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Unworte des Jahres: Von "Alternativlos" bis "Wohlstandsmüll" (Podcast 114)

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Die Sprache ist das Alleinstellungsmerkmal der Menschen. Sie ist unser wichtigstes Verständigungsmittel und erlaubt uns - im Gegensatz zu den Tieren - einen ungemein differenzierten Austausch. Einerseits. Andererseits ist die Sprache auch die schärfste Waffe, die uns im Zwischenmenschlichen sowie der öffentlichen Kommunikation zur Verfügung steht. Worte verletzen, stiften Verwirrung, verunsichern.

Umschreibungen wie „Personalentsorgung“ für die Entlassung von Arbeitnehmern oder „Selektionsrest“ für schwerstbehinderte Kinder, die nicht in Standardklassen unterrichtet werden können, sind im höchsten Maße menschenverachtend.

Es sind regelrechte Unwörter. Und die werden in Deutschland seit exakt 20 Jahren als „grob unangemessene und möglicherweise die Menschenwürde verletzende sprachliche Entgleisungen“ angeprangert. Die Jury der „Sprachkritischen Aktion Unwort des Jahres“ hofft so, „mehr sachliche Angemessenheit und Humanität im öffentlichen Sprachgebrauch“ durchzusetzen. Dass die Un-Wortwahl des Gremiums immer wieder vehemente öffentliche Kritik erregt hat, ist ganz im Sinne der Jury. Letztendlich will sie ja gerade die sprachkritische Reflexion anregen. Susanne Böllert von wissen.de stellt Ihnen die Unwörter seit 1991 vor und warnt: Sie werden aus dem Kopfschütteln nicht mehr herauskommen.

 

1991: „ausländerfrei“

 

Im September 1991 erlangte die sächsische Kleinstadt Hoyerswerda traurige Berühmtheit. Sie wurde Schauplatz für rechtsextreme Gewalttaten, die zum Teil unter Applaus hunderter Schaulustiger geschahen. Über Tage hinweg wurden Ausländer und Asylbewerber brutal angegriffen und verletzt und ihre Wohnungen zerstört. Der in diesem Zusammenhang häufig gebrauchte Euphemismus „ausländerfrei“ ist das erste Unwort, das die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) kürte. Es sollte nicht das letzte bleiben, das fremdenfeindliche Tendenzen in der deutschen Gesellschaft sowie ihrer Sprache verdeutlichte. So wurde ebenfalls 1991 die von Edmund Stoiber verwendete Formulierung der „durchrassten Gesellschaft“ ebenfalls mit einer Rüge der GfdS belegt.

 

1992: „ethnische Säuberung“

 

Aus den 661 Vorschlägen, die die Deutschen der Jury im Jahr 1992 machten, wählte diese die Propagandaformel „ethnische Säuberung“ zum Unwort des Jahre, mit der im ehemaligen Jugoslawien schlimmste Menschenrechtsverletzungen beschönigt wurden. Denn hinter diesem bewusst gewählten Euphemismus verstecken sich Vertreibung, Umsiedlung, Deportation und Mord.

 

1993: „Überfremdung“

 

Deutschland könne nicht als „kollektiver Freizeitpark“ organisiert werden, schalt Helmut Kohl im Krisenjahr 1993 die Deutschen, von denen sich in den Augen des Kanzlers viele in ihrer Untätigkeit wohlfühlten. Diese Formulierung des Pfälzers, der nur vier Jahre zuvor den positiv besetzten Begriff der „blühenden Landschaften“ geprägt hatte, sorgte in der Gesellschaft für deutsche Sprache für heftige Kontroversen. Und zwar derart, dass sich im Folgejahr die Jury „Sprachkritische Aktion Unwort des Jahres“ von der GfdS unabhängig machte. Seitdem ist sie die an der Goethe-Uni in Frankfurt angesiedelte Jury die Instanz der deutschen Unwörter. 1993 entschied man sich im Übrigen gar nicht für den „kollektiven Freizeitpark“, sondern kürte die Formulierung „Überfremdung“ zum Unwort des Jahres, da es als Scheinargument gegen den Zuzug von Ausländern benutzt worden sei.

