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Bio-Ernährung soll unsere Gesundheit schützten. Aber bedeutet "Bio" wirklich immer "Bio"?

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Bio: Von der gesunden Lebensweise zum trendigen Lifestyle (Podcast 191)

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Gemüse ohne Gentechnik, Schnitzel nur von glücklichen Schweinen, Lebensmittel-Transporte ohne Treibhausgas-Ausstoß, Obst ohne Chemie – die Ansprüche an Bio-Lebensmittel sind in den vergangenen 40 Jahren gewaltig gestiegen. Gleichzeitig ist aus der alternativen Lebensform der 70er Jahre ein trendiger Lifestyle für die einkommensstärkeren Schichten geworden. Biomärkte schießen wie – natürlich unbehandelte – Pilze aus dem Boden, die Branche boomt. Wissen.de-Autorin Carola Flügel hat sich auf Öko-Weiden und in Bioläden ein Bild der umwelt- und gesundheitsbewussten Klientel gemacht.

 

Kugelschuss und Karbonade

Wenn Gerd Kämmer Appetit auf ein Gallowayfilet in Bioland-Qualität hat, geht er auf die Koppel und schießt sich eins. Zugegeben, das ist etwas übertrieben, hat aber einen wahren Kern: Der erste Vorsitzende des Vereins Bunde Wischen bei Schleswig hat die Genehmigung, seine artgerecht gehaltenen Rinder auf der Weide per Kugelschuss zu töten und an Ort und Stelle in einem mobilen Schlachtstand zu zerlegen. Die Tiere sterben praktisch mit dem Hafer im Flötzmaul und haben es nicht einmal geahnt. Dem halbwilden, auf riesigen Ganzjahresweiden grasenden Galloway-Rind wird so der enorme Stress eines Transports zum Schlachthof erspart. Und auch bei den übrigen Rindern, die von Bunde Wieschen nach wie vor den Weg zum Schlachthof antreten müssen, treibt der Verein mehr Aufwand als viele andere: Um den Stress rund um Transport und Schlachtung in einer nahe gelegenen Landschlachterei zu minimieren, werden die Tiere ein paar Tage vorher auf eine hofnahe Fläche gebracht. Hier gewöhnen sie sich an einen Stall, den sie zum Trinken aufsuchen müssen und in dem sie später eingefangen und verladen werden. Der endgültige Transport zum Bio zertifizierten Schlachter erfolgt einen Tag vor der Schlachtung, so dass die Tiere sich dort eine Nacht lang beruhigen können. Das Fleisch dieser Tiere ist von hoher, das von geschossenen Tieren von hervorragender Bioland-Qualität, führt doch die Belastung langer Transporte bei Schweinen zu sogenanntem PSE-, bei Rindern zu DFD-Fleisch. Mit anderen Worten: Das Schnitzel wird „pale, soft and exudative“, also blass, weich und wässerig, die Karbonade kommt „dark, form and dry“, zu Deutsch dunkel, fest und trocken daher.

 

Bio ist begehrt

Nachdem 1971 der erste deutsche Bioladen seine Türen öffnete, um vor allem Müsli und Recyclingpapier unter die Leute zu bringen, hat sich auf dem Sektor sehr viel getan. Das Lebensmittelsortiment umfasst heute alles, was das Herz begehrt: Von Obst, Gemüse, Säften, Bier oder Wein über Brot, Fleisch, Wurst und Käsesorten aus aller Welt bis hin zu Convenience-Artikeln, also schnell zuzubereitenden Fertiggerichten wie Suppen, Eintöpfen oder Pizza, gibt es inzwischen fast alles in Bioqualität. Knapp vierzig Jahre nach der Eröffnung des ersten Bioladens wurden 2010 nach einer Erhebung des Projektes „Marktdaten des Naturkosthandels“ in ganz Deutschland 2.346 Bioläden betrieben. 1.644 davon waren Naturkostläden, 400 Bio-Supermärkte und 302 Hofläden. Hier sei die im Auftrag des Bundeslandwirtschaftsministeriums durchgeführte Ökobarometer-Studie 2012 zitiert: „Die Beliebtheit von Biolebensmitteln wächst: 76 Prozent der befragten Verbraucher gaben an, Ökoprodukte zu erwerben. Dies sind fünf Prozent mehr als 2010.“ Und: „Verbraucher geben Lebensmitteln aus Bioläden einen hohen Vertrauensvorschuss. Besser schneiden nur die Erzeuger selbst ab, während der Vertrauensvorschuss für Bio aus dem konventionellen Supermarkt und Discounter am geringsten ist.“ Wichtigste Gründe für den Kauf von Biolebensmitteln seien artgerechte Tierhaltung, die Unterstützung regionaler Betriebe sowie eine geringe Schadstoffbelastung. Indes: regional muss noch lange nicht Bio bedeuten. Der in der Region beheimatete Schweinezüchter hält seine Tiere in Massentierhaltung auf Spaltenböden, in Nachbars Apfelplantage wird gespritzt, was die Pumpe hergibt. Hat man aber im Bioladen die Wahl zwischen Milch, die 800 Kilometer weit gereist ist und einer, die in fünfzig Kilometer Entfernung abgefüllt wurde, dann ist regional die erste Wahl.

