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Präsenzkultur - Wenn der Job nie Pause hat

„Wenn ich nicht da bin, bin ich auf dem Sonnendeck – oder im Solarium - oder am Radar“, das war der Refrain zum Sommerhit des Jahres 2000 von Meinrad Jungblut (heute bekannt als Peter Licht). Damals gab es zwar schon Mobiltelefone, doch niemand erwartete, dass man immerzu erreichbar ist. Das hat sich im vergangenen Jahrzehnt gründlich geändert. Seit Smartphones, Tablet PCs & Co. für jedermann erschwinglich sind, wird in Deutschland nicht nur immer und überall telefoniert und gesimst, sondern auch gemailt und getwittert.
von wissen.de-Autorin Katja Schmid

Der Anspruch, stets erreichbar zu sein, geht inzwischen so weit, dass die überwältigende Mehrzahl der „Berufstätigen (88 Prozent) außerhalb ihrer Arbeitszeiten für Kollegen, Vorgesetzte oder Kunden per Handy, Smartphone oder E-Mail erreichbar“ sind. Zu diesem Ergebnis kam die Bitkom-Studie „Netzgesellschaft“, für die Anfang 2011 rund 1.000 deutschsprachige Einwohner ab 14 Jahren mit Festnetzanschluss befragt wurden. Dabei gaben 14 Prozent an, dass sie nur in Ausnahmefällen nach Feierabend erreichbar sind. „Fast jeder Dritte (29 Prozent) ist jedoch jederzeit erreichbar. Die meisten Berufstätigen (37 Prozent) sind zumindest abends unter der Woche erreichbar, jeweils acht Prozent sogar am Wochenende und im Urlaub.“
 

Immer erreichbar
photocase.com/der_thomas

Kehrseite Burn-Out

Kurz vor der politischen Sommerpause forderte Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen in der BILD „glasklare Regeln“ für die Erreichbarkeit von Arbeitnehmern. „Die Technik,“ so die Ministerin, „ist kein Problem für die Gesundheit, wir müssen nur lernen, vernünftig damit umzugehen!“ Funkstille nach Feierabend gewähren laut Bild unter anderem Großkonzerne wie VW, Telekom, BMW, Puma und Bayer, in vielen anderen Firmen herrscht Nachholbedarf. Der Vorstoß der Politikerin kommt nicht von ungefähr. Denn die Kehrseite der ständigen Erreichbarkeit heißt Burn-Out. Wer immer zur Verfügung stehen muss und nie abschalten kann, läuft Gefahr, sich zu verausgaben. Ist der totale Erschöpfungszustand erst einmal erreicht, kann es Monate oder gar Jahre dauern, bis die alte Leistungsfähigkeit wieder erreicht ist. Wobei die Betroffenen nach einer Burn-Out-Erfahrung meit ihre Prioritäten neu setzen, sich beruflich umorientieren und einseitig kraftraubende Arbeitsverhältnisse meiden. Nur wenige äußern sich öffentlich über ihre Grenz-Erfahrung – stellvertretend seien hier der Fernsehkoch Tim Mälzer, die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel und der Fußballtrainer Ralf Rangnick genannt –, und noch weniger schaffen rechtzeitig den Absprung.

 