 

1994 „Peanuts“

 

Ebenso wenig wie sich Witze unbeschadet in eine andere Sprache übersetzen lassen, sind bestimmte Formulierungen eins zu eins übertragbar. Ein ausgeprägtes Sprach- und Feingefühl sollte jeder mitbringen, der sich in verschiedenen Sprachwelten bewegt. Wem es daran mangelt, der läuft schnell Gefahr, sich äußerst unbeliebt zu machen. Diese Erfahrung musste 1994 auch Hilmar Kopper, damals Vorstandssprecher der Deutschen Bank, machen, als er auf einer Pressekonferenz die 50 Millionen D-Mark, die Immobilien-Pleitier Jürgen Schneider seinen Handwerkern schuldig geblieben war, als „Peanuts“ bezeichnete. Ein Ausdruck, der in den USA keinerlei abwertende Bedeutung hat, in Deutschland aber als Indiz für die Überheblichkeit der Banker gewertet wurde. Den Imageschaden, den die Deutsche Bank dadurch erlitt, vergrößerten die Sprachkritiker noch, indem sie „Peanuts“ zum Unwort des Jahres 1994 kürten. Selbstironie bewies Kopper übrigens einige Jahre später, als er sich für eine Werbekampagne auf einem Berg Erdnüsse fotografieren ließ.

 

1995 „Diätenanpassung“

 

Nach den Bankern erregten im Jahr drauf die Politiker den Unmut des kleinen Mannes, indem sie die Diätenerhöhung im Bundestag als „Diätenanpassung“ umschrieben. Prompt wählte die Jury diese Wortschöpfung zum Unwort des Jahres 2005. Damit hatte es sich unter anderem gegen den Zynisums „biologischer Abbau“ für das Ausscheiden aus dem Arbeitsleben durchgesetzt.

 

1996 „Rentnerschwemme“

 

Während sich 1995 das Wort „Altenplage“ eine Rüge der Jury eingehandelt hatte, schaffte es 1996 die altersdiskriminierende Metapher „Rentenschwemme“ auf Platz eins der Unwörter. Mit der Begründung: ein sozialpolitischer Sachverhalt werde durch ein Angst auslösendes Naturbild umschrieben.

 

1997 „Wohlstandsmüll“

 

Sarrazin lässt grüßen! Die Bezeichnung „Wohlstandsmüll“ für arbeitsunwillige und arbeitsunfähige Menschen hätte durchaus von Thilo Sarrazin stammen können, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts regelmäßig durch extrem herabwürdigende Äußerungen auffiel. Tatsächlich stammt das zynische Kompositum jedoch von Nestlé-Chef Helmut Maucher. 1997 setzte sich „Wohlstandsmüll“ als „Unwort des Jahres“ durch – unter anderem gegen das Lehrbeispiel für Bürokratendeutsch „neue Beelterung“. Gemeint waren damit neue Erziehungsberechtigte, die an die Stelle der leiblichen Eltern treten sollen. Insgesamt hatten die Deutschen der Sprachjury 1271 Vorschläge für die Kür des Unwortes gemacht. Ein bislang ungebrochener Rekord.

 

1998 „sozialverträgliches Frühableben“

 

Nur drei Jahre zuvor wurde Karsten Vilmar zum Ehrenmitglied des Bundesverbandes Deutscher Schriftsteller-Ärzte gekürt. Dabei ist Sprachgefühl nicht gerade die hervorragendste Eigenschaft des ehemaligen Präsidenten der Bundesärztekammer. Immerhin scheute sich Vilmar in seiner Kritik an den Sparplänen der Bundesregierung nicht, vom „sozialverträglichen Frühableben“ zu sprechen. Schon die Umschreibung des vorzeitigen Todes als „Frühableben“ zeugt von menschlicher Kälte, die einem Vertreter der Ärzteschaft nicht gut zu Gesichte steht. In Verbindung mit der schwierigen Bezeichnung „sozialverträglich“ wurde sie zum Unwort des Jahres 1998 gekürt.

 

1999 „Kollateralschaden“

 

Beim Unwort des Jahres 1999 handelte es sich erstmals um einen aus dem Englischen übersetzen Begriff: „collateral damage“ oder eben „Kollateralschaden“, was so viel wie „Randschaden“ bedeutet. Mit diesem Euphemismus bezeichnete die NATO die Tötung vieler Unschuldiger durch Angriffe, die sie im Kosovo-Krieg gegen die jugoslawische Zivilbevölkerung führte. Während die „Sprachkritische Jury“ diesen Begriff zum „Unwort der Jahres“ kürte, hielten ihn schärfere Kritiker gar für eine unzulässige Vertuschung der Kriegsverbrechen, derer sich die NATO im Kosovo-Krieg schuldig gemacht hatte.

 

2000 „national befreite Zone“

 

Mit dem Begriff „national befreite Zone“ bezeichneten Rechtsextreme Regionen, die sie selbst heftigem Terror unterzogen.  Als zu Beginn des 21. Jahrhunderts das Bewusstsein für die extremistischen Gefahren von Rechts in Deutschland wuchs, entschied man sich, diese Formulierung zum Unwort des Jahres zu küren. Es konnte sich gegen das „Separatorenfleisch“ durchsetzen, mit dem während der BSE-Krise Schlachtabfälle bezeichnet wurden.

