Henker springen unverhofft aus den Ecken. Dunkle Gestalten huschen durch die Gassen. Hexen verzaubern die Sinne. Huren betören und verführen. Im Hotelzimmer grüßen Spinnen, Mäuse oder ein sprechender Harry Potter-Hut. Herzlich willkommen in Hameln! Schaurig ist es in diesem Jahr in der niedersächsischen Stadt. Grund ist das 725-jährige Jubiläum der Rattenfänger-Sage. Die Hamelner begehen das Festjahr nicht bunt gekleidet und freundlich, wie sie die Jubiläen sonst feiern, sondern düster. Die Erklärung ist einfach: Die Sage ist eine traurige Geschichte.
Ein bunt gekleideter Unbekannter hat am 26. Juni 1284 alle 130 Kinder aus Hameln entführt und sich seitdem nicht mehr blicken lassen. Das war seine Rache dafür, dass die Hamelner ihm das versprochene Geld für die Befreiung von der Rattenplage verweigert hatten.
Das pelzige Ungeziefer kroch aus allen Nischen, huschte durch die Gassen, tanzte auf Tischen und Bänken. Der Fremde hatte eine Melodie auf der Flöte gespielt, die Nager damit wie mit einem Magneten angezogen, war mit ihnen zur Weser spaziert und hatte die Tiere quieksend und glucksend im Wasser verenden lassen. Die Hamelner dankten es dem Pfeifer, indem sie ihn aus der Stadt jagten – und zwar ohne Geld.
Er kam zurück, spielte wieder auf der Flöte. Nur, dass diesmal die Kinder ihm folgten - und nie wieder zurückkehrten. Diese Episode hat sich den Hamelnern tief ins Gedächtnis gefressen. Heute nagen nicht Gewissensbisse an ihnen, auch knabbert nicht die Trauer um den Nachwuchs an ihren Herzen. Sondern sie wissen, dass sich die Rattenfänger-Sage, die später mit der Kinderauszugs-Sage verknüpft wurde, wunderbar inszenieren und die Stadtkasse so füllen lässt.
Der Köder in diesem Jahr: das Gruseln. Die heimliche Neugier der Menschen nach allem, was geheim, verboten und schaurig ist nutzen die Hamelner spielerisch aus. Sie haben ihre Stadt in eine Art mittelalterliche Geisterbahn verwandelt. Halunken führen die Besucher durch dunkle Gassen, eine als Hexe verschriene Hure vernebelt deren Sinne mit Liebesgeschichten, und ein Mann führt in Verstecke von Feldermäusen. Zwischen den mittelalterlich gekleideten Kräuterfrauen und Zigeuner taucht immer wieder eine in schwarze Gewänder gehüllte Gestalt auf. Sie streift durch die Gassen, mit Kindern unter ihrem Mantel, und meidet panisch jedes Licht.
Außerdem versteckt sich ein Henker in der Stadt. Vorsicht ist geboten, denn er kann jederzeit aus einer Ecke springen. Wer in ein Hotelzimmer flüchtet, wird bös überrascht. Es ist nicht nur düster dort, sondern Mäuse huschen übers Bett und Spinnen übers Sofa, von der Wand spricht ein Harry Potter-Hut, die Seife verbreitet einen modrigen Geruch und in der Bar steht Rattenködertee – fehlt nur noch, dass die Betten schweben.
Es ist anzunehmen, dass Neugierige des Grusels wegen nach Hameln reisen, nicht wegen der Sage. Die ist ja längst weltbekannt. Schon im 18. Jahrhundert hat Goethe ein Gedicht darüber verfasst:
Es ist die wohl berühmteste Sage. Oder kennen Sie die französische Geschichte mit dem Hexentanz? Der Sohn eines Zieglers macht sich nach einer Feier auf den Heimweg als er von weitem Musik hört, erst Lichter, dann Frauen und Männer um eine Eiche tanzen sieht. Er glaubt plötzlich in einem großen Saal zu sein. Eine Frau erklärt ihm, dass ein reicher Mann jede Nacht ein ausgiebiges Fest gebe. Wer dazugehören wolle, müsse mit seinem Blut in einem Buch unterschreiben. Der junge Mann lässt sich einen Zweig bringen, ritzt sich durch den Arm und schreibt sein Pseudonym in das Buch – und die Szenerie löst sich in Luft auf. Der junge Mann findet sich in einer Dornenhecke wieder, in der er sich verfangen hat. Vergeblich ruft er um Hilfe. Erst im Morgengrauen hören ihn die Verwandten und helfen ihm.
Aus den Niederlanden gibt es eine Sage, nach der ein Mann einen Brunnen ausheben wollte, aber nie auf eine Wasserader trifft. Als er eines Tages nachschaut, ob nicht doch Wasser gekommen ist, ruft eine Stimme aus dem Brunnen „Flieh aus diesem Land“. Dann sickert endlich ein wenig Wasser aus dem Boden. Es ist Salzwasser. Ungenießbar. Niemand spricht über das Ereignis. Als der Mann stirbt, verkauft sein Sohn das Land und zieht fort.
Aus Litauen stammt folgende Geschichte: Ein armer Bauer will seinen neugeborenen Buben an einen jungen Mann im Wald verkaufen: Er bekommt nämlich viel Geld für den Jungen und muss sich nie wieder Sorgen ums Finanzielle machen. Der Bauer nimmt das Geld und legt den Buben ins Gras. Der Fremde traut sich aber nicht an das Kind heran, er umkreist es aus sicherer Entfernung. Er ist nämlich ein Abgesandter der Hölle, und auf der Brust des Jungen lagen der Taufschein und ein Gebetbuch. Irgendwann trägt ein Adler den Kleinen fort; auf einen hohen Berg in das Reich der wunderschönen Vila. Vilen sind die Elfen der Südslawen, luftige Lichtgestalten. Sie wohnen im Wasser oder in Wolken. Die Vila also nimmt sich des Babys an und zieht ihn auf.
Die Hamelner wissen, dass diese Sagen nicht so bekannt sind wie ihre, und darauf sie sind mächtig stolz. Eine Erklärung werden sie ihren Gästen aber auf ewig schuldig bleiben: Und zwar was den historischen Kern der Sage angeht. Über den zerbrechen sich auch Wissenschaftler den Kopf.
Als Goethe lebte, hieß es, der Rattenfänger sei ein simpler Rattengiftverkäufer gewesen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts sprachen Historiker von einem mythischen Boten des Todes. Heute scheint den Forschern am wahrscheinlichsten, dass die Kinder von Hameln Jugendliche ohne Arbeit waren, denen nichts anderes übrig blieb, als auszuwandern. Der Rattenfänger soll ein Gesandter des Bischofs gewesen sein, der die Jugendlichen ins Bistum Olmütz geholt und zu Arbeit verholfen hat.
Was sich nun wirklich zugetragen hat, kann den Hamelnern in diesem Jahr noch mal egal sein. Hauptsache, sie gruseln sich.
Dorothea Treder