung an – übrigens ganz besonders dann, wenn von einem Jahrhundert oder sogar von einem Jahrtausend auf das nächste gewechselt wird. Man muss aber kein Christ sein, um die Zeit "zwischen den Jahren", also zwischen Heiligabend und Silvester, als "besinnlich" zu erleben. Sie ist die Ruhephase, in der man sich von den Bedrängnissen des Alltags so gut es geht zu lösen versucht und über sich und seine Ziele nachdenkt. Und wer dann beschließt, etwas in seinem Leben zu ändern, der findet zum Jahreswechsel einen markanten Startpunkt, ab dem er seinen Vorsatz in die Tat umsetzen kann. Alle entsprechenden Absichten beruhen nämlich darauf, einen Zeitpunkt zu wählen, ab dem man sich anders verhalten möchte. Das kann im Prinzip jeder beliebige Moment sein – aber der Übergang vom 31. Dezember zum 1. Januar bietet sich besonders an. Natürlich auch, weil man gemeinsam mit Verwandten und Freunden neue Ziele beschließen und diese bei einem guten Schluck besiegeln kann: beispielsweise das Rauchen aufzugeben, die passive Mitgliedschaft im Fitnessclub in die aktive Variante umzuwandeln, beim allabendlichen Fernsehgenuss zu Gürkchen und Karöttchen statt zu Kartoffelchips zu greifen, die Steuererklärung ausnahmsweise innerhalb der gebotenen Frist einzureichen oder – welch kühner Vorsatz – den Flur zu streichen. Das hat man doch schon so lange vor...

 

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

 

Am Anfang widersteht eine Frau dem Ansturm des Mannes,

und am Ende verhindert sie seinen Rückzug.

Oscar Wilde

Es versteht sich von selbst, dass das Thema des Anfangs gerade Literaten und Philosophen immer neu herausgefordert hat. "Am Anfang war die Tat", postuliert Goethe im Faust und sieht sich damit Seite an Seite mit dem Philosophen Demokrit, der meint: "Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende". Tatsächlich scheint jedem Anfang, wie Hermann Hesse formuliert, ein besonderer Zauber innezuwohnen. Oder liegt es daran, dass – wieder mit Goethe – aller Anfang zwar leicht ist, aber nur darum, weil die letzten Stufen am schwersten und seltensten erstiegen werden? Der Volksmund kennt mit "Aller Anfang ist schwer" auch die genau gegenteilige Vorstellung. So einfach scheint es also doch nicht zu sein.

Kein Zweifel besteht hingegen, dass dem Beginn eines Gedichts oder Romans eine besondere Bedeutung zukommt. Gleich der erste Satz muss stimmen und den Leser in den Text hineinziehen. Nicht immer kann es dabei so eindrucksvoll zugehen wie bei Franz Kafka, dessen berühmte Erzählung Die Verwandlung mit den folgenden Worten beginnt: "Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt." Ähnlich geheimnisvoll, ähnlich phantasieanregend beginnt Cornelia Funkes Jugendbuch Tintenherz: "Es fiel Regen in jener Nacht, ein feiner, wispernder Regen." Doch laut einem Wettbewerb der Initiative Deutsche Sprache und der Stiftung Lesen im Jahr 2007, an dem 17.000 Leser teilnahmen, lautet der schönste Einleitungssatz der deutschen Literatur ganz profan: "Ilsebill salzte nach". So einfach, so lakonisch beginnt Der Butt, Günter Grass überbordender Roman aus dem Jahr 1977, der über viele Seite kein Ende finden will.

 

Zwischen Anfang und Ende

 

Eine gute Rede hat einen Anfang und ein Ende

und dazwischen ist sie ziemlich kurz.

Seneca


Cicero meinte: "Aus kleinem Anfang entspringen alle Dinge". Ohne den Anfang gäbe es auch kein Ende. "Ende, es ist zu Ende, es geht zu Ende, es geht vielleicht zu Ende", lautet der berühmt gewordene Beginn von Samuel Becketts Theaterstück Endspiel, in dem das Ende zwar kommt, gewissermaßen schon in Sichtweite ist, aber eben noch nicht eintritt. Natürlich ist das Verstreichen der Zeit zu bedauern. Dass jedes Jahr zu Ende geht und Platz für neue Vorsätze, für viele kleine Neuanfänge einräumt, lässt aber auch Raum für freundliche Impulse und für die Möglichkeit, seinem Leben eine neue Richtung zu geben. – Ansonsten gilt: "Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei." Wenigstens das steht von Anfang an fest.


Tina Denecken, wissen.de

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