 

2001 „Gotteskrieger“

 

Das Flugzeugattentat auf die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York erschütterte die Menschen auf der ganzen Welt – und hinterließ sogar im deutschen Sprachgebrauch seine Spuren: So avancierte „der 11. September“ zum Wort des Jahres. Der Begriff der „Gotteskrieger“ hingegen sollte das Unwort des Jahres 2011 werden. Die Begründung der Fachjury: „Kein Glaube an einen Gott gleich welcher Religion kann einen Krieg oder gar Terroranschlag rechtfertigen.”  Der Ausdruck „Kreuzzug”, mit dem die militärischen Vergeltungen der westlichen Welt propagandistisch umschrieben wurden, sowie die „extrem verharmlosende Benennung“ Osama Bin Ladens als „Topterrorist“ landeten auf Platz zwei und drei.

 

2002 „Ich-AG“

 

Menschliche Embryos als „Zellhaufen“ zu bezeichnen, kann nur einem ausgewachsenen Menschenfeind in den Sinn kommen. Dennoch schaffte es der Begriff nicht zum Unwort des Jahres 2002. Stattdessen schaffte es das Kompositum „Ich-AG“ auf Platz 1. Die Wissenschaftler begründeten ihre Wahl damit, dass mit ihm menschliche Schicksale auf sprachliches Börsenniveau herabgestuft würden. Ein Individuum könne keine Aktiengesellschaft sein. Diese Entscheidung war eine der meistkritisierten in der Geschichte der deutschen Unwörter.

 

2003 „Tätervolk“

 

In einer umstrittenen Rede zum Nationalfeiertag am 3. Oktober 2003 benutzte der CDU-Abgeordnete Martin Hohmann die Bezeichnung „Tätervolk“ und setzte dem Ganzen noch die Krone auf, indem er ausgerechnet die Juden als solches bezeichnete. Zwar beschwichtigte er umgehend – doch der Vorwurf des Judenfeindlichkeit stand da schon im Raum. Und auch die Sprachkritiker wählten den Begriff zum Unwort des Jahres. Ihre Entscheidung begründeten sie damit, dass der Begriff „grundsätzlich“ verwerflich sei, sein Gebrauch im Zusammenhang mit der jüdischen Bevölkerung jedoch zusätzlich ein Beleg „für den immer noch wirkenden Antisemitismus“.

 

2004 „Humankapital“

 

Eindeutig menschenverachtend sei die Wortschöpfung „Humankapital“, wie die Fachjury 2004 befand. Dieser Begriff, der vor dem Euphemismus „Begrüßungszentrum“ für geplante Auffanglager für afrikanische Flüchtlinge, zum Unwort des Jahres 2004 avancierte, degradiere nicht nur die Arbeitskräfte in Betrieben, sondern die Menschen allgemein zu einer nur noch ökonomisch interessanten Größe, urteilten die Wissenschaftler.

 

2005 „Entlassungsproduktivität“

 

Es gibt Wörter, deren Bedeutung sich weder auf den ersten, noch auf den zweiten Blick entschlüsseln lässt. Dazu zählt ohne jeden Zweifel der Begriff „Entlassungsproduktivität“ – so gut verschleiert er, was eigentlich gemeint ist, nämlich die gleich bleibende, wenn nicht gar gesteigerte Arbeits- und Produktionsleistung, nachdem zuvor zahlreichen „überflüssigen“ Mitarbeitern gekündigt wurde. Dieses Wortungetüm konnte sich 2005 unter 1073 Vorschlägen durchsetzen. Es wurde Unwort des Jahres.

 

2006 „freiwillige Ausreise“

 

Der lateinische Fachbegriff für eine lexikalische Kombination wie „freiwillige Ausreise“ lautet contradictio in adiecto, zu Deutsch: Widerspruch im Beiwort. Das Unwort des Jahres 2006 ist genau dies, bezieht es sich doch auf die Ausreise von abgelehnten Asylbewerbern, die diese freiwillig antreten, um einer Abschiebung in ihre Heimat unter Zwang zu entgehen. Von Freiwilligkeit kann hier selbstverständlich keine Rede mehr sein.

