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Das 20. Jahrhundert – Klassik, Pop und Jazz

Dem 20. Jahrhundert blieb es vorbehalten, das traditionelle Repertoire in ein Museum der Tonkunst zu verwandeln und dem Begriff »Neue Musik« eine völlig andere Qualität zu geben. Während Klassik und Romantik zu Ikonen bürgerlicher Ästhetik avancierten, entwickelte die »Neue Musik« eine asketische Eigengesetzlichkeit. Atonalität und Zwölftontechnik setzten beim Publikum ein Abstraktionsvermögen voraus, das sich mit dem Unterhaltungsanspruch nicht mehr vereinbaren ließ. So suchte sich die melodiebestimmte Unterhaltung eigene Wege und trennte sich von einer bislang weithin einheitlichen Musikkultur.

Auch die musikalische Moderne ist inzwischen zu einem Jahrhundertereignis geworden. Ihre »Klassiker« aber hat sie sich gleichsam ertrotzt. Die haben in ihren besten Werken eine maßstabsetzende Qualität erkennen lassen, die auch Ungewohntes der Hörgewohnheit aufzuzwingen vermag. Igor Strawinsky und Alban Berg, Béla Bartók und Paul Hindemith, Alexander Prokofjew und Dmitrij Schostakowitsch, Benjamin Britten und Olivier Messiaen gelten mittlerweile als »Altmeister der Moderne«.

Im Kraftfeld der modernen Musik stehen Arnold Schönberg und die Zweite Wiener Schule mit der Zwölftontechnik als intellektuellem Gedankenbau: ein Spiel mit Tönen ohne Tonartenbezug, das eine Tonreihe voraussetzt, mit der nach strenger Regel komponiert werden soll. Damit war ein neuer Anfang vollzogen, der eine breite Spannweite zwischen gemäßigter und radikaler Moderne zuließ. Zwölftontechnik, serielle Musik, Aleatorik, Clusterbildung, elektronische Musik und so weiter wurden zu Spielarten kompositorischen Ausdrucksvermögens.

Neben »zeitlos gültiger« Musik haben sich der individualistisch inspirierte Jazz mit Louis Armstrong, Duke Ellington oder Miles Davis und die Popmusik mit ihren breit gefächerten Stilrichtungen, angefangen bei Elvis, den Beatles und Bob Dylan, einen festen Platz in der Gegenwartskultur erobert. Meist sind sie auch Ausdruck eines Lebensstils und richten sich an ein neues Publikum, wie z. B. der Rock'n'Roll.

Debussys Après-midi d'un faune: Musikalischer Impressionismus

Was war so revolutionär an Debussys Meisterwerk?

Claude Debussy (1862–1918) verführt in seinem »Vorspiel zum Nachmittag eines Fauns« mit einem sehr raffinierten Spiel von Klangfarben und Formen. Um ein Missverstehen seines Werks als Programmmusik von vornherein auszuschließen, ließ er dem Publikum folgende Mitteilung übergeben: »Die Musik dieses Vorspiels ist eine ganz freie Interpretation des schönen Gedichts von Mallarmé. Sie will es keinesfalls resümieren. Es handelt sich vielmehr um aufeinander folgende Stimmungsbilder, in denen sich die Begierden und Träume des Fauns an einem heißen Nachmittag spiegeln. Müde der Jagd auf ängstlich fliehende Nymphen und Najaden, überlässt er sich schließlich dem betäubenden Schlummer, der seine Träume von der totalen Macht in der allumfassenden Natur erfüllt.« Musikalisch beginnt das 20. Jahrhundert 1894 mit dem »Vorspiel zum Nachmittag eines Fauns«.

Wie wurde das Werk vom Publikum aufgenommen?

Das »Vorspiel«, das in den Jahren von 1892 bis 1894 entstanden war, wurde am 22. Dezember 1894 in der Société Nationale Paris uraufgeführt. Der Dirigent Gustave Doret erinnerte sich: »Es herrschte große Stille im Saal, als ich das Podium bestieg und unser glänzender Flötist Barrère die Eröffnungsmelodie spielte. Sofort spürte ich [...], dass die Zuhörerschaft ganz gebannt lauschte. Es wurde ein Triumph auf der ganzen Linie.«

Weniger harmonisch hingegen waren die Proben verlaufen. Die ungewohnte Komposition spieltechnisch zu bewältigen war eine Aufgabe, die die Nerven der Musiker strapazierte. Dass Debussy sie zusätzlich mit ständigen Änderungen belastete, steigerte die explosive Stimmung noch weiter. Alles, was Debussy seinem inneren Ohr an Klangvaleurs, an orchestralen Farbnuancen und Transparenz abgelauscht hatte, musste durch das erste Hörerlebnis überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden.

Wie wird die sommerliche Atmosphäre erschaffen?

Die virtuose Instrumentierung erzeugt einen Nuancenreichtum an Klängen, wie man ihn zuvor nicht kannte. Dabei erzielt Debussy eine atmosphärische Verdichtung, die den mediterranen Sommernachmittag mit seiner flirrenden Hitze geradezu körperlich spüren lässt. Trompete, Posaune und Schlagzeug wird man in dieser Partitur vergeblich suchen, würden sie doch kontrastierende Schärfen ins Spiel bringen, die dem Stimmungscharakter der Musik fernliegen.

Längst führt das »Prélude à l'après-midi d'un faune« ein Doppelleben, denn es zählt nicht nur zum festen Repertoire der Konzertsäle, sondern hat sich auch die Ballettbühne erobert. Das erotische Spiel des Fauns, zwischen Leidenschaft und schläfriger Mattigkeit changierend, prädestiniert diese Musik für die tänzerische Darstellung.

Wie entsteht der impressionistische Grundton?

Das Geheimnis des schwebenden Flairs des Werks liegt in der Verschmelzung von Variation, Sonaten- und Liedform. Die Form wird selbst zum Spiel und gewinnt dabei an improvisatorischer Prägnanz. Das Kernthema des »Prélude à l'après-midi d'un faune« ist der Soloflöte zugeordnet, dem Sinnbild des Fauns. Schon zu Beginn setzt es sich, zu diesem Zeitpunkt noch frei von jeglicher Harmonisierung, in absteigender Chromatik in Szene. Zehnmal wiederholt, durchzieht es die ganze Partitur, doch niemals bleibt es gleich, sondern ändert seine orchestrale Farbe durch wechselnde Harmonisierungen. Rhythmische Veränderungen, Akkorde der Ganztonleiter, Akkorde ohne feste Tonart oder auch ein Orgelpunkt auf der Tonika sind Beispiele für die unterschiedlichsten Belichtungen, in denen der Komponist seinen Faun auf musikalischem Wege darzustellen versteht. Mit solch »pointillistischer« Technik wurde der Komponist Claude Debussy zum Begründer des musikalischen Impressionismus.

Wie wurde Claude Debussy zu einem der Wegbereiter der Moderne?

Claude Debussy wurde am 22. August 1862 in Saint-Germain-en-Laye bei Paris in eine kleinbürgerliche Familie geboren. Er besuchte nie eine Schule, hatte aber das Glück, dass eine vermögende Dame auf ihn aufmerksam wurde und seine musikalische Ausbildung übernahm, so dass er als 10-Jähriger Klavierunterricht am Pariser Konservatorium erhielt, wo er später auf Komposition umsattelte. Zunächst schlug er sich mit kleinen Kompositionen und als Musikkritiker durch. Auf der Weltausstellung 1889 in Paris kam Debussy mit asiatischer Musik in Kontakt, die ihn tief beeindruckte und deren schwebender Klang sich auch in seinem »Prélude« von 1894 wiederfindet. Das Orchesterwerk »Les Nocturnes« wurde 1900 ebenfalls ein großer Erfolg. Debussy starb am 26. März 1918 in Paris.

Wussten Sie, dass …

selbst Stéphane Mallarmé (1842–1898), dessen symbolistische Ekloge »L'après-midi d'un faune« (1876) Claude Debussy zur Komposition angeregt hatte, begeistert von dem Werk war? Und das will etwas heißen bei Dichtern, die die musikalische Anverwandlung ihrer Poesie mit größter Skepsis zu begleiten pflegen: »Ihre Vertonung [...] bildet keine Dissonanz zu meinem Text, sie übertrifft ihn eher an Sehnsucht und an Licht, mit ihrer Feinheit, ihrer Schwermut, ihrem Reichtum.«

Mahlers 9. Symphonie: Zwischen Lebenslust und Todesgewissheit

War Mahler ein populärer Komponist?

Nein, sperrige Monumentalsymphonien und orchestrale Liederwerke – das ist nicht der Stoff, der breiten Erfolg garantiert, zumal wenn man, zwischen Romantik und Moderne stehend, des Eklektizismus verdächtigt wird. So umstritten Gustav Mahler (1860–1911) als Komponist auch war, totschweigen ließ sich sein Werk weder zu seinen Lebzeiten noch nach seinem frühen Tod. Dirigenten wie Bruno Walter, Willem Mengelberg und Otto Klemperer pflegten sein Vermächtnis. Mahlers Zuversicht, seine Zeit werde noch kommen, sollte sich erst 50 Jahre nach seinem Tod erfüllen – dann aber mit einer Gewalt, die sich allem Modischen widersetzte.

Warum eroberte Mahlers Neunte die Konzertsäle?

Nicht zuletzt deshalb, weil die Visionen der Hoffnung und der Trauer, das Vexierrätsel der Natur, das Pandämonium des Schreckens und das Ringen um das Geheimnis des Todes sich als neue Hörerfahrungen entdecken lassen. Ein Musiker wird erkennbar, der in seiner Widersprüchlichkeit und inneren Zerrissenheit ein intuitives Sensorium für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts entwickelte und daher mit seiner Kunst den Menschen am Ende des 20. Jahrhunderts näher steht als denen am Anfang. In seinem Schaffen wird die symphonische Traditionslinie erkennbar, die sich auf Beethoven als Ahnherrn beruft.

Welche Stellung nimmt die Neunte im Werk ein?

Mahlers Neunte, die in den Jahren 1909 bis 1910 entstand, zählt mit der Ersten, Fünften, Sechsten und Siebten zu den Instrumentalsymphonien, während die Vierte solistisch besetzt ist und die Nummern 2, 3 und 8 Chor und Solisten verwenden. Mit dem Verzicht auf das traditionelle Satzschema gibt der Komponist zu erkennen, dass ihm in dieser letzten vollendeten Symphonie nicht mehr an den herkömmlichen Steigerungseffekten gelegen ist, die in einer Apotheose kulminieren. Zwei langsame Sätze verklammern zwei scherzoartige Sätze. In epischer Breite »ist da etwas gesagt, was ich seit längerer Zeit auf den Lippen habe«, schrieb Mahler an Bruno Walter.

Was ist das Thema des ersten Satzes?

Alban Berg rühmte 1912 den ersten Satz, ein Andante comodo, als den »Ausdruck einer unerhörten Liebe zu dieser Erde, die Sehnsucht, im Frieden auf ihr zu leben, sie, die Natur, noch auszugießen bis in ihre tiefsten Tiefen – bevor der Tod kommt. Denn er kommt unaufhaltsam. Dieser ganze Satz ist auf die Todesahnung gestellt. Immer wieder meldet sie sich. Alles irdisch Verträumte gipfelt darin […] – am stärksten natürlich bei der ungeheuren Stelle, wo diese Todesahnung Gewissheit wird, wo mitten in die —höchste Kraft‹ schmerzvollster Lebenslust, —mit höchster Gewalt‹ der Tod sich anmeldet – dazu das schauerliche Bratschen- und Geigensolo und diese ritterlichen Klänge: der Tod in der Rüstung. Dagegen gibt's kein Auflehnen mehr.«

Wie steigert sich die Symphonie?