Work-Life Balance

So wie Anne-Marie Slaughter. 2009 war sie im Zentrum der Macht angekommen. Als erste weibliche Stabschefin arbeitete sie für die US-amerikanische Außenministerin Hillary Clinton. Nach 18 Monaten reichte sie die Kündigung ein, aus familiären Gründen – unter Karrieremenschen ein Tabu. Doch Slaughter wollte ihre beiden pubertierenden Söhne nicht mehr nur am Wochenende sehen, zwischen Sportplatz, Reinigung und zahllosen anderen Terminen. Also kehrte sie zurück an die Universität, wo sie ihre Arbeitszeit besser einteilen und insbesondere vor Ort sein kann. Im Juli 2012 veröffentlichte sie im Atlantic einen Artikel über die Unmöglichkeit, als Frau in den USA Karriere und Familie unter einen Hut zu bekommen („Why Women Still Can't Have It All“), auch wenn sie vorbehaltlos von ihrem Ehemann unterstützt werden und auch sonst in jeder Hinsicht privilegiert sind (hervorragende Ausbildung, Geld für Haushaltskräfte). Der Text ging um die Welt und brachte ihr nicht nur viel Zuspruch von jüngeren Frauen ein, die sich ganz bewusst gegen die ganz große Karriere und stattdessen für Familie entscheiden, sondern auch jede Menge Kritik von Feministinnen, für die Slaughters Abrechnung einem Verrat am Kampf um Gleichberechtigung gleichkam. Unterstützung erfuhr sie  jedoch auch von älteren Männern, die Karriere gemacht und darüber ihre Familie vernachlässigt haben – und wünschten, sie hätten sich anders entschieden.

 

 

Mutter füttert ihr Baby
shutterstock.com/Tomasz Trojanowski

Familie vs. Präsenzkultur

Mindestens 60 Stunden Arbeitszeit pro Woche, Geschäftsreisen und möglichst hohe Präsenz am Arbeitsplatz, Meetings, die sich bis in die Abendstunden hinein ziehen, abends Geschäftsessen, Reden schreiben, vor dem Schlafengehen Mails aus Übersee beantworten – das alles und noch viel mehr ist angeblich ein Muss, wenn man Karriere machen will. Allerdings ist das Ganze nur machbar, wenn man weitgehend auf ein Privatleben und vor allem auf Familie verzichtet. Deshalb gilt diese Form der Präsenzkultur als männlich dominiert – während Teilzeitarbeit weiblich definiert ist. Dass jedoch eine Führungsposition und Teilzeit kein Widerspruch sind, beweisen zahlreiche Frauen in Ländern wie Norwegen. Allerdings ist es dort weder für Frauen noch für Männer eine Karrierebremse, wenn man Sitzungen auf den frühen Nachmittag legt, damit man seine Kinder pünktlich aus der Kita abholen kann.

 

Zeitsouveränität (Zeit ist die Abwesenheit von Geld)

Das Zauberwort in diesem Zusammenhang ist die so genannte Zeitsouveränität, also die Möglichkeit des Einzelnen, frei über seine Zeit zu verfügen, und zwar nicht nur von Tag zu Tag, sondern auch im Hinblick auf längere Zeiträume, also Elternzeit zu nehmen, Angehörige zu pflegen oder auch mal ein Jahr Auszeit, ein so genanntes Sabbatical, zu nehmen. Zeitsouveränität ist einer der Schlüsselbegriffe im 8. Familienbericht der Bundesregierung, der Ende 2011 vorgestellt wurde. Unter dem Titel „Zeit für Familie“ geht der Bericht der Frage nach, wie Anspruch und Realität in Deutschland auseinanderklaffen und wie man die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern kann. Auch wenn in Deutschland immer mehr Männer zumindest für ein paar Monate in Elternzeit gehen – wenn es um Kindererziehung und die Pflege von Angehörigen geht, tragen auch heute noch Frauen die Hauptlast. Vor allem bezahlen sie für ihre Familienzeiten mit schlechteren Verdienstmöglichkeiten, weniger Aufstiegschancen und am Ende mit geringeren Rentenansprüchen. Als Bundesfamilienministerin Kristina Schröder den Bericht vorstellte, sprach sie denn auch von der Zeit als „Leitwährung der modernen Familienpolitik“.

 

Buchtipps

Matthias Burisch: Das Burnout-Syndrom: Theorie der inneren Erschöpfung (mit zahlreichen Fallbeispielen und Hilfen zur Selbsthilfe), Springer Verlag Berlin, 2010, 4., aktualisierte Auflage.

Miriam Meckel: Brief an mein Leben: Erfahrungen mit einem Burnout, Rowohlt, 2010

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