 

2007 „Herdprämie“

 

Auf den ersten Blick klingt der Begriff „Herdprämie“ durchaus positiv, scheint er doch einen Sachgewinn, etwa in Form eines neuen Kochherds oder Backofens, zu verheißen. Tatsächlich gemeint ist das vom damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber vorgeschlagene Betreuungsgeld in Höhe von 150 Euro, mit dem Familien belohnt werden sollten, die ihre Kinder selbst großziehen, anstatt den Nachwuchs in Krippen oder Kindergärten „outzusourcen“.  Ein Vorschlag, der bei der Opposition und sogar in Teilen der Union auf herbe Kritik stieß und mit dem Wort „Herdprämie“ umschrieben wurde. Die Fachjury wählte ihn zum Unwort des Jahres 2007.

 

2008 „notleidende Banken“

 

In der Dichtung ist die Personifikation ein beliebtes Stilmittel, im volkswirtschaftlichen Sprachgebrauch hingegen ist sie verpönt. Banken als notleidend zu bezeichnen, sei jedenfalls ein totaler sprachlicher Missgriff, befand die Unwort-Jury und kürte den Begriff „notleidende Banken“ im Krisenjahr 2008 zum Unwort des Jahres. Immerhin stelle er das Verhältnis von Ursachen und Folgen der Wirtschaftskrise rundweg auf den Kopf und stilisiere die für die Misere verantwortlichen Banken zu Opfern.

 

2009 „betriebsratsverseucht“

 

Der Vorschlag eines Mitarbeiters einer Baumarktkette schaffte es 2009 zum Unwort des Jahres. Der Mann hatte der Jury das Adjektiv „betriebsratsverseucht“ ans Herz gelegt, mit dem die Abteilungsleiter seiner Firma diejenigen Filialen bezeichneten, in denen ein Betriebsrat vorhanden sei. Die Sprachwissenschaftler werteten diese Bezeichnung als „Tiefpunkt im Umgang mit Lohnabhängigen“ und schmähten sie als Unwort des Jahres 2009.

 

2010: "alternativlos"

 

Auf den ersten Blick erscheint das Wörtchen, das die Jury unter Leitung des Germanisten Horst Dieter Schlosser zum Unwort des Jahres 2010 erhoben hat, als völlig harmlos: "alternativlos" ist der Ausdruck, der das Rennen gemacht und die Vorschläge "Steuersünder" und "Schwarzsparer" ausgestochen hat. Damit war die Entscheidung alles andere als "alternativlos". Die Gründe für ihre Wahl erläutern die Sprachkritiker jedenfalls wie folgt: "Das Wort suggeriert sachlich unangemessen, dass es bei einem Entscheidungsprozess von vornherein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskussion und Argumentation gebe. Behauptungen dieser Art seien 2010 zu oft aufgestellt worden, sie drohten, die Politikverdrossenheit in der Bevölkerung zu verstärken. Beispiele, wie die Formulierung "alternativlos" einen politischen Diskurs im Keim erstickt habe, sind der Jury gleich zuhauf geliefert worden: Angela Merkels Behauptung, die Griechenlandhilfe sei "alternativlos" gewesen, war dabei der meistgenannte Vorschlag. Außerdem verwendeten Politiker die Floskel für die Gesundheitsreform, das Bahnprojekt "Stuttgart 21" oder den Ausbau des Frankfurter Flughafens - und damit deutlich zu inflationär.

 

2011: "Döner-Morde"

 

Jahrelang hatten die Medien und die Polizei den Begriff "Döner-Morde" verwendet, um über eine bis dato unaufgeklärte Mordserie an neun Migranten und einer Polizistin zu berichten. Erst 2011 wurde bekannt, dass eine Zwickauer Neonazi-Zelle hinter den Attentaten steckte. Die Jury unter Leitung der Linguistik-Professorin Nina Janich begründete ihre Wahl damit, dass der Begriff die Opfer der rechtsextremen Gewalt durch die "sachlich unangemessene, folkloristisch-stereotype Etikettierung einer rechts-terroristischen Mordserie" diskriminiere. Aufgrund ihrer Herkunft würden sie auf ein Imbissgericht reduziert. Der Begriff habe zudem dazu beigetragen "dass die politische Dimension der Mordserie jahrelang verkannt oder willentlich ignoriert wurde". Das Jahr 2011 verzeichnete mit 2420 Einsendungen einen historischen Höchststand der Bürgerbeteiligung, der Ausdruck "Döner-Morde" wurde dabei 269 Mal von der Bevölkerung als "Unwort des Jahres" vorgeschlagen. Als weitere Unwörter 2011 hob die Jury die Bezeichnungen "Gutmensch" und "Marktkonforme Demokratie" hervor.


Susanne Böllert, wissen.de-Redaktion
 

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