Im Scherzo bedient sich Mahler gemächlicher Ländler, um noch einmal den Wechselbezug zwischen der Sehnsucht nach heiler Welt und ihrer Unmöglichkeit herzustellen. Groteske und Parodie dienen als Stilmittel, um diese Sehnsucht zu verzerren. Der Versuch, Lebensfreude zu erzwingen, wendet sich ins Gespenstische. Die Rondo-Burleske des dritten Satzes lässt das Orchester virtuos aufspielen. Themen- und Motivfetzen aus dem Repertoire billiger Unterhaltungsmusik fordern den Sarkasmus des Künstlers heraus, der der Trivialität eine Grimasse schneidet, ohne sich von ihr befreien zu können. Das abschließende Adagio formt sein Material aus der Burleske, als gälte es, Ohnmacht und Scheitern aus dem Wissen um die Trivialität des Lebens in Töne zu setzen. Mit letzter Leidenschaft steigert sich der orchestrale Klang ins Unvermeidliche. Die Melodie wird fahl und atemlos, verebbt, zerfällt schließlich im Nichts und befreit sich so von aller irdischen Verstrickung.

Wussten Sie, dass …

auch Beethovens und Bruckners jeweils Neunte Symphonie – wie auch Gustav Mahlers Neunte – ein in Partitur gesetztes Lebensfinale sind?

Mahler wohl auch deshalb seiner eigentlichen neunten Symphonie die Nummerierung neun verweigerte? Er nannte sie »Das Lied von der Erde«, sodass es sich bei seiner nächsten Symphonie, die er als Nummer neun ausweist, de facto um seine zehnte handelt. Sie ist, wie schon »Das Lied von der Erde«, ein Werk des Abschieds von der Welt. Eine zehnte Symphonie blieb Fragment.

Wie wurde Gustav Mahler zu einem gefeierten Dirigenten?

Gustav Mahler wurde am 7.7.1860 in der Nähe von Iglau im heutigen Tschechien in eine jüdische Kaufmannsfamilie geboren. Bereits im Kindesalter begann er, zu komponieren und als Pianist aufzutreten. Mit 15 Jahren ging er ans Konservatorium nach Wien, das er 1877 mit einem Kompositionsdiplom abschloss. Nach mehreren Stationen als Kapellmeister, in denen er sich zu einem der bekanntesten Dirigenten Europas hocharbeitete, wurde er 1897 erster Kapellmeister und Hofoperndirektor in Wien, übernahm damit die damals renommierteste Dirigentenstelle. Dort entstaubte er die Aufführungspraxis der Oper und modernisierte die Inszenierungen. Nach internen Querelen ging er 1908 an die Metropolitan Opera in New York, wo er begeistert aufgenommen wurde. Er starb am 18.5.1911 in Wien.

Strawinskys Sacre du printemps: Avantgarde im primitiven Kleid

Wie verlief die Uraufführung der Ballettmusik?

Es kam zu tumultartigen Szenen. Mit »Le Sacre du printemps« – übersetzt »Das Frühlingsopfer« – gelang Igor Strawinsky (1882 bis 1971) ein in der Musikgeschichte beispielloser Affront. Bei der Uraufführung 1913 am Pariser Théâtre des Champs-Eliysées brach das schockierte Publikum in eine Lärmorgie mit wüsten Beleidigungen und Handgreiflichkeiten zwischen Anhängern und Gegnern aus. Doch bereits in der dritten Aufführung gab der Applaus der Tobsucht keine Chance mehr.

War »Sacre du Printemps« eine Art kubische Musik?

Nein, dieser Vergleich wurde bemüht, weil für ungeübte Ohren der strukturelle Zusammenhang der vielen kurzen Motive und Motivpartikel ebenso verborgen war wie für ungeübte Augen das kubistische Gewirr von Einzelformen in der Malerei. Folkloristische Elemente lassen sich in ihren Brechungen nur als musikalisches Rohmaterial ausmachen. Und die geballten Mischklänge aus Dur und Moll waren zwar ungewohnt, doch keineswegs neu; schon Richard Strauss hatte sie vier Jahre zuvor in »Elektra« eingesetzt.

Ist das Stück »primitiv«?

Keineswegs. Was sich im »Sacre du printemps« als Primitivismus zur Schau stellt, ist Teil des Konzepts, denn das Werk entpuppt sich als musikalisch urtümliche Gewalt, in der sich das Archaische und Barbarische eines heidnischen Rituals widerspiegeln. So heterogen die Einzelteile dieser meisterhaft instrumentierten Partitur auf den ersten Blick erscheinen mögen, Bezüge und Innenspannungen ergeben sich aus einem raffinierten, variantenreichen Rhythmusgeflecht, das einen zwingenden Zusammenhang herstellt.

Was war die thematische Grundidee des Balletts?

Die »Vision einer großen heidnischen Feier« war Ausgangspunkt für dieses dritte Ballett nach »Feuervogel« (1910) und »Petruschka« (1911), das Igor Strawinsky für Sergej Diaghilews »Ballets Russes« komponierte: »Alte weise Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stimmen«. Strawinsky kam von diesem Stoff, den er schon im Frühjahr des Jahres 1910 entwickelte, nicht mehr los.

Wie gestaltete sich der tänzerische Ablauf?

Strawinsky unterteilte ihn in zwei Teile, in »Die Anbetung der Erde« und »Das Opfer«. Nur für die Opferhandlung, die »Danse sacrale«, war eine Solotänzerin vorgesehen. »Ich möchte«, so schrieb er, »dass mein Werk das Gefühl der engen Verbundenheit der Menschen mit der Erde, des menschlichen Lebens mit dem Boden vermittelt.« Das Tanzlibretto richtete er in Zusammenarbeit mit Nikolas Roerich ein, einem profunden Kenner der slawischen Frühgeschichte.

Wer entwarf eine adäquate Tanzsprache?

Den erste Versuch machte Vaclaw Nijinskij, der Epoche machende Tänzer, aber er war als Choreograf der Uraufführung den Anforderungen der Partitur kaum gewachsen. Die neue Musiksprache erforderte eine vollkommen neue Tanzsprache. Das gelang erst 1920 Léonide Massine. Musikalisch wie tänzerisch hat sich der »Sacre« als ein bedeutendes Werk des 20. Jahrhunderts durchgesetzt.

Wussten Sie, dass …

in Paris am Vorabend des Ersten Weltkriegs die künstlerische Atmosphäre so aggressiv und aufgeheizt war, dass beispielsweise in der Malerei der Kubismus wegen einer ihm unterstellten »Gemeingefährlichkeit« sogar das französische Parlament beschäftigte? Die künstlerischen Verformungen des Körperlichen bis hin zur optischen Zertrümmerung aller Formenzusammenhänge, die sich die Maler Picasso, Braque, Léger und Gleizes erlaubten, wurden als avantgardistische Exzesse des Primitiven geschmäht.

War Igor Strawinsky ein musikalischer Tausendsassa?

Ja, Strawinsky besaß nicht nur als Komponist ein breites Spektrum von Symphonien bis zu Klavier-Miniaturen. Er war außerdem ein berühmter Dirigent und Pianist und verfasste musiktheoretische Schriften. Geboren wurde Igor Fjodorowitsch Strawinsky am 17. Juni 1882 im russischen Oranienbaum bei St. Petersburg und wuchs in beengten Verhältnissen auf. 1910 reiste er nach Paris, um dort sein Ballett »Feuervogel« und die Nachfolger »Petruschka« (1911) und »Le Sacre du Printemps« (1913) aufzuführen. Dank der Unterstützung durch Mäzene führte er dort ein relativ sorgenfreies Komponistenleben. 1940 floh Strawinsky vor den Nationalsozialisten nach New York, wo er nach anfänglichen Schwierigkeiten beruflich Fuß fassen konnte und bis zu seinem Tod am 6.4.1971 blieb.

Prokofjews 3. Klavierkonzert: Avantgardismus in klassischer Form

Warum verschlug es Prokofjew nach Chicago?

Die russische Oktoberrevolution von 1917 hatte Sergej Prokofjew (1891–1953) die Heimat genommen. Er führte ein unstetes Wanderleben zwischen der Alten und der Neuen Welt. In Chicago wollte Prokofjew seine Oper »Die Liebe zu den drei Orangen« und sein drittes Klavierkonzert der Öffentlichkeit vorstellen. Sergej Prokofjew hatte dieses Klavierkonzert von 1917 bis 1921 komponiert, die Uraufführung fand mit dem Chicago Symphony Orchestra in Chicago statt, Solist war Sergej Prokofjew selbst. Heute gilt dieses Klavierkonzert nicht nur als sein bekanntestes, es zählt auch trotz seiner konservativen Formen- und Tonsprache zu den bedeutendsten Werken seiner Gattung im 20. Jahrhundert.

Ein konservativer Innovateur?

Nach Meinung einiger Kritiker trifft dies auf Prokofjew zu, denn den Rahmen der Tonalität hat er nie gesprengt, immer sind die musikalischen Verlaufsformen erkennbar. In der Emigration brachte ihm diese gemäßigte Tonsprache bei der Avantgarde den Ruf eines Konservativen ein, wenn nicht gar den eines Epigonen. Prokofjew selbst sah in seinem Schaffen fünf Grundlinien verwirklicht: Er bezeichnete sie als neoklassisch, modern, motorisch, lyrisch und scherzoartig. Natürlich ist damit keine periodische Einteilung gemeint, dafür sind die Überschneidungen zu zahlreich; vielmehr gibt sie einen Überblick über das Spektrum der musikalischen Ausdrucksformen.

Ein Konzert aus der Schublade?

Ja, denn nach eigener Aussage hatte Prokofjew schon beim Beginn der Arbeit das ganze thematische Material beisammen, mit Ausnahme des Seitenthemas des ersten und des dritten Themas des dritten Satzes. Die Komposition wurde 1921 während eines Aufenthalts an der bretonischen Küste ausgearbeitet. »Eine Passage von aufsteigenden parallelen Dreiklängen« aus dem Entwurf für ein großes Konzert von 1911 wurde in den Schluss des ersten Satzes integriert; ein Variationsthema von 1913 wurde 1916/17 um zwei Variationen ergänzt, so dass die Grundlage für die fünf Variationen, die dem zweiten Satz sein Profil geben, bereits vorhanden war. Themenmaterial von 1917 wurde in das Finale des Klavierkonzerts übernommen.

Was heißt hier klassisch?

»Klassisch« ist im 3. Klavierkonzert nicht nur die konkrete tonale Zuordnung sowie die dreisätzige Anlage, sondern auch die Themenbildung mit Haupt- und Seitenthemen und deren Verarbeitung in den Ecksätzen. Die mehrfachen Wechsel der Tempi innerhalb der Sätze wirken elegant; energischer Zugriff und lyrische Momente, Leidenschaft und Brillanz, liedhafte Entwicklung und stürmischer Schwung erzeugen jenen Kontrastreichtum, aus dem sich ein Spannungsbogen formt.

Wie zeigt sich die virtuose Machart?

Zum Beispiel im Variationsthema des zweiten Satzes, das zum Ausgangspunkt für fünf verschiedene Stimmungsbilder wird, in denen der Komponist demonstriert, wie meisterhaft er mit der Form zu spielen vermag. Das lyrische Seitenthema im Finale besitzt eine solche Überzeugungskraft, dass seine breite Ausarbeitung den organischen Verlauf des Rondosatzes nicht sprengt, sondern bereichert.

Wussten Sie, dass …

Sergej Prokofjew sich, mit Ausnahme von Kirchenkompositionen, allen Gattungen der Musik gewidmet hat?

der exzellente Pianist sein eigenes Instrument mit konzertanten, solistischen und kammermusikalischen Werken reich versorgte?

Prokofjews erste Schallplattenaufnahme im Jahr 1932 dem 3. Klavierkonzert galt?

Hat Prokofjew seine Rückkehr in die Sowjetunion bereut?

Gut möglich, denn obwohl er seinen Stil mäßigte, geriet er ins Visier der KPdSU. Der am 23.4.1891 als Sergej Sergejewitsch Prokofjew in der Ukraine geborene Sohn eines Gutsverwalters verfasste schon mit fünf Jahren seine ersten Kompositionen und wurde bereits mit zwölf Jahren am St. Petersburger Konservatorium aufgenommen. 1918 entschloss sich Prokofjew aufgrund der unsicheren politischen Lage nach der Oktoberrevolution, ins Exil zu gehen, und gelangte nach Station in den USA 1920 nach Paris. Ab 1927 reiste er als Pianist bzw. Dirigent regelmäßig nach Moskau, wohin er 1936 schließlich zurückkehrte. Hier entstanden viele seiner bekanntesten Werke wie »Peter und der Wolf« (1936) und die Oper »Krieg und Frieden« (1941). Prokofjew starb am 5.3.1953 in Moskau.

Armstrongs Hot Five, Hot Seven: Der Jazz gelangt zu Weltruhm

In welchem Milieu wuchs Louis Armstrong auf?

Louis Armstrong (1901–1971), dessen markante Stimme, klarer Ton und ausgelassenes Temperament den Jazz um 1925 weltweit populär machten, kam aus New Orleans; seine Eltern stammten vom Land. Die Mutter war von den Zuckerrohrfeldern Louisianas in die Hafenstadt am Mississippi gezogen. Der Vater kam aus St. Charles Parish und verließ die Familie bereits kurz nach der Geburt des kleinen Louis am 4. August 1901. So wuchs der Junge in einem Wechselbad der Lebensanschauungen auf: Auf der einen Seite versuchte ihn seine streng katholische Großmutter Josephine auf den rechten Weg zu bringen, auf der anderen Seite lockten die Klänge des in der Nachbarschaft gelegenen Vergnügungsviertels Storyville mit seinen Bars und Bordellen.

Wie begann Armstrongs musikalische Laufbahn?

Sie begann mit einem Desaster. In der Silvesternacht 1912/13 hatte der übermütige Junge mit einem Revolver in die Luft geschossen. Daraufhin wurde er in ein Erziehungsheim gesteckt, was einerseits militärische Schikane bedeutete, aber andererseits auch die Chance auf einen weiterführenden Unterricht bot. Der Junge, der mit Singen auf der Straße gelegentlich ein paar Cents verdient hatte, wurde von Peter Davis systematisch in das Kornettspiel eingeweiht. Armstrong fand Spaß an dem Instrument und trieb sich nach seiner Entlassung oft in Storyville herum, um den damals populärsten Kornettisten der Stadt, King Oliver, zu hören und dessen Musik zu imitieren. Zwischen den beiden entstand eine Zweckfreundschaft, die dazu führte, dass er 1917 Olivers Platz in der Band von Kid Ory übernehmen durfte.

Wo spielte der Kornettist in den 1910er Jahren?

Mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg wurde New Orleans als Militärstützpunkt reaktiviert und das Vergnügungsviertel Storyville geschlossen. Hunderte arbeitsloser Musiker wanderten auf der Suche nach Jobs die Flüsse entlang; Armstrong kam in Showbands auf Mississippi-Dampfern unter. Er lernte bei Fate Marables, dann bei Oscar Celestin und Zutty Singleton. Mit Talent und Beobachtung entwickelte er einen charakteristischen, brillanten, kraftvollen und melodisch einfallsreichen Sound und Stil. Stars wie Bessie Smith, Ma Rainey und Fletcher Henderson wurden auf ihn aufmerksam. An ihrer Seite wurde der Kornettist aus New Orleans zum Aufsteiger der frühen Jazz-Zwanziger.

Wer gab Armstrong den entscheidenden Anstoß?

Kurz nach der Trennung von seiner ersten Frau Daisy lernte Armstrong die Pianistin Lilian »Lil« Hardin kennen. Sie spielte bei King Oliver, bei dem der Trompeter sich wieder verdingt hatte. Aus der Freundschaft wurde 1924 eine Ehe. Hardin nahm sich vor, ihren trotz des einsetzenden Erfolges schüchternen und ein wenig ungehobelten Mann aus dem Schatten Olivers herauszuholen. Beruflich erfolgreich und unabhängig, konnte sie Louis über Durststrecken hinweghelfen. Als es Unstimmigkeiten in der Oliver-Band gab, schlug sie vor, eine eigene Combo zu gründen.

Wie gelang der endgültige Durchbruch?

Ende 1925 entstanden die »Hot Five« mit Louis, Lil, dem Posaunisten Kid Ory, dem Klarinettisten Johnny Dodds und Johnny St. Cyr am Banjo – eine ungewöhnliche Formation, zugeschnitten auf die Bedürfnisse des Plattenstudios. Lil hatte den Kontakt zu Okeh hergestellt, dem führenden Label für (schwarze) »race records«. Zwischen Februar 1926 und Dezember 1928 entstanden fünf Dutzend Aufnahmen mit den »Hot Five« und den »Hot Seven« (Pete Briggs/Tuba, Barry Doddy/Schlagzeug), die Jazzgeschichte schrieben.

Wie wurden die Stücke eingespielt?

Die Produktionsbedingungen waren simpel. Okeh rief bei den Musikern an und engagierte sie für einen Termin. In der Regel wurden vier Stücke archiviert. Jeder Beteiligte bekam 50 Dollar auf die Hand, um den Rest kümmerte sich anschließend das Label. Zunächst verwandte Okeh wenig Mühe auf die Aufnahmen. Erst als sich Armstrongs Erfolg abzeichnete, ging man sorgfältiger vor. Bis zum 27. November 1926 wurden 26 Lieder der »Hot Five« festgehalten (darunter »Cornet Chop Suey«, »Muskrat Ramble«), bis Mai 1927 folgten weitere elf mit den »Hot Seven« (darunter »Potato Head Blues«, »Wild Man Blues«). Der Rest entstand bis zum 5. Dezember 1928 wieder zu fünft (darunter »West End Blues«, »Basin Street Blues«).

Worauf gründete sich der überwältigende Erfolg?

Für die Zeit ungewöhnlich klar war der Sound der unüblichen Besetzung, der die traditionellen Stilelemente aus New Orleans mit der freieren Gestaltung der Chicago-Szene verband. Armstrong selbst entwickelte sich innerhalb dieser zwei Jahre vom versierten Satzspieler zum hervorragenden Solisten mit den für ihn typischen Hochtonkaskaden. Auch wenn der Erfolg mit Einsetzen der Rezession zunächst stagnierte, wurden diese Aufnahmen zum Fundament von Armstrongs Weltruhm.

Wussten Sie, dass …

Louis Armstrong sich ein Jahr älter machte, als er war? Er gab als Geburtsdatum bis zu seinem Tod stets den 4. Juli 1900 an. Ein Grund für die »Zahlenkosmetik« dürfte gewesen sein, dass er so eher Zutritt zu den Bars von Storyville hatte. Der 4. Juli dagegen ist der Nationalfeiertag der Vereinigten Staaten.

Duke Ellington: Heißer Swing und opulente Orchesterwerke

Woher nahm Ellington seine Inspiration?

Duke Ellingtons (1899–1974) Kreativität hing eng mit Menschen, Begebenheiten oder Einflüssen von außen zusammen. So komponierte er speziell für Solisten seiner Orchester, wie »Clarinet Lament« (1935/36) für Barney Bigard oder »Echoes Of Harlem« (1936) für Cootie Williams. Er verarbeitete einschneidende Erlebnisse wie den Tod der geliebten Mutter in »Reminiscing in Tempo« (1935). Er verwirklichte auch große Auftragswerke wie die 45-minütige Suite »Black, Brown And Beige« (1943), mit der er eine klangliche Parallele zur Geschichte der Afroamerikaner schreiben wollte. Ellington beschränkte sich dabei nicht auf Komposition und Arrangement, sondern sorgte für die komplette Gestaltung eines Stücks von der Idee bis zur Plattenaufnahme oder zum Bühnenauftritt.

Hits am laufenden Band?

Ja. Ellington war zwar keiner, der sich regelmäßig zum Komponieren hinsetzte, aber wenn ihn die Muse küsste oder ganz einfach ein neues Stück gebraucht wurde, war er ungeheuer produktiv. So entstanden »East St. Louis Toodle-Oo«, »Black And Tan Fantasy« und »Birmingham Breakdown« im Winter 1926/27, »Dear Old Southland«, »Stompy Jones«, »Daybreak Express« und »Solitude« im Dezember 1933 und im Januar 1934 oder »Concerto For Cootie«, »Cotton Tail« und »Ko-Ko« in nur zwei Monaten des Jahres 1940.

Ernster Künstler oder Entertainmentprofi?

Ellington war in erster Linie Funktionsmusiker. Er schrieb mit Ausnahme seiner Suiten und geistlichen Werke nicht um der Kunst willen, sondern für den Gebrauch in Clubs, im Radio, im Film oder auf der großen Bühne. Obwohl selbst ein virtuoser und eigenwilliger Pianist, war sein eigentliches Instrument das Orchester, mit dem er Stimmungen, Rhythmen und Klangfarben ausprobieren konnte. Über beinahe fünf Jahrzehnte hinweg versammelte er herausragende Musiker in seinem Ensemble, die wie der Bassist Jimmy Blanton in kurzer Zeit vieles verändern konnten oder wie der Altsaxofonist Johnny Hodges durch Kontinuität den besonderen Sound der Big Band gewährleisteten.

Was war Ellingtons Verdienst als Orchesterleiter?

Mit der Band »The Washingtonians« überwand er den traditionellen Chicago- und New-Orleans-Jazz; Zeugnis davon sind frühe Aufnahmen wie »Creole Love Call« (1927). Ellington hatte seinen ersten wichtigen Job 1923 bei den »Washingtonians« bekommen. Nach und nach übernahm er die Leitung der Band und baute sie zu seinem Orchester aus. Ende 1927 begann sein Engagement im legendären New Yorker Cotton Club. Die Abende teilten sich in »Dschungel-Stücke« mit exotischem Flair, atmosphärische »Mood-Songs«, Swing-Tanznummern und Blues-Derivate. Ellington komponierte Hits wie »Mood Indigo« (1930) und Klassiker wie »Solitude« (1933).

Was brachten die 1940er?

Einen wichtigen Produktivitätsschub, als sich der Arrangeur, Pianist und Komponist Billy Strayhorn (1915–1967) Anfang der 1940er Jahre dem Orchester Ellingtons anschloss. Er blieb bis zu seinem Tod Duke Ellingtons zentraler Ansprechpartner, schrieb Lieder wie »Chelsea Bridge«, »Johnny Come Lately«, »Blood Count« und verhalf 1941 dem Orchester mit »Take The A Train« zu einer echten Erkennungshymne. Ebenfalls in den 1940er Jahren entdeckte Ellington die große Form für sich, die er etwa mit dem Musical »Jump For Joy« und konzertanten Werken wie »Black, Brown And Beige«, »Deep South Suite«, »Blue Bells Of Harlem« und »Liberian Suite« pflegte.

Wie sah Ellingtons Spätwerk aus?

Nach der Big-Band-Flaute der Nachkriegsjahre gelang ihm im Jahr 1956 beim Festival in Newport mit »Crescendo And Diminuendo In Blue« ein überraschendes Comeback. In der Folgezeit komponierte Ellington Soundtracks für so bekannte Filme wie »Anatomie eines Mordes« (1959) und Suiten wie »The Far East Suite« (1966), präsentierte sich 1962 dann aber auch als geläuterter Modernist im Trio mit dem Bassisten Charles Mingus und dem Schlagzeuger Max Roach.

Seine späten geistlichen Werke, wie die drei »Sacred Concerts« (1965, 1966 beziehungsweise 1973) wurden ergänzt durch Ballettmusiken wie »The River« und opulente Orchesterwerke wie »Murder In The Cathedral« und »La Plus Belle Africaine«. Die Uraufführung des dritten »Sacred Concerts« im Oktober 1973 in der Londoner Westminster Abbey war ein letzter musikalischer Kraftakt.

Wussten Sie, dass …

Duke Ellington zu den produktivsten Musikern des Jazz gehörte? Je nach Art der Zählung hat er zwischen 3000 und 5000 Kompositionen geschrieben, davon zählen etwa »In A Sentimental Mood«, »Sophisticated Lady« oder »It Don't Mean A Thing (If It Ain't Got That Swing)« zu den bekanntesten amerikanischen Standards.

Duke Ellington – Musikalischer Hochadel?

Der Name deutet darauf hin. Edward Kennedy Ellington wurde aufgrund seiner »aristokratischen« Ausstrahlung schon als Jugendlicher »Duke« (Herzog) genannt. Geboren wurde er am 29. April 1899 in Washington in einfache Verhältnisse, die Eltern legten aber eine ambitionierte Haltung an den Tag. Seine professionelle Laufbahn startete er mit 17, mit 24 gründete er in New York die »Washingtonians« und spielte in verschiedenen Clubs. Durch die regelmäßigen Radioübertragungen aus dem »Cotton Club« erlangte er große Popularität. In den 1930er und 1940er Jahren folgten ausgedehnte Touren durch die USA und Europa. Als der Stern des Swing allmählich zu sinken begann, wandte er sich verstärkt klassischen Formen zu. Ellington starb hochgeehrt am 24. Mai 1974 in New York.

Schönbergs Zwölftonmusik: Von freier zu gebundener Atonalität

Was ist so revolutionär an Schönbergs Musik?

Arnold Schönbergs (1874–1951) Form von neuer Musik – Atonalität und daraus folgend die Zwölftontechnik – zerbricht jede Harmonie, löst jede tonale Bindung auf, so wie sich in der Malerei das Gegenständliche auflöst. Sie provoziert in ihrer revolutionären Ausdrucksgestik Hörerlebnisse, deren Verständnis sich das Publikum, fern jeder Kulinarik, geduldig erarbeiten muss.

Wie war das Echo in der Öffentlichkeit?

Die Kritik reagierte so unterschiedlich wie das Publikum in der Berliner Philharmonie bei der Uraufführung der »Variationen für Orchester« von Arnold Schönberg am 2. Dezember 1928. Von »Empörung über die erlittenen Qualen« und der »musikalischen Mathematik eines von einer verstiegenen Idee Besessenen« sprach man, andere rühmten »die Fantasie, mit der sich Schönberg seine eigene Welt aufbaut«, und erklärten trotzig: »Die Hörer sind es, die sich als Prüflinge fühlen müssten, ob sie vor dem Werk bestehen.« Kein Zweifel, dieses op. 31, Schönbergs erste zwölftönige Orchesterkomposition, war in jeglichem Sinne »unerhört«.

Was versteht man unter freier Atonalität?

Freie Atonalität heißt: Der Gegensatz zwischen Konsonanz und Dissonanz wird durch ein Kontinuum von verschiedenen Sonanzgraden aufgehoben, der Bezug auf einen Grundton geht verloren, womit neue Ausdruckswerte freigesetzt werden; Töne und Klänge stehen in einer neuen, nicht wiederholbaren Beziehung. Schönberg kam etwa ab 1907 zur freien Atonalität, indem er die Spätromantik gleichsam zu Ende dachte, unter anderem in seinen »Gurre-Liedern«. Wie kein Zweiter hat Arnold Schönberg zu Beginn des 20. Jahrhunderts diesen Prozess in Gang gesetzt und vorangetrieben, und zwar mit einer Radikalität, die sich weder von Diffamierung noch von Ausgrenzung beeindrucken ließ.

Wie gelang der Übergang von der freien zur gebundenen Atonalität?

Durch die Zwölftontechnik. Zunächst waren, wie Schönberg notierte, »alle Schranken einer vergangenen Ästhetik durchbrochen«– und alle Fragen der neuen musikalischen Ästhetik ungelöst. Wie sollte die freie Atonalität die traditionellen Formstrukturen der Tonalität ersetzen? Wie sollten sich in dieser Art neuer Musik sinnstiftende Zusammenhänge entwickeln lassen? 1923 gab Schönberg mit der Zwölftontechnik (Dodekaphonie) die Antwort. Kompositionen »mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen« überführten die freie Atonalität in eine gebundene. Das geistige Zentrum dieser neuen Musik war unter Schönbergs Patronat die so genannte Zweite Wiener Schule mit Alban Berg, Anton von Webern und Egon Wellesz als ihren Hauptvertretern.

Wie funktioniert die Zwölftontechnik?

Jeder in Zwölftontechnik komponierten Partitur liegt eine Reihe zugrunde, die jeden Ton der zwölfstufigen temperierten Tonleiter in beliebiger Oktavlage einmal enthält. Auswahl und Anordnung einer Reihe stehen im Belieben des Komponisten. Da jeder der zwölf Töne der Tonleiter zum Ausgangspunkt einer Reihe werden kann, ergeben sich zwölf Reihen, von denen jede einzelne wiederum vier Erscheinungsmöglichkeiten (Modi) hat – Originalgestalt, Umkehrung, Krebs und Krebsumkehrung –, sodass insgesamt 48 Reihenformen möglich sind. Funktion einer Reihe ist es, die Einheitlichkeit und Zusammenhänge einer Komposition und damit ihre Struktur zu gewährleisten. Deshalb werden alle Themen, Motive, Klänge aus der gewählten Reihe abgeleitet. Dabei bestimmt die Idee der Komposition in gleichem Maße die Wahl der Reihe, wie die Reihe die Komposition bestimmt.

Wie sind die »Variationen für Orchester« angelegt?

Aus einer Introduktion entwickelt sich das Variationsthema, das sich aus verschiedenen Motiven zusammensetzt, unter anderem einem B-A-C-H-Motiv, das als Hommage an den zeitlebens verehrten Barockmeister gewählt ist. Der Exposition des 24-taktigen Themas, in der die Reihe in ihren vier Erscheinungsformen erklingt, folgen neun Variationen sowie ein Finale. Diese Variationen unterscheiden sich rhythmisch und klanglich beträchtlich, wobei die Besetzung zwischen großem Orchester und kammermusikalischen Ensembles wechselt. Erst im Finale entfaltet das B-A-C-H-Motiv der Introduktion und der zweiten Variation seine volle Wirkungskraft. Es wird rückläufig und transponiert verwendet, mit anmutigen Grazioso-Motiven kombiniert und als Umkehrkanon vorgestellt.

Warum ist nicht das Wie, sondern das Was wichtig?

Weil die »Machart« nicht die künstlerische Qualität erschließt, so kompliziert und komplex sich eine Partitur auch ausnimmt. Arnold Schönberg wurde denn auch nicht müde zu betonen, dass es ganz allein darauf ankomme, »was es ist!!«. Was aber ist es, dieses Werk? Ganz unzweifelhaft ein Mirakel an polyphonen Bezügen, in denen sich der Gestaltungsreichtum eines schöpferischen Geistes auf neue, ungewohnte Weise offenbart.

Wussten Sie, dass …

Schönberg eine Spielvariante für vier Schachspieler mit einem erweiterten Brett und 36 Figuren entwickelte?

der Begriff »atonal« nicht auf Schönberg zurückgeht? Er selbst lehnte ihn ab und zog »atonikal« vor.

War Arnold Schönberg ein Universalgenie?

Die Palette von Arnold Schönbergs Begabungen war breit gefächert: neben seiner kompositorischen Tätigkeit malte er und versuchte sich auch als Erfinder. Schönberg wurde am 13.9.1874 in Wien geboren. Er nahm zwar Kompositionsunterricht, brachte sich seine Kenntnisse aber weitgehend autodidaktisch bei. Waren seine Anfänge noch spätromantisch geprägt, so sind seine Werke ab etwa 1908 in das traditionelle Dur-Moll-System nicht mehr einzuordnen. Nach einer Phase der freien Atonalität entwickelte er 1923 mit der Zwölftonmusik ein neues kompositorisches Regelwerk, das in der Folgezeit von Schülern begeistert aufgenommen wurde. 1933 emigrierte er als Jude über Paris in die USA, wo er weiter komponierte und unterrichtete. Er starb am 13.7.1951 in Los Angeles.

Gershwins Porgy and Bess: Oper mit amerikanischem Pulsschlag

Warum ist »Porgy und Bess« die erste wirklich amerikanische Oper?

Weil der dramatische Impuls der Volksoper »Porgy and Bess« (1935) von George Gershwin (1898–1937) weder die Musik des Broadways noch die der Jazzclubs verleugnet. Es entsteht ein spezifisch amerikanischer Tonfall, dessen symphonischem Gestus die Rhythmik der Südstaaten die neue Grundlage gab.

Ein musikalischer Grenzgänger?

Das war Gershwin sicher, kein anderer Komponist hat die Klaviaturen der so genannten E- und U-Musik gleichzeitig derart meisterhaft beherrscht wie er. Stets wird sein Name genannt, wenn man auf das Widersinnige dieser Unterscheidung zu sprechen kommt. Symphonisch denken zu können, ohne den Background der Revuen und Musicals zu verleugnen, war eine Begabung, die er mit seinen Welterfolgen wie der »Rhapsody in Blue«, dem Klavierkonzert in F und dem Tongedicht »An American in Paris« sinnfällig bestätigte.

Woher kam der Stoff für »Porgy und Bess«?

Aus dem Roman »Porgy« von Edwin Du Bose Heyward. Seit Gershwin ihn 1926 gelesen hatte, war er überzeugt, die Vorlage für eine Oper gefunden zu haben. Als Heyward sechs Jahre später das Libretto schrieb, assistierte ihm Ira Gershwin, der sich als Songschreiber für seinen Bruder schon vielfach bewährt hatte. Die Wahl des Milieus von »Porgy and Bess« war für die Hoch-Zeit der amerikanischen Rassendiskriminierung durchaus ungewöhnlich: die Catfish Row, das Viertel der »Gullahs« (ehemaliger Sklaven) in Charleston, South Carolina. Der Konflikt hingegen war klassisch opernhaft: eine attraktive junge Frau zwischen drei rivalisierenden Männern.

Woher kannte Gershwin das Schwarzen-Milieu?

Um die musikalische Atmosphäre und die Lebensbedingungen der schwarzen Bevölkerung in den Südstaaten zu studieren, verbrachte der Komponist den Sommer 1934 in der Nähe von Charleston, dem Schauplatz seiner Oper, die in den Jahren 1934 und 1935 entstand. Zum ersten Mal aufgeführt wurde sie schließlich am 10. Oktober 1935 im New Yorker Alvin Theatre.

Eine Werk in der Tradition Puccinis?

Zumindest im Hinblick auf die Realistik von »Porgy and Bess«. Sie erinnert an den italienischen Verismo und bietet Szenen, die auch einen Puccini interessiert haben könnten: die leichtlebige Bess, die vor ihrem gewalttätigen Liebhaber Crown flieht und doch nicht von ihm loskommt; der verkrüppelte Porgy, der Bess aus Liebe beschützt; Crown, der beim Würfeln einen Mitspieler erschlägt; der zynische Rauschgifthändler Sporting Life, der Bess beharrlich nachstellt; Porgy, der den Rivalen Crown tötet, dann aber entdecken muss, dass seine angebetete Bess ausgerechnet mit diesem Sporting Life nach New York auf und davon ist; schließlich Porgys Abschied von der Heimat, um die Geliebte in einer fernen, fremden Welt zu suchen.

Steht die Oper in der Nachfolge Mussorgskis?

Auf diese Traditionslinie verweist der dramaturgischen Aufbau dieser durchkomponierten Oper. Er erinnert eher an Mussorgskis »Boris Godunow«. Denn auch hier ergänzen eindrucksvolle Volksszenen gleichgewichtig den roten Faden der Handlung, die sich aus dem Alltag entwickelt. Kollektiver Aberglauben, Furcht vor den Naturgewalten, religiöse Inbrunst, Ergebenheit in die Unberechenbarkeit des Schicksals, Mut zum Leben, Humor und Tanz werden zu konstitutiven Elementen einer Handlung, deren Kontrastreichtum im Pulsschlag der Musik erkennbar wird.

Sind die volkstümlichen Elemente nur Dekoration?

Sicher nicht, denn Dramatik und Lyrik bestimmen nicht nur das Spannungsfeld der Protagonisten, sondern auch der Volksszenen. Dass Gershwin sich nicht mit folkloristischer Kolorierung begnügt, sondern sich durch Stilisierung die Musik der Gospelsongs und Spirituals anverwandelt und damit seiner eigenen Erfindungskraft vertraut, verrät seine kompositorische Sicherheit. Der Aufbau des motivischen Beziehungsgeflechts und der Einsatz auch ungewohnter orchestraler Mittel beweisen ein großes dramatisches Gespür.

Genre mit Startschwierigkeiten?

Die erste amerikanische Oper entstand so spät, weil in der amerikanischen Musikkultur das Musical immer eine weitaus bedeutendere Rolle gespielt hat als Oper oder auch Jazz. Die wenigen Opernbühnen bevorzugten europäische Importe. Versuche, in dieser Gattung einen eigenständigen Stil zu entwickeln, kamen bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts über das Experimentierstadium kaum hinaus. So kommt es nicht von ungefähr, dass die erste amerikanische Oper von George Gershwin, der aus der Unterhaltungsmusik kam, geschrieben wurde.

Wie stieg Gershwin vom Einwandererkind zum Hollywoodstar auf?

George Gershwin wurde am 26.9.1898 als Jacob Gershowitz in eine russische Familie in New York geboren. 1910 kauften die Eltern ein Klavier für den zwei Jahre älteren Bruder Ira – später ein erfolgreicher Lyriker –, das aber bald George beanspruchte, der daraufhin professionellen Unterricht erhielt. 1918 gelang ihm mit »Swanee« der erste große Hit. 1924 komponierte er mit »Rhapsody in Blue« einen Orchester-Klassiker. Mit Ira produzierte er in rascher Folge eine Reihe von Broadway-Musicals wie »Lady Be Good« (1924) und »Funny Face« (1927), komponierte aber auch das Tongedicht »An American in Paris« (1928). 1930 ging das Duo nach Hollywood, in diese Zeit fällt die Entstehung von »Porgy and Bess« (1935). Gershwin starb am 11.7.1937 in Hollywood an einem Gehirntumor.

Orffs Carmina Burana: Eine szenische Kantate

Wie ordnete Orff sein musikalisches Schaffen ein?

Carl Orff (1895–1982) sah sich als Komponist des lebendigen Theaters. Theater verstand der Münchner vor allem als theatrum mundi, als Welttheater, das seine Wurzeln in der Antike hat und die ganze Welt als Bühne sieht, auf der die Menschen agieren. In Orffs eigenem »Welttheater« versammeln sich vier große Werkkomplexe: die ludi scaenici (Spielszenen), die Märchenstücke, das Bairische Welttheater und die Griechendramen. Hinzu kommt das Orff'sche Schulwerk, das weltweit die Musikpädagogik beeinflusste.

Was sind die »Carmina burana«?

Eine Lieder- und Gedichtsammlung, auf die Orff 1934 stieß. Der Sprachforscher Johann Andreas Schmeller (1785–1852) hatte sie nach einem Codex des Klosters Benediktbeuern unter dem Titel »Carmina burana« zusammengestellt. Vier Themenkreise – moralisch-satirische Dichtungen, Liebesgedichte, Vagantenlyrik und Spiele geistigen Inhalts – ordnen das Werk, das vorwiegend in spätmittelalterlichem Latein geschrieben ist, sich aber auch des Mittelhochdeutschen bedient und deutsch-lateinische sowie französisch-lateinische Mischgedichte vorstellt.

Wovon handeln die Lieder?

Das Spektrum der Motive reicht vom Sittenverfall, der Allmacht des Geldes, den Missständen in Staat und Kirche bis hin zu den verschiedenen Freuden des Lebens, in denen in derb-sinnlicher Manier das Fressen, Saufen, Huren und Spielen besungen wird. Auch zahlreiche Frühlings-, Liebes- und Tanzlieder hat dieser Codex überliefert und bietet so in Schmellers sorgfältiger Edition nicht nur ein anschauliches Zeitzeugnis mittelalterlichen Lebensgefühls, sondern auch ein Spiegelbild der menschlichen Seele jenseits aller zeitlichen Eingrenzung.

Wie gliedert sich die Komposition?

Orff traf für die »Carmina Burana« eine Auswahl von 24 Gesängen. Der bekannte Fortuna-Chor bildet als Einleitung und Schluss gleichsam den Rahmen des gesamten Werks. Denn alles, was geschieht, geschieht im Namen der Fortuna, jener Glücks- und Schicksalsgöttin, deren Rad das Auf und Ab im Lebensgang der Menschen symbolisiert. Die Gesänge sind in vier Abschnitte unterteilt: Primo vere (Frühling), Uf dem anger (Auf dem Anger), In taberna (In der Schenke), Cour d'amour (Liebesreigen). Damit ist das szenische Tableau für Sopran, Tenor, Bariton und Chor bestimmt. Die »Carmina burana« sind »ein Hymnus an die Lebenslust, eine chorische Frühlings- und Liebesfeier, ein Lobgesang auf die freudenreiche Welt«, so der Kritiker Karl Heinz Ruppel.

Welche Struktur hat Orffs Musik?

Orffs Musik folgt einfachen Melodie- und Rhythmusprinzipien. Sie vermeidet komplexe Polyphonie, also Mehrstimmigkeit, strebt eine eingängige Melodik an, betont in den Chorsätzen das Deklamatorische, verschmäht aber auch nicht die Wirkung arienhafter Sologesänge. Der beabsichtigte Primitivismus im Melodischen und Rhythmischen ist bei aller sorgfältigen Differenzierung Ausdruck des Kultischen und Volkstümlich-Tänzerischen. Vielleicht ergibt der überzeitliche Bezug, der aus dieser mittelalterlichen Lebenswelt erwächst, in Verbindung mit der orchestralen Archaik jene Mischung, die ein Meisterwerk wie die »Carmina burana« entstehen ließ.

Wussten Sie, dass …

die »Carmina burana« mit ihren mehr als 250 Gedichten und Gesängen als die umfangreichste Sammlung weltlicher Lyrik des 13. Jahrhunderts gelten? Verfasst wurden diese »Lieder aus Benediktbeuern« von Deutschen, Franzosen, Italienern und Engländern.

Carl Orff bei seinen »Carmina burana« das traditionelle Orchester um zwei Klaviere, ein Celesta genanntes Glockenspiel mit Tastatur sowie ein sehr umfangreiches, vielfältiges Schlagwerk ergänzte?

Für was steht der Name Carl Orff?

In der Musik für die »Camina burana«, in der Pädagogik für musikalische Früherziehung. Carl Orff, der am 10. Juli 1895 in München das Licht der Welt erblickte, erhielt früh Klavier-, Cello- und Orgelunterricht. 1913 bis 1914 studierte er an der Akademie für Tonkunst in München, komponierte bereits nebenbei. 1924 gründete er mit Dorothee Günther die »Güntherschule«, wo er das »Orff-Schulwerk« (1930–1935) schuf. Sein populärstes Werk, die szenische Kantate »Carmina burana« (1937), verkoppelte er 1953 mit den »Catulli carmina« (1943) und den »Trionfo di Afrodite« (1953) unter dem Gesamttitel »Trionfi« zu einem dreiteiligen theatralischen Gemälde. Orff starb am 29. März 1982 hochgeehrt in München.

Bartóks Violinkonzert Nr. 2: Tradition und Variation

Unter welchen äußeren Umständen entstand das zweite Violinkonzert?

Das Violinkonzert entstand 1938, in einer für den Komponisten Béla Bartók (1881 bis 1945) äußerst unsicheren und belastenden Zeit. Es ist das letzte Instrumentalkonzert, das er vor seiner Emigration in die USA komponierte. »Einen Sprung ins Ungewisse« nannte der Komponist den lange erwogenen und unter Skrupeln gefassten Entschluss, seine ungarische Heimat zu verlassen. Doch war es für ihn nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 an das Deutsche Reich nur eine Frage der Zeit, bis »sich auch Ungarn diesem Räuber- und Mördersystem ergibt«. Die Entscheidung, eine Lebenszäsur zu wagen, durfte aber seine alte, in Budapest lebende Mutter, die im Dezember 1939 starb, nicht unberücksichtigt lassen. Bis mit der Übersiedlung nach New York im Oktober 1940 der gordische Knoten durchgehauen wurde, bestimmten Ohnmacht und Zweifel, Selbstvorwürfe und Trauer die letzten europäischen Jahre des Komponisten.

Warum verschlechterte sich Bartóks finanzielle Lage dramatisch?

Die politische Umwälzungen ließen wichtige Einnahmequellen des Komponisten versiegen. Nach dem Zusammenschluss der österreichischen und der deutschen Gesellschaft für Aufführungsrechte verlor Béla Bartók seine Tantiemen und gleich auch seinen Verleger, die Wiener Universal Edition. So kam zu dem politisch-moralischen Druck, der auf ihm lastete, auch noch eine verschärfte materielle Situation.

Erholte sich Bartók von den Schicksalsschlägen?

Nein, seine Gesundheit war bereits zu angegriffen. Bei der Uraufführung des Werks am 23. März 1939 in Amsterdam mit dem Concertgebouw-Orchester war der Komponist schon von Krankheit gezeichnet, er hörte sein Werk ein einziges Mal, am 14. November 1943 in der New Yorker Carnegie Hall. Heimatlosigkeit und ein zermürbender Existenzkampf kosteten ihn viel von seiner Lebensenergie. Unter Kennern war Bartóks Meisterschaft unbestritten, neue Werke wurden bestellt, doch breite künstlerische Anerkennung und kommerzieller Erfolg waren erst nach seinem Tod zu verzeichnen.

Welche Stilelemente aus der Vergangenheit verwendet das Konzert?

Das Violinkonzert wahrt die klassische Dreisätzigkeit ebenso wie die Tonalität, scheut weder Kantilenen noch Virtuosität nach Art der Romantik, übernimmt im ersten Satz die überlieferte Sonatenform und kombiniert sie im dritten mit einem Rondo. Die Tonsprache seiner Zeit weiterzuentwickeln, ohne die Tradition des 19. Jahrhunderts zu verleugnen – das gibt Bartóks Musik ihre Kontur und der gleichsam schwebenden Melodieführung ihre spezielle Aura. Es entsteht eine eigene Idiomatik, in der die musikalische Reflexion der Gegenwart mit Stilelementen der Vergangenheit verschmilzt.

Worüber stritten Auftraggeber und Komponist?

Mit Bartóks Grundidee, das Konzert als Variation zu strukturieren, vermochte sich der ungarische Geiger Zóltan Székely nicht anzufreunden. Der Komponist beließ es bei der herkömmlichen dreisätzigen Gliederung, mochte aber auf seine Idee nicht verzichten. Das Variationsprinzip wurde zum konstitutiven Bestandteil der Partitur. In herkömmlicher Art ist es im zweiten Satz zu beobachten, wo auf ein lyrisches, chromatisch gefärbtes Thema sechs Variationen folgen– ein Aufbau, der an den zweiten Satz in Prokofjews C-Dur-Klavierkonzert erinnert.

Was wurde aus Bartóks Idee der Variation?

Der Komponist brachte das Variationsprinzip, in einer anderen Form, in die Ecksätze ein, wobei die »Auflösung« dieser Technik erst im dritten Satz hörbar wird: Das Hauptthema des Finalsatzes stellt sich als Variation des im ersten Satz verwendeten Hauptthemas vor; auch das zweite Thema des ersten Satzes wird im Finale variiert und weiteres Motivmaterial des ersten Satzes im dritten Satz episodisch entwickelt. So wird die thematische Substanz des ersten Satzes zur Variante des Schlusssatzes. Und die kantable Faktur des Anfangs verwandelt sich im Finale ins Tänzerische. Das freilich ist eine Variationstechnik, die das herkömmliche Schema hinter sich lässt und die Gattung des Konzerts um eine neue Struktur bereichert.

War Béla Bartók nur an ernster Musik interessiert?

Nein, der am 25. März 1881 im ungarischen Banat (heute Rumänien) geborene Bartók besaß eine große Sammlung von Volksliedern, die er auf Reisen durch Ungarn, Rumänien, die Slowakei und den vorderen Orient gesammelt hatte. Den ersten Klavierunterricht erhielt er von seiner Mutter, ab 1899 studierte er in Budapest Klavier und Komposition. 1908 bis 1934 war er Professor an der Liszt-Hochschule in Budapest. 1940 übersiedelte er in die USA, wo er nur schwer Fuß fasste. Gleichwohl gehören das »Konzert für Orchester« (1943) und die »Sonate für Violine solo« (1944) neben der »Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta« (1936) und dem »Divertimento für Streichorchester« (1939) zu den Klassikern des 20. Jahrhunderts. Bartók starb am 26. September 1945 in New York an Leukämie.

Glenn Millers große Hits: Der Sound einer Zeit

Was war das Geheimnis von Glenn Millers Erfolg?

Der Schlüssel zur spektakulären Karriere von Glenn Miller (1904–1944) lag in der Erkenntnis, dass zum einen seine Band ein charakteristisches Klangbild benötigte, zum anderen die Arrangements der Lieder kompakt, klar strukturiert und dynamisch wirkungsvoll sein mussten. Miller entwickelte daher einen Bläsersatz, der die Farben einer Klarinette geschickt mit vier Tenorsaxofonen kombinierte, denen er wiederum drei, mit seiner eigenen vier Posaunen gegenüberstellte. Der Orchestersound war sanfter als bei Benny Goodman, deutlicher als bei Artie Shaw, zugleich kraftvoll und durch die Betonung des Two-Beat-Rhythmus zum Tanzen bestens geeignet.

Was machte »In The Mood« zu einem Hit?

»In The Mood«, eine Komposition von Joe Garland, gehörte bereits einige Zeit zum Repertoire von Artie Shaws Big Band, bevor Miller es adaptierte und umarbeitete. Er verkürzte es um mehr als die Hälfte, wiederholte das Eingangsmotiv immer wieder, blendete es weg, ließ es mit ganzer Kraft zurückkehren. Der Tenorsaxofon-Dialog zwischen Tex Beneke und Al Klink wurde kurz gehalten, der Fokus lag auf der Wirkung des Orchesters, nicht der Solisten. Das Konzept ging auf. Die Aufnahme von »In the Mood« vom 1. August 1939 wurde zum größten Hit der Swing-Ära.

Welchen musikalischen Hintergrund hatte Miller?

Alton Glenn Miller war ein Selfmade-Man. Geboren am 1. März 1904 in Clarinda, Iowa, zog er während seiner Kindheit mehrfach um. Jede der Stationen hinterließ Spuren in der Musikerbiografie. In Nebraska schenkte ihm sein Vater eine Mandoline, die er dann gegen ein Blasinstrument tauschte. In Missouri begann er, in der Stadtkapelle Posaune zu spielen. In Fort Morgan schließlich wurde er Mitglied der High School Band. Es folgten ein Studium an der Universität von Colorado, Privatstunden bei Joseph Schillinger, erste Jobs als Posaunist in den Orchestern von Ben Pollack (1924–1927), Paul Ash (1928) und Red Nichols (1929/30).

Wie begann der allmähliche Aufstieg?

Ab Mitte der 1920er Jahre war Glenn Miller bereits in New York und machte sich einen Namen als Studiomusiker für Benny Goodman (1929) oder auch für Frank Trumbauer (1934). Er wurde zunehmend als Arrangeur aktiv, bekam Aufträge von den Dorsey-Brüdern (1934), schließlich von Ray Noble (1935), dessen Orchester er organisierte und erfolgreich machte. So hatte Miller im Jahr 1937 genug Erspartes, um ein eigenes Ensemble aufzubauen, das aber mangels Erfolg nach wenigen Monaten wieder zerbrach. Erst der zweite Anlauf 1938 mit der bewusst veränderten Bläser-Sektion schaffte es, sich in der Gunst des Publikums nach vorne zu spielen.

Wie gelang der endgültige Durchbruch?

Zunächst spielte Miller mit seiner Band in diversen Ballsälen wie dem des Paradise Restaurant in Boston. Dann wurde das Orchester überraschend vom renommierten Glen Island Casino für die Sommersaison 1939 gebucht – der entscheidende Karriereschritt. Denn diese Monate genügten, um das Orchester perfekt abzustimmen und durch die Radioübertragungen aus dem Casino bekannt zu machen. Danach füllte das Orchester jeden Saal und konnte unter professionellen Bedingungen Platten aufnehmen.

Innerhalb weniger Jahre folgte ein Hit dem anderen: »In The Mood«, »Moonlight Serenade«, »American Patrol«, »Pennsylvania 6-5000«, »Chattanooga Choo-Choo«. Das Glenn Miller Orchester wurde zum bekanntesten Tanzensemble des Swings und spielte mehrere Filmmusiken ein.

Wie sah Millers Kriegseinsatz aus?

Nachdem Miller am 7. Oktober 1942 zur Armee einberufen worden war, absolvierte er die Grundausbildung im Eiltempo, um dann das Orchester der Luftwaffe aufzubauen und unermüdlich für die Truppenbetreuung zu arbeiten. Bei einem dieser Einsätze flog er am 15. Dezember 1944 bei schlechtem Wetter von England nach Paris mit einem Transportflugzeug, das jedoch nie am Zielort ankam. Es blieb mitsamt den Passagieren verschollen. Das Orchester spielte zunächst unter Ray McKinley, Jerry Grey und Tex Beneke weiter und existierte später unter Aufsicht des Glenn Miller Estate mit verschiedenen Leitern fort.

Wie oft erschien Glenn Miller in den Top Ten?

Von 1939 bis 1942 schaffte es das Glenn Miller Orchestra, 70-mal in den Top Ten der US-Hitparaden zu erscheinen. Unter den 31 Bestsellern des Jahres 1940 waren Schellacks wie »Tuxedo Junction«, von dem allein in der ersten Woche nach der Veröffentlichung 115000 Exemplare über den Ladentisch gingen. Miller selbst gehörte damals mit einem Wocheneinkommen von 20000 Dollar zu den Großverdienern der Unterhaltungsbranche, was ihn aber nicht davon abhielt, ständig neue Stücke zu schreiben oder zu arrangieren.

Wussten Sie, dass …

Miller 1943 mit seinem Armeeorchester innerhalb nur eines Jahres rund 800 Konzerte zur Truppenbetreuung gab, davon etwa 300 auf der Bühne, die übrigen in Radiosendungen?

sich um Millers Tod viele Spekulationen rankten? Von dem inoffiziell gestarteten Flugzeug und seinen drei Insassen fehlte jede Spur. Unklar bleibt, warum Miller, der schreckliche Flugangst hatte, trotz widriger Umstände in die Maschine stieg.

Schostakowitschs 7. Symphonie: Autonome Kunst in der Diktatur

Aus welchem Antrieb entstand die Siebte Symphonie?

Die Leningrader Symphonie, wie Dimitrij Schostakowitschs (1906–1975) 7. Symphonie genannt wird, war Schostakowitschs künstlerische Reaktion auf die 900 Tage währende Blockade seiner Heimatstadt Leningrad von September 1941 bis Januar 1944 – eine Programmsymphonie über Kampf und Sieg als Antwort auf den deutschen Faschismus. Einige Kritiker schwärmten sogar von einer neuen »Eroica«. Die Symphonie ist ein auf Massenwirkung berechnetes musikalisches Dokument des Zweiten Weltkriegs.

Wie hat Schostakowitsch unter Stalin gelitten?

Was Zwang und Unterdrückung einer brutalen Diktatur für das Schaffen eines Komponisten bedeuten, hatte Schostakowitsch während der berüchtigten Säuberungswelle von 1936 erfahren müssen, als Stalin die Sowjetunion mit terroristischen Schauprozessen heimsuchte. Nachdem der rote Zar über die geniale und zudem überaus erfolgreiche Oper »Lady Macbeth von Mzensk« in einem »Prawda«-Artikel den Stab hatte brechen lassen, verschwand der Name des Komponisten sofort aus den Spielplänen. Der oberste Kunstrichter hatte gesprochen: »Chaos statt Musik.«

Entstand die Siebte wirklich in Leningrad?

Schostakowitsch begann seine 7. Symphonie während seines Einsatz als Brandwache in seiner Heimatstadt Leningrad zu schreiben. Die Komposition stand ganz unter dem Eindruck der barbarischen Folgen der deutschen Kriegsblockade. Als er den vierten Satz in Angriff nahm, wurde er Anfang Oktober gegen seinen Willen samt Familie evakuiert, zunächst nach Moskau, anschließend nach Kuibyschew am Ural, wo er die Partitur am 27. Dezember 1941 beendete.

Neun Wochen später – am 5. März 1942 – fand dort die Uraufführung statt, da es auch das Orchester des Moskauer Bolschoi-Theaters an den Ural verschlagen hatte. Der Erfolg breitete sich wie ein Sturmwind über die Sowjetunion aus, doch auch im verbündeten und neutralen Ausland trat die Leningrader Symphonie rasch ihren Siegeszug an.

Wie schlug sich die Kriegserfahrung nieder?

Der Komponist verarbeitete sie nach eigener Aussage in einer »Invasionsepisode«, in der die Musik die »hässliche Fratze des Faschismus« zeichne. Dafür verzichtet er im ersten Satz auf die traditionelle Sonatendurchführung; stattdessen lässt er dem Haupt- und Seitenthema »eine neue Mittelepisode«, ein drittes Thema, folgen, das in elf Variationen »durchgeführt« wird; das vom Ostinato der kleinen Trommel unterlegte Marschthema weitet sich im Verlauf der Variationen, ähnlich Ravels »Bolero«, von banaler Schlichtheit zu einer facettenreichen Klangekstase aus. Ist das der Sturm der Hitler-Truppen?

Wurden die Erwartungen Stalins erfüllt?

Im Taumel kollektiver Begeisterung erhielt Schostakowitsch im Jahr 1942 für die »Leningrader« den Stalin-Preis ersten Grades, doch als er dann 1948 ein zweites Mal in allerhöchste Ungnade fiel, klagte der oberste Kunstbüttel des Komponistenverbands, Tichon Chrennikow, in vorauseilendem Gehorsam, Schostakowitsch habe sich »viel tüchtiger erwiesen, um die unheildrohenden Gestalten des Faschismus und eine Welt subjektiver Reflexionen auszudrücken, als die heroischen Vorbilder unserer Gegenwart zu verkörpern«. Eine Programmsymphonie ist eben den Tücken der Interpretation ausgesetzt, vor allem dann, wenn sie unter kunstideologischem Diktat steht.

Handelt es sich nur um ein propagandistisches Auftragswerk?

Nein, die »Leningrader« besitzt überzeitliche Gültigkeit. Mag sie in der Kriegs- und Nachkriegszeit als Kampf- und Siegessymphonie begeistert haben, im Sinne absoluter Musik hat sie sich längst von den Platitüden des Sozialistischen Realismus befreit. Der programmatische Ansatz macht nur seine Beliebigkeit deutlich: Das Marschthema, ein geniales Crescendo, ließe sich nämlich durchaus auch als Hommage an den Kampf- und Siegeswillen der Roten Armee interpretieren. Viel interessanter als der zeitgebundene Inhalt ist die strukturelle Entwicklung des Themenmaterials, gerade weil sich Schostakowitsch in dieser Symphonie einer Tonsprache bedient, die sich an ein breites Publikum wendet.

Wussten Sie, dass …

Schostakowitsch nach der deutschen Invasion im Juni 1941 dreimal um seine Einberufung zur Roten Armee bat und dreimal abgewiesen wurde? Künstler waren für die Propaganda wichtiger als an der Front.

Schostakowitsch vorhatte, jedem Satz seiner 7. Symphonie einen Titel voranzustellen (1. Satz: Krieg, 2. Satz: Erinnerung, 3. Satz: Heimatliche Weiten, 4. Satz: Sieg)?

Welche Auswirkungen hatte der Stalinismus auf Schostakowitschs Werk?

Er schränkte die künstlerische Entfaltung des Komponisten massiv ein. Im Lauf seines Schaffens geriet Schostakowitsch immer mehr unter das Joch der stalinistischen Kulturpolitik, die er mit verstecktem Spott und unterschwelliger Ironie zu unterlaufen versuchte. 1934 wurde seine Oper »Lady Macbeth von Mzensk« mit großem Erfolg in Leningrad uraufgeführt, wegen dieses Werks fiel er 1936 in Ungnade. Zwischendurch konnte er sich kurzzeitig rehabilitieren, aber auch nach Stalins Tod 1953 geriet der Komponist immer wieder in Konflikt mit der kommunistischen Kulturdoktrin.

Geboren wurde Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch am 25. September 1906 in Sankt Petersburg. 1919 begann er ein Studium am dortigen Konservatorium. Abschlussarbeit war 1925 seine 1. Sinfonie f-Moll. Er starb am 9. August 1975 in Moskau.

Stockhausens Gesang der Jünglinge: Musik aus dem Mischpult

Was versteht man unter elektronischer Musik?

Elektronische Musik zu komponieren bedeutet, Klangmaterial zu Strukturen zusammenzusetzen (lateinisch »componere«), und zwar Klangmaterialien, die der Komponist mit Hilfe elektronischer Apparaturen wie Tongeneratoren synthetisch gewinnt, verarbeitet und auf einem Trägermedium fixiert. Mit der Wiedergabe über Lautsprecher wird die Vermittlerfunktion des Interpreten hinfällig. Keine Musik distanziert sich dermaßen radikal von den traditionellen Formen des Komponierens wie die elektronische Musik. Das Tonstudio wird gleichsam zum »Instrument«, das »bespielt« wird. Einer der Pioniere der elektronischen Musik ist Karlheinz Stockhausen (geb. 1928), der 1956 mit dem »Gesang der Jünglinge im Feuerofen« sein bekanntestes Werk dieser Art vorstellte.

Was war das Ziel der musikalischen Avantgarde?

Sie wollte zu Beginn der 1950er Jahre elektronische Klangräume erfassen und erforschen. Hier ging es nicht um überlieferte Techniken der Kunst, sondern um Technik als Kunstmedium. Das Mischpult des Tonstudios avancierte zur Schaltzentrale zwischen Idee, Experiment und Umsetzung. Das erste Studio dieser Art wurde 1951 in Köln beim NWDR (heute WDR) eingerichtet, das rasch seinen Ruf als »Mekka« der elektronischen Musik festigte.

Welche programmatischen Ansätze gab es?

Während sich in Frankreich die musique concrète darauf spezialisierte, Bandaufnahmen von Umweltgeräuschen aller Art zu einer Collage zu montieren, bevorzugte man in Deutschland dagegen abstraktes Material, das sich aus reinen Tönen wie zum Beispiel Sinusschwingungen, Geräuschen wie dem »weißen Rauschen«, Tongemischen und Impulsen gewinnen lässt. Mit beiden Ansätzen waren programmatische Gegensätze formuliert, deren Schärfe sich aber sehr rasch abnutzte und mittlerweile gegenstandslos geworden ist.

Worin besteht der Reiz der elektronischen Musik?

Das Einzigartige besteht in der Unwiederholbarkeit der entstehenden Klangwelt. Alles, was Tongeneratoren erzeugen und Filter weiterverarbeiten, was durch Rückkopplung, Transposition, Verhallung, Zerhackung, Übereinanderschichtung, Wiederholung und zeitliche Spreizung oder Stauchung transformierbar ist, dient als Baumaterial. Die Klangfarben traditioneller Instrumente liegen fest; die Klangfarben der elektronischen Musik müssen für jeden speziellen Anlass hergestellt werden, sind Teil variabler Parameter wie Tonhöhe, Tondauer, Lautstärke, Gruppencharakteristik, deren Mischungsverhältnis die unverwechselbare Eigenart der elektronischen Komposition bestimmt. Allein die Verarbeitung des Materials ist entscheidend, nicht das Material selbst.

Wie entstand der »Gesang der Jünglinge«?

Karlheinz Stockhausen war ab 1953 ständiger Mitarbeiter im Kölner Tonstudio und übernahm zehn Jahre später dessen Leitung. Nach ersten Versuchen mit »Studie I« und »Studie II« plante er eine Messe für elektronische Klänge und Stimmen, der er den »Gesang der Jünglinge im Feuerofen« aus den Apokryphen zum Buch Daniel zugrunde legte. Stockhausens Vorhaben bestand darin, die synthetischen Klänge und die gesungene Sprache zu einer Synthese zu führen. Er nahm sich vor, die von einer Knabenstimme gesungenen Texte durch Bearbeitung in ein gemeinsames Klangkontinuum mit den elektronischen Klängen einzuschmelzen.

Welche kompositorischen Mittel wurden verwendet?

Stockhausen schuf eine Art Klangfarbenskala, die auf verschiedenen Stufen zwischen den Extremen Klang/Vokal und Konsonant/Geräusch vermittelte. Die kompositorische Feinarbeit bestand nun darin, das gesungene Material bis in die Lautzusammensetzung hinein zu verändern. Das bedeutete konkret, dass er Worte, Silben, ja sogar Lautelemente in den Silben austauschte und dass er Sprach- und Klangelemente mischte. Darüber hinaus schuf er mit Hilfe des Multiplayback-Verfahrens chorische Wirkungen. Das Resultat sind verschiedene Grade der Textverständlichkeit, die zwischen reinem Klang und Sprache liegen.

Welche Reaktionen gab es auf den »Gesang der Jünglinge«?

Begeisterter Beifall und lautstark-radikale Ablehnung begleiteten die Uraufführung des »Gesangs der Jünglinge«, Stockhausens erstes geistliches Werk, das ursprünglich im Kölner Dom vorgestellt werden sollte, was allerdings vom erzbischöflichen Generalvikariat verweigert wurde. So mussten sich die Zuhörer für die revolutionären Klänge dieser ersten elektronischen Raummusik am 30. Mai 1956 mit dem Studio des Funkhauses begnügen.

Was macht das Stück zu einem geistlichen Kunstwerk?

Der permanente Austausch von Lauten und Klängen entspricht genau der geistlichen Textstruktur – was Kritiker allerdings nicht davon abgehalten hat, die Zerstörung des Textes zu monieren. Der »Gesang« besteht aus ständigen Wiederholungen der Versanfänge »Preise den Herrn« beziehungsweise »Jubelt dem Herrn« und stetig wechselnden Subjekten. Auch das Konzept der Raumkomposition, das heißt die Verteilung der Klänge auf fünf um die Zuhörer verteilte Lautsprecher, setzt den Gehalt der Dichtung, der im universalen Lobpreis Gottes besteht, um. Die Komposition ist ein geistliches Kunstwerk von hohem Rang, das in dieser Form allerdings nur außerhalb der Kirche »aufführbar« ist.

Wussten Sie, dass …

Stockhausen eine grafische Notation erfand, die dem ausführenden Musiker mehr kreativen Spielraum lässt als die herkömmliche Notenschrift?

unter den 70 Personen der Zeitgeschichte, die auf dem Cover des Beatles-Albums »Sergeant Pepper's Lonely Hearts Club Band« zu sehen sind, sich auch Stockhausen befindet?

Was waren wichtige Stationen in Stockhausens Laufbahn?

Karlheinz Stockhausen wurde am 22. August 1928 in Mödrath bei Köln geboren und studierte von 1947 bis 1951 an der Musikhochschule Köln Musikpädagogik und Klavier. Seither hat er als Komponist, Dirigent, Hochschuldozent und Verfasser einer Reihe von musiktheoretischen Schriften wichtige Anstöße für die Entwicklung der modernen Musik gegeben. Nach einem Ausflug in die serielle Musik – die auf Zahlen- und Proportionsreihen basiert – zu Beginn der 1950er Jahre verband ihn zwischen 1953 und 1998 eine intensive Zusammenarbeit mit dem Studio für Elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks. Er verschrieb sich dort ganz der elektroakustischen Musik und mit dem »Gesang der Jünglinge« entstand dort im Jahr 1955 auch sein bislang wohl bekanntestes Werk.

Elvis Presley: Der Rock 'n' Roll-Superstar

Was waren Elvis' erste musikalische Gehversuche?

Am Anfang seiner künstlerischen Laufbahn stand Elvis' Mutter Gladys, die sich aufopfernd um den Jungen kümmerte. Am 8. Januar 1935 in East Tupelo, Mississippi, geboren, wuchs er zum kleinbürgerlich geprägten, typisch amerikanischen Teenager heran. 1953 machte Elvis einen Schritt, der seine Zukunft bestimmen sollte. Er nahm im Studio von Sun Records in Memphis den Song »My Happiness« als Geburtstagsständchen für seine Mutter auf. Nach zähen Verhandlungen erhielt er von derselben Plattenfirma einen Vertrag. Im Frühjahr 1954 kam er mit Liedern wie »Blue Moon Of Kentucky« von Bill Monroe zu lokaler Berühmtheit. Er landete im August 1955 mit »I Forgot to Remember to Forget« sogar an der Spitze der Country-Charts, was ihm zum Vertrag bei der Plattenfirma RCA verhalf. Das war der Startschuss für die Weltkarriere. Im März 1956 sprang »Heartbreak Hotel« über Nacht auf Platz eins der amerikanischen Hitparade. Die Single verkaufte sich in kurzer Zeit eineinhalbmillionenmal.

Was machte Elvis zu einem Teenageridol?

Der Milchbart Presley riss mit zweideutigem Hüftkreisen, gestöhntem Gesang und neuem, mitreißendem Sound viele junge Leute aus dem prüden Dornröschenschlaf der McCarthy-Ära. Seine anzüglichen Bühnenshows ließ zahlreiche Eltern um die Keuschheit ihrer Kinder bangen ließ.

Mit seinem Manager »Colonel« Tom Parker gelang ihm die nahezu pausenlose Präsenz an der Spitze der Hitparaden (»I Want You«, 1956; »Hound Dog«, 1956; »Love Me Tender«, 1956; »Too Much«, 1957; »All Shook Up«, 1957; »Loving You«, 1957). Sogar seine Militärzeit in Deutschland (1958–1960) wurde zum Medienereignis. Mit Filmen wurde eine zweite Möglichkeit der Vermarktung etabliert (»Love Me Tender«, 1956; »Loving You«, 1957; »Jailhouse Rock«, 1957; »King Creole«, 1958; »G. I. Blues«, 1960; »Blue Hawaii«, 1961; »Girls! Girls! Girls!«, 1962). So stand Elvis entweder vor dem Mikrofon, auf der Bühne oder vor der Kamera und präsentierte sich als ideale, weil weitgehend reibungsfreie Projektionsfolie für (post)pubertäre Sehnsüchte und Ängste aller Art.

Wie veränderte sich die Szene in den 1960ern?

Der Rock 'n' Roll bekam jetzt Konkurrenz durch den Beat und weitere populäre Stile, vom Surf Sound der Beach Boys bis zu den herben Klängen eines Jimi Hendrix oder den intellektuellen und politischen Reflexionen von Bob Dylan. Presley blieb vor allem durch die Filme in den Medien präsent und schaffte Ende der Sechziger ein erstaunliches Comeback als Entertainer und TV-Star, der auf renommierten Show-Bühnen etwa in Las Vegas umjubelt wurde. Alben wie »From Elvis in Memphis« (1969) und »From Memphis To Vegas – From Vegas To Memphis« (1970) verkauften sich in altgewohnten Stückzahlen, Elvis selbst verwandelte sich in einen Paradiesvogel, der mit übertriebenem Outfit die alten und inzwischen glorreich harmlosen Zeiten des Rock 'n' Roll beschwor.

Wie sah der zweite Karrierehöhepunkt aus?

Seine Show »Aloha From Hawaii« wurde am 14. Januar 1973 unter immensem Werbeaufwand in alle Welt übertragen, etwa eine Milliarde Menschen schaute zu. Presley konnte nahezu jedes Honorar fordern. Der Öffentlichkeit präsentierte er sich als glamouröser Exzentriker, der sich mit Villen, großen Autos und verschwenderischem Gehabe jede Sympathie kaufen zu können glaubte.

Wie stand es um den privaten Elvis?

Im Privatleben zeigten sich die Schattenseiten seines Erfolges. Seine 1967 mit Pomp geschlossene Ehe mit Priscilla Beaulieu scheiterte nach sechs Jahren. Presley wurde zunehmend launischer und unberechenbarer und verfiel seiner Alkohol- und Tablettenabhängigkeit. Bei seinem Tod am 16. August 1977 – in der Badewanne seiner Villa »Graceland«, unter noch immer nicht geklärten Umständen – war er nur noch ein Wrack; finanziell hatte er alles erreicht, menschlich war er gescheitert.

Wie wurde Elvis zum Inbegriff des amerikanischen Traums?

Der Name Elvis Presley steht für eine beispiellose Karriere im Showgeschäft. Der Sohn eines Landarbeiters brachte es zum umjubelten Multimillionär, der im Lauf eines Vierteljahrhunderts rund 500 Millionen Platten verkaufte, für über 100 Singles und 40 LPs mit der goldenen Schallplatte ausgezeichnet wurde und in mehr als 30 Hollywoodfilmen als Hauptdarsteller zu sehen war. Presley verkörperte den Mythos vom Tellerwäscher, der es mit eigener Kraft schaffte, wurde aber auch zum Inbegriff des dekadenten Superstars.

Bob Dylans stilbildende Alben: Poet und Erfinder des Folkrock

Wie wurde der Junge aus der Provinz berühmt?

Den jungen Robert Zimmerman, der vom Rock'n'Roll eines Little Richard ebenso begeistert war wie von den Folksongs seines Vorbilds Woody Guthrie, hielt es nicht lange in seiner Heimat nahe der kanadischen Grenze. Nach dem erfolglosen Versuch, in der örtlichen Countryszene Fuß zu fassen, ging er 1961 nach New York, wo er sich die größten Chancen für eine Musikerkarriere versprach.

Der Schritt zahlte sich aus: Nachdem er unter dem Künstlernamen Bob Dylan – eine Hommage an den walisischen Poeten Dylan Thomas (1914–1953) – im Vorprogramm der Blues-Legende John Lee Hooker aufgetreten war, bekam er rasch einen Plattenvertrag. 1962 erschien seine Debüt-LP »Bob Dylan«.

Dieser Bob Dylan war anders, die Stimme brüchig-nasal, die Artikulation nachlässig. Er sah nicht gut aus, machte keine große Show, wirkte auch auf der Bühne in sich gekehrt, als ob er für sich und ein paar Freunde spielen würde. Doch dieser »andere« Stil traf den Zeitgeist. Der Junge aus der Provinz wurde fast über Nacht zu einem Star der Clubs im New Yorker Künstlerviertel Greenwich Village.

Wie stieg Dylan zum König der Liedermacher auf?

In den folgenden Jahren – bis zu einem schweren Motorradunfall im Juli 1966 – revolutionierte Bob Dylan die Popmusik. Hatte das Debütalbum noch weitgehend aus Folk-Klassikern bestanden, die nicht aus seiner Feder stammten, zeigte sein nächstes Album »The Freewheelin' Bob Dylan« (1964), dass Dylan nicht nur ein charismatischer Vortragskünstler war, sondern vor allem ein genialer Komponist und Poet. Songs wie »Blowin' In The Wind«, »Don't Think Twice« und »Masters Of War« zeugten von seinem musikalischen wie dichterisch-lyrischen Talent und katapultierten ihn an die Spitze der politisch und sozial engagierten Folksong-Bewegung. Bald war er – neben Joan Baez, mit der ihn 1963 auch eine Liaison verband – der ungekrönte König der Folk- und Protest-Songwriter.

Was waren die größten Erfolge seiner Frühzeit?

Das waren, neben »Freewheelin'«, die in kurzen Abständen produzierten LPs »The Times They Are A-Changin'« (1964), »Another Side of Bob Dylan« (1964) und »Bringing It All Back Home« (1965), in Europa unter dem Titel »Subterranean Homesick Blues« erschienen. Bob Dylan brachte zu dieser Zeit ein Album nach dem anderen heraus und hatte bald den Status eines Weltstars. Die Songs verliehen dem neuen Lebensgefühl einer ganzen Generation Ausdruck und wurden zu Hymnen der Flower-Power-Jugend.

In dieser Phase schrieb Dylan auch Songs für andere Interpreten, Coverversionen seiner Erfolge erschienen. So verdanken ihm verschiedene Bands und Solosänger große Hits, etwa The Byrds mit »Mr. Tambourine Man«, Jimi Hendrix mit »All Along The Watchtower«, die Turtles mit »It Ain't Me Babe« und Manfred Mann mit »Mighty Quinn«.

Warum legte sich Dylan mit der Folk-Szene an?

Er stand am 25. Juni 1965 beim Newport Folk Festival, wo er in den Jahren zuvor bereits Erfolge gefeiert hatte, erstmals nicht – wie in der Folkmusik üblich – allein auf der Bühne, sondern zusammen mit einer Band. Und er brach ein noch größeres Tabu, als er seine Gitarre an einen Elektroverstärker anschloss. Bisher kannte man Folksongs nur zur »authentischen« Akustik-Gitarre. Die Folk-Gemeinde war empört. Bob Dylan wurde von der Bühne gebuht.

Um welches Genre bereicherte Dylan die Musik?

Dieser historische Griff des Musikers zur E-Gitarre löste eine Revolution aus: Der Folkrock war geboren, ein Genre, ohne das bis heute weite Teile der Rockmusik nicht denkbar sind. Scharen von Künstlern vollzogen in Dylans Kielwasser den Übergang vom Folk zum Rock. Die Folkrocker mit ihren ernsten und ernst gemeinten Inhalten erreichten plötzlich das ganz große Publikum, auch Leute, die sich zuvor eher für Bands wie die Rolling Stones begeistert hatten.

Bob Dylans erste Folkrock-Alben sind echte Meilensteine der Musikgeschichte. »Highway 61 Revisited« (1965) und »Blonde On Blonde« – 1966 als erstes Doppelalbum in der Geschichte der Popmusik erschienen – enthalten Songs wie »Like A Rolling Stone«, »Ballad Of A Thin Man«, »Rainy Day Woman«, »I Want You« und »Just Like A Woman«: Klassiker der Rockmusik.

Warum gab es einen Karriereeinbruch?

Auf dem Höhepunkt seines Schaffens, 1966, hatte Dylan einen Motorradunfall, bei dem er sich einen Halswirbel brach – Anlass für eine längere Auszeit und damit eine Zäsur in der Karriere. Die Fans vergessen schnell, doch die Legende Bob Dylan kehrte zurück, mit innovativen Alben und einer »permanenten« Welttournee, die ihn immer wieder rund um den Globus führt.

Das Feuilleton feiert Bob Dylan als bedeutenden Dichter seiner Generation, die Fans lieben den mitreißenden Musiker, der auch als über 60-Jähriger noch die Konzerthallen zum Kochen bringen kann. Vorausgesetzt er ist in Stimmung.

Wussten Sie, dass …

Bob Dylan nach seiner Tour 1966 über acht Jahre keine weitere Tour mehr unternehmen sollte? Grund war nicht nur ein Motorradunfall, sondern auch seine künstlerische und physische Erschöpfung.

Dylans Song »Like A Rolling Stone« von 1965 vom Musikmagazin »Rolling Stone« zum besten Lied aller Zeiten gekürt wurde?

Welche Höhen und Tiefen durchlebte Bob Dylan in seiner Karriere?

Bob Dylan wurde am 24. Mai 1941 als Robert Allen Zimmerman in Duluth, Minnesota, als Kind eines Ladeninhabers mit russisch-jüdischen Vorfahren geboren. 1959 ging er zum Kunststudium nach St. Paul, wo er sich mit Folkmusik beschäftigte, 1961 übersiedelte er nach New York, feierte erste Erfolge in Clubs, bald stellte sich der große Erfolg ein. Nach einem Motorradunfall zog er sich 1966 zurück, experimentierte mit Countrymusik. Nach einigen mäßigen Erfolgen gelang ihm 1975 mit der LP »Blood on the Tracks« ein Comeback. 1975/76 tourte er mit der »Rolling Thunder Revue« durch die USA, 1979 bis 1981 erschienen dann drei christlich geprägte Alben. Anschließend schlitterte er in eine künstlerische Krise, aus der er erst mit dem Album »Oh Mercy« 1989 herausfand. Mit dem Album »Time Out Of Mind« 1997 gelang ihm das endgültige Comeback. 2004 erschien der erste Band seiner Autobiografie. Die CD »Modern Times« von 2006 wurde von der Kritik als Dylans bestes Album seit langem gelobt.

Popmusik der 1960er Jahre: Ein musikalischer Aufbruch

Welche Unterhaltungsmusik gab es vor der Erfindung der Popmusik?

Populäre Musik für einen breiten Massengeschmack hat es schon immer gegeben, allerdings war sie nicht speziell auf ein jugendliches Publikum zugeschnitten. Besonders im englischsprachigen Raum setzten sich mit Erfindung und Verbreitung der Schellackplatte und des Radios neben den geläufigen Schlagern vor allem jazzig swingende Lieder durch. Aber in den frühen 1950ern veränderte sich der Markt rapide.

Wer war der erste Rock 'n' Roll-Musiker?

Die zündende Idee, die den Anstoß zur Entwicklung dieser neuen Musikrichtung gab, kam von Bill Haley. Um das Jahr 1950 hatte der amerikanische Sänger nämlich als Erster die epochemachende Idee, die beiden Musikrichtungen Country Music und Rhythm & Blues miteinander zu kombinieren, mit einer markanten Betonung des 2. und 4. Taktschlags und einer simplen Struktur zu verknüpfen und in einem lässig bunten Outfit zu präsentieren (»Rock Around the Clock«, 1954). In der Folge kreierte er mit Kollegen wie Chuck Berry, Elvis Presley, Jerry Lee Lewis und Little Richard den ersten popmusikalischen Trend, der sich als »Rock 'n' Roll« in Absetzung von den ästhetischen Gewohnheiten der Erwachsenenwelt schnell zu einer internationalen Jugendbewegung entwickelte.

Welche Bedeutung hatten die Beatles?

Sie brachten die Popmusik einen gehörigen Schritt weiter. Der Kreis um Bill Haley hatte die Grundlage geschaffen, auf der die zweite und zentrale Entwicklung der frühen Popmusik aufbauen konnte. Jetzt wechselte der Schauplatz nach Europa. In der britischen Hafenstadt Liverpool gab es Ende der 1950er Jahre eine äußerst lebhafte Szene junger Musikgruppen, die eine Mischung aus Rock 'n' Roll, Skiffle, Blues und Tanzbarkeit zum »(Mersey) Beat« verbanden. Diese melodisch einfache und konsumierbar-eingängige Unterhaltungsmusik wurde durch den kometenhaften Aufstieg der Beatles zum Klang- und Kulturphänomen mit weltweiter Bedeutung ausgebaut. Am 27. Dezember 1960 hatten sie ihr Debüt als »Beatles« in einem Liverpooler Vorort.

Wie vollzog sich der kometenhafte Aufstieg der Fab Four?

Die Karriere der »Fab(ulous) Four« – der sagenhaften Vier –, wie die Beatles später genannt wurden, begann 1962 mit der Veröffentlichung ihrer ersten Single »Love Me Do«, und bereits im Jahr 1964 waren 60 Prozent aller in den USA verkauften Singles von den Beatles. Die vier Briten etablierten massenhysterische Medienereignisse im Bewusstsein der Öffentlichkeit. Und sie setzten mit über 200 Kompositionen stilistische und mit Alben wie »Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band« (1967) auch technische Maßstäbe der Gestaltung moderner Popmusik. So war die öffentliche Enttäuschung groß, als am 10. April 1970 in einer Pressemitteilung die Trennung offiziell bekannt gegeben wurde.

Welchen Einfluss auf die Entwicklung der Popmusik hatten äußere Faktoren?

Die gesellschaftlichen Entwicklungen spiegelten sich auch in der Musik wieder. Die 1960er Jahre standen im Zeichen der Konsolidierung politischer, gesellschaftlicher und sozialer Verhältnisse. Der Bedrohung durch den Kalten Krieg stand in den westlich geprägten Kulturräumen ein zunehmend sorgenfreier Alltag gegenüber. Popmusik wurde zum Ventil eines jugendlichen Lebensgefühls, das mit den Zwängen und der Saturiertheit der Elterngeneration nichts mehr zu tun haben wollte.

Was bedeuteten die neuen Möglichkeiten des medialen Zeitalters?

Sie sorgten für ungeahnte Verbreitung und eine zunehmende Kommerzialisierung der Popmusik. Die Jukebox und die Langspielplatte, der tragbare Plattenspieler und das Transistorradio machten einen ebenso individualisierten wie kollektiv erfahrbaren Musikkonsum möglich. Janis Joplin, Jim Morrison oder Jimi Hendrix avancierten zu Jugendheroen, die auf Festivals wie Woodstock (1969) von Hunderttausenden gefeiert wurden. Und die Musikindustrie entwickelte sich zu einer der größten Wachstumsbranchen der Epoche.

Was fällt alles unter den Oberbegriff Popmusik?

Die Bezeichnung Popmusik als Begriff für populäre Musik im weiteren Sinn umfasst bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts – in Abgrenzung zur Kunstmusik – allgemein verständliche