 

Wer kauft Bio und warum?

Nicht nur das Sortiment, auch die Struktur der Bio-Käufer hat sich in den vergangenen Jahrzehnten erheblich erweitert: Die weiblichen Kunden kommen heute statt in Jesuslatschen und gebatikten Röcken in High Heels und Kostüm daher, die Männer tragen statt langer Haare und Schlabberhosen teure Kapuzenjacken, eine Schultertasche quer über den Rücken, haben ihr iPhone am Ohr und eine Kinderkarre im Schlepptau. Gemeinsam ist ihnen der Wunsch nach gesunder Ernährung – vor allem Eltern entscheiden sich dafür, ihre Kinder mit Biokost groß zu ziehen. Andere Kunden wünschen sich Obst und Gemüse mit einem besseren Geschmack als bei den Waren aus konventionellem Anbau, kürzere Transportwege für alle Produkte oder ein artgerechtes Leben für Schweine, Rinder und Geflügel, bevor sie zu Fleisch und Wurstwaren verarbeitet werden. Für wieder andere ist es von besonderer Bedeutung, dass ihre Nahrungsmittel keine Pestizide enthalten, in der Folge die Anbauflächen kaum bis gar nicht mit Chemie belastet werden und sie nicht ahnungslos Lebensmittel mit gentechnisch veränderten Inhaltsstoffe erwerben.
Noch globaler Denkende unterstützen ausländische, mit dem „Fairtrade“-Siegel zertifizierte Kleinbauern dabei, ihre Exportware unter umweltschonenden, menschenwürdigen Bedingungen anzubauen, Absatzmärkte zu erschließen und zuverlässige Handelspartner zu gewinnen. Damit leisten sie einen wichtigen Schritt zur Armutsbekämpfung in den Anbauregionen Afrikas, Lateinamerikas und Asiens.

 

Biokost und Lebensstil

Es sind nach wie vor nicht Shenaya, Chantal und Kevin, die mit Bio-Kost großgezogen werden, um ein kerngesunder, produktiver Teil dieser Gesellschaft zu werden. Es sind vielmehr Bente und Elias und Pia und Jonas – diese vier profitieren am ehesten von den Nahrungsmitteln, die auf ökologischer Basis erzeugt wurden. Sie bekommen früh mit auf den Weg, wie eine Kuh aussieht und dass sie Milch gibt, warum man Erdbeeren nicht im Winter kaufen sollte und wie sich Kohlrabi von Rucola unterscheidet. In Rachs Restaurantschule hätten sie nicht nur den Gemüseparcours fehlerfrei bestanden, bei dem man Petersilie, Fenchel, Porree, Rauke oder Basilikum erkennen und benennen musste, sondern wahrscheinlich noch die italienischen Namen dazu geliefert. Sie verlangen im Restaurant nach Bionade statt Cola, essen Müsli ohne Zucker und wissen natürlich, dass man echten Mozarella aus Büffelmilch und nicht aus Kuhmilch herstellt. Warum Bente und Elias und Clara und Finn das alles wissen? Ganz klar: Sie sind Sprösslinge der so genannten Lohas.

