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Flauberts Madame Bovary: Ein Meilenstein des Realismus

Welche literarischen Tricks verwendet Flaubert?

Der französische Schriftsteller Gustave Flaubert (1821–1880) stellt im ersten Satz einen Erzähler vor, der angibt, ein Klassenkamerad von Monsieur Bovary gewesen zu sein – und damit wird eine Perspektive eingenommen, die danach keine Rolle mehr spielt. Anschließend wird uns eine »falsche« Madame Bovary untergeschoben, eine 45-jährige Witwe, mit der der Landarzt Bovary in erster Ehe verheiratet war. Die »echte«, junge Emma Bovary – die Tochter des reichen Bauern Rouault – taucht erst später auf. Derlei »moderne« Kniffe hat sich Flaubert in einer immensen Kraftanstrengung in fast fünfjähriger Schreibarbeit an seinem 1857 erschienenen Roman abgerungen. Sie haben »Madame Bovary« berühmt gemacht. In der Schilderung von Emmas tristem Ehealltag auf dem Land spiegelt sich die bewusste Irreführung des Lesers: Sind doch vor allem die Betrügereien der handelnden Figuren Gegenstand des Romans.

Wer betrügt wen?

Emma Bovary hintergeht ihren zusehends verhassten Mann. Sie stürzt sich in Amouren, die sie nach der ausgiebigen Lektüre romantischer Bücher als Lebenslüge inszeniert – nur um von dem windigen Verführer Rodolphe ihrerseits mit Liebes- und Treueschwüren betrogen zu werden. Am Ende wird die Titelheldin von dem Wucherer Lheureux hinters Licht geführt, gerät dadurch in finanzielle Bedrängnis und nimmt sich aus Verzweiflung schließlich das Leben.

Wodurch ist Emmas Ehe charakterisiert?

Sie steht von Anfang an unter keinem guten Stern. Als Emma das Haus Bovarys erstmals betritt, steht der Brautstrauß der verstorbenen ersten Madame Bovary noch auf dem Tisch – weshalb sie »an ihren Brautstrauß dachte und sich sinnend fragte, was man mit ihm machen würde, falls sie sterben sollte«. Dann wird Emma klar, dass sie Bovary nicht begehrt. Die Verhältnisse verkehren sich: Der Arzt, der die Liebe seiner ersten Frau nicht erwidern konnte, muss schmerzhaft erkennen, dass nun Emma seiner glühenden Verehrung mit »innerer Gleichgültigkeit« gegenübersteht. Als die Eheleute in ein anderes Dorf (statt, wie erhofft, in die Stadt) umziehen, greift Emma in ihren Schreibtisch und sticht sich an ihrem eigenen, achtlos weggeräumten Brautbukett. Sie wirft das Gebinde ins Feuer und schaut unbeteiligt zu, wie die kleinen Beeren zerplatzen und die Messingdrähte sich krümmen. Mit ihnen verbrennen auch alle Ideale. Ironischerweise wird Emma Bovary nicht lange nach dieser Episode schwanger.

Wie wirkt sich Flauberts strenge Ästhetik aus?

Mit derselben Kaltblütigkeit wie Emma ihren im Feuer verbrennenden Brautstrauß betrachtet Gustave Flaubert das langsame Verwelken seiner Protagonistin in der grauen Langeweile und »Fäulnis« der Provinz. Über zwölf Seiten zieht sich der detailliert beschriebene Gifttod der Madame Bovary hin, dem der verzweifelte Ehemann – immerhin doch Arzt – hilflos zusehen muss. Die von Flaubert geforderte unpersönliche Erzählstrategie ist hier umwerfend umgesetzt.

Eine zeitgenössische Karikatur zeigt den Autor als Anatomen bei der Zergliederung von Emmas Leiche, und ein Kritiker schrieb: »M. Gustave Flaubert, der Sohn und Bruder ausgezeichneter Ärzte, führt die Feder wie andere das Skalpell.« Hinter all dem aber steht auch das Mitleiden des Romanautors, der bekannte: »Madame Bovary, c'est moi.« Und der gehörnte Ehegatte Bovary darf Emmas Verhalten in seinem einzigen großen Ausspruch rechtfertigen: »Das Schicksal war schuld.«

Warum löste der Roman einen Skandal aus?

Die ausgesprochene narrative Kälte des Romans, der einem profanen Thema weltliterarischen Rang verlieh, muss nach dessen Erscheinen ebenso skandalös gewirkt haben wie die angebliche Immoralität mancher Passagen (so der erzähltechnisch als Ausritt mit Rodolphe »getarnte« Orgasmus Emmas) oder die Tatsache, dass das Buch den Ehebruch moralisch nicht in Frage stellt. Flaubert wurde wegen Verstößen gegen die öffentliche Moral angeklagt, aber freigesprochen. Der anrüchige Beigeschmack der Verhandlung und die triumphale Bloßstellung der Ankläger (der Staatsanwalt war selbst Verfasser obszöner Verse) trugen wesentlich zur Popularität von »Madame Bovary« bei.

War Flaubert ein Provinzliterat?

Ja, im besten Sinne des Wortes. Gustave Flaubert wurde am 12. Dezember 1821 in Rouen/Normandie geboren. 1840 begann er in Paris ein Jurastudium, das er wegen eines Nervenleidens abbrechen musste, mit dem er bis zu seinem Tod am 8. Mai 1880 auf seinem Landgut in Croisset bei Rouen zu kämpfen hatte. Er zog sich zurück und verlegte sich aufs Schreiben. Er bereiste von 1849 bis 1851 Griechenland, den Nahen Osten und Ägypten, 1858 Tunesien. Da er sehr strenge Maßstäbe an sein Werk legte, war »Madame Bovary« 1857 seine erste Veröffentlichung, das wie der Roman »L'Education sentimentale« (»Erziehung des Herzens«) von 1869 großen Einfluss auf die Entwicklung des europäischen Romans ausübte.

Wussten Sie, dass …

»Madame Bovary« mehrfach verfilmt wurde? Die letzte Verfilmung (1991) besorgte der französische Regisseur Claude Chabrol, die Titelrolle spielte Isabelle Huppert.

Flaubert nahezu alle Verfahren des modernen Romans vorwegnahm? Innovativ wirkte vor allem die kühle Zurückhaltung des Erzählers; »Madame Bovary« beeinflusste zahlreiche Autoren der Moderne wie etwa James Joyce.

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