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Extremsport

Richard Steiger

Verstehe einer die Menschheit! Da haben wir, Darwin sei Dank, in Jahrmillionen voll Mutation und Selektion alle anderen Primaten weit hinter uns gelassen. Haben uns auf zwei Beine gestellt, sind aus dem Dschungel getürmt und haben den lästigen Überlebenskampf ad acta gelegt. Die Geschichte ist zu Ende, die Evolution Vergangenheit. Weiterentwickeln? Wozu, wenn das größte Abenteuer des Tages in der Frage besteht, ob der Pizzabote an der Wohnungstür auch Kreditkarten akzeptiert. Aber unergründbar bleibt der Mensch! Zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust. Wie anders sind die Bilder von Extremsportlern zu deuten, die kopfüber Wolkenkratzer hinunterrennen, den Mount Everest mit Ski abfahren oder sich mit Inlineskates und 120 Sachen eine Bobbahn hinunterstürzen.

Dabei können uns solche Bilder schon lange nicht mehr aus der Fassung bringen. Sind doch Canyoning, Rafting und Bungee-Jumping bereits beliebter Programmpunkt auf dem Jahresausflug jedes Kegelvereins. Das Adrenalin schlummert eben in jedem von uns, nur darauf wartend ausgestoßen zu werden in Situationen, die über Leben und Tod entscheiden. Passiert dann doch einmal etwas Unvorhergesehenes, ist das Geschrei groß und die Medien rufen nach Rechtfertigung und Wiedergutmachung. Wir suchen den Kick, natürlich, aber berechenbar muss er sein. Das kalkulierbare Risiko für den Wochenendtripp, bitte, einmal "all inclusive"!

Extremsport mit all seinen Folgen ist eben einer Handvoll Individualisten vorbehalten, die sich ihres Tuns ständig bewusst sind. Der kubanische Apnoe-Taucher (lat. apnoe: ohne Sauerstoff) Pipin Rodriguez ist einer von ihnen. Er weiß, wie es sich anfühlt, wenn in fast 150 Metern Tiefe 13 Kilogramm Wasserdruck auf jedem Quadratzentimeter Haut liegen, die Lunge auf Faustgröße zusammengepresst wird und die Herzfrequenz auf acht bis zehn Schläge pro Minute sinkt. Ihm glaubt man die Worte, mit denen er die Motivation seines Tuns beschreibt: "Es ist, als würde ich neugeboren."

Ähnlich muss es den B.A.S.E.-Jumpern ergehen, die sich für ihren Sprung mit dem Fallschirm Hochhäuser, Brücken, Fernsehtürme oder Klippen als Plattform für den Absprung suchen. Der Schirm wird zum letztmöglichen Zeitpunkt geöffnet, das Timing muss genau sitzen, sonst war es der letzte Sprung.

Für diesen einen Augenblick, das Schweben zwischen Leben und Tod, lebt der Extremsportler. Dieser Augenblick kann keine Antworten geben, aber er bringt einen dazu, keine Fragen mehr zu stellen.

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