 

Das Gegenteil von Geiz ist geil

Der Begriff Lohas kommt aus dem Englischen und steht abgekürzt für „Lifestyle of Health and Sustainability“, zu Deutsch: „Lebensstil für Gesundheit und Nachhaltigkeit“. In der Regel handelt es sich bei Lohas um Menschen, die gerne Natur- und Outdoor-Urlaube buchen, über ein überdurchschnittliches Einkommen verfügen und häufig auch Kunden von Bioläden sind. Ihre Motive ähneln denen der Slow-Food-Bewegung, sie lehnen die „Geiz ist geil“- Mentalität strikt ab. Zur Erinnerung: Slow Food ist eine weltweite Vereinigung von bewussten Genießern und mündigen Konsumenten, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Kultur des Essens und Trinkens zu pflegen und lebendig zu halten. Slow Food fördert eine verantwortliche Landwirtschaft und Fischerei, eine artgerechte Viehzucht, das traditionelle Lebensmittelhandwerk und die Bewahrung der regionalen Geschmacksvielfalt. Slow Food bringt Produzenten, Händler und Verbraucher miteinander in Kontakt, vermittelt Wissen über die Qualität von Nahrungsmitteln und macht so den Ernährungsmarkt transparent – so die Selbstdarstellung der deutschen Slow-Food-Vertreter. Und es kann Spaß machen, sich mit guten Dingen zu befassen, mit sorgfältig produzierten Zutaten zu kochen und neue Produkte kennen zu lernen! Es kann ebenso Spaß machen und ein gutes Gefühl von Verantwortung hervorrufen, wenn man als Konsument überlegt, wem der Kauf  noch nützt – abgesehen vom eigenen Gaumen. Wen unterstützt man, wenn man ein Produkt im Bioladen kauft? Da gibt es die Frauenkooperativen in Marokko, die aus dem Samen des Arganbaums in Handarbeit ein wertvolles Öl presst. Starköchin Sarah Wiener kennt und schätzt die Hintergründe: „Von der Frauenkooperativen-Gruppe „Targarine“ beispielsweise werden 2.000 Landfrauen mit Arbeit versorgt, die zusätzlich von den sozialen Projekten der Kooperativen profitieren. Bei der Kooperative erhalten Frauen und Mädchen die Möglichkeit, ihr traditionelles Handwerk zu professionalisieren, eigenes Geld zu verdienen und sich fortzubilden.“ Ob fair gehandelte Schokolade, Bananen oder Kaffee, ob ungespritzte Erdbeeren oder alte Kartoffelsorten vom Biohof um die Ecke – jeder Kauf von Produkten aus biologischem Anbau leistet auch immer einen Beitrag zu Bodenschutz, Gewässerschutz, Artenschutz und Tierschutz.

 

Promis, Bio und Biowahn

Auch bei Promis, die in einer verlockenden Glitzerwelt zu leben scheinen und für Eigenschaften verehrt werden, die ihnen in der Realität mitunter völlig abgehen, ist der Trend zu gesundem, guten Essen und sorgsamem Umgang mit Ressourcen zu beobachten. Ob Natalie Portmann, die eine vegane Schuhkollektion vertreibt, Cosma Shiva Hagen, die sich als Baumwoll-Patin für "TransFair" einsetzt oder Leonardo DiCaprio, der bereits 1998 eine eigene Stiftung gegründet hat, um Umweltschutzprojekte zu unterstützen – sie können es sich leisten und fungieren im Idealfall als Vorbild. Trendforscher Wippermann erkannte bereits 2006 im Gespräch mit dem Spiegel: "Umweltschutz und soziales Engagement sind trendy und glamourös geworden." Dass das seltsame Blüten treiben kann, scheint ein neues Phänomen zu zeigen: Die Orthorexie.

 

Eine neue Form der Essstörung?

In den Medien kursiert der Begriff Orthorexie für eine neue Form von Essstörung. Hierbei sind die Betroffenen von gesunder Ernährung regelrecht besessen, so dass mancher Experte dieses Verhalten gar als Bio-Wahn bezeichnet. Das Online-Magazin maedchen.de erklärt: „Das kann soweit gehen, dass sich der Betroffene nur noch damit beschäftigt, was er essen darf und was nicht. Die Mahlzeiten werden genauestens geplant, meist schon über Tage im Voraus. Neben der Planung verbringen die Betroffenen ewig viel Zeit beim Einkaufen, der Zubereitung und dem Verzehr. Menschen, die an Orthorexie leiden, steigern durch das extrem disziplinierte Essen oft ihr Selbstwertgefühl und wollen ihre Gesundheit optimieren. Schaffen sie es mal nicht, ihren strengen Ernährungsplan einzuhalten, plagen sie massive Schuldgefühle. Zwar ist diese Essstörung im Vergleich zur Anorexie und Bulimie relativ harmlos, jedoch kann die meist einseitige Lebensmittelauswahl bei der Orthorexie auch zu Mangelerscheinungen und eingeschränkter Leistungsfähigkeit führen.“ Und möglicherweise in der Folge auch zu Ausgrenzung und Einsamkeit ... Ganz anders sieht das die Veganismus-Verfechterin Ava Odoemena. In ihrem Blog konstatierte sie unter der Überschrift „Orthorexie – Antiveganismus von Perversen für Perverse“, dass etwas wie Orthorexie nicht existiere – es handele sich vielmehr um eine Erfindung bekennender Antiveganer. Schließlich sehe auch die ICD-10, die Internationale Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation, in der “Orthorexie” keine eigenständige Diagnose. Wie auch immer – der neue Biotrend kann auf vierzig Jahre Wachstum zurück blicken, das ist eine lange Zeit. In diesen Jahren haben sich die Menschen mit den Problemen von Massentierhaltung, Lebensmittelskandalen und Umweltschmutzung auseinander gesetzt und eine große Zahl an Kriterien für wirklich nachhaltige Produkte entwickeln. Trotzdem fällt die Orientierung im Dschungel der Bio-Angebote noch immer schwer.

 

100 Biomarken und Ökosiegel wollen den Weg weisen

Rund einhundert verschiedene Biomarken und Ökosiegel konkurrieren heute um die Gunst der Konsumenten – da sind Desorientierung und Gutgläubigkeit vorprogrammiert. Ein Bio-Siegel der ersten Stunde ist das des Vereins “Bioland e. V.”. Im Jahr 1971 haben sich hier 5.220 Biobauern, Metzger, Milchverarbeiter, Bäcker und Mühlen zusammengeschlossen, um hundertprozentige Bio-Qualität durch Saatgut aus ökologischem Anbau zu gewährleisten. Tiere werden nur mit Produkten des eigenen Hofes gefüttert und ausschließlich naturheilkundlich behandelt. Schlachthöfe dürfen maximal in 200 Kilometer Entfernung liegen, bei der Fleisch- und Wurstzubereitung sind chemische Hilfsmittel und Nitritpökelsalz verboten. Die Kontrollen sind staatlich unabhängig. Der Verbraucher kann davon ausgehen, dass Ökosiegel aus den ersten Jahren die strengsten sind. So wie zum Beispiel das Demetersiegel, das bereits seit 1924 existiert. Die Menschen, die sich hier engagieren, werden noch vom alten Idealismus getragen. Neuere Siegel wie das sechseckige EU-Siegel schaffen den Rahmen für qualitative Mindeststandards, verbieten Gentechnik, erlauben aber fast fünfzig andere Zusatzstoffe, wie z.B. Pökelsalz.

 

Auch ein Biorind muss sterben

Trotz aller verfügbaren Informationen zu konventionellem Anbau, zu Massentierhaltung und Tiertransporten, zu Bioanbau und artgerechter Tierhaltung, muss sich Gerd Kämmer von Bunde Wischen e.V. wegen der auf der Weide erschossenen Rinder ab und zu noch mit entsetzten Kunden herumschlagen. Dass für ein Stück Fleisch ein Tier sterben muss, hat sich inzwischen herumgesprochen, gegen Tiertransporte ist man eigentlich auch – und ebenso gegen den rohen Umgang mit Schlachtvieh. Trotzdem gibt noch immer genug Fleischesser, die verdrängen und gar nicht wissen wollen, dass ihre Frikadelle mal Ellie hieß, mit der Zunge bis in ihre Nasenlöcher kam, muhte und einen sehr, sehr steinigen Weg gehen musste, bis sie die Hauptzutat für die Bulette lieferte. Aber Erschießen auf der Weide? Das sei nun wirklich die Höhe. Brutal! „Aber es stirbt doch ganz ruhig und entspannt, es hat noch das Futter im Maul, die Artgenossen um sich und überhaupt keinen Stress“, versucht Kämmer noch einmal über diesen besonders sanften Rindertod aufzuklären. Und zieht leise ironisch-resigniert einen Strich unter alle Lamentos, alle Empörungen: „Wir haben jahrelang versucht, sie tot zu streicheln, hat aber nicht geklappt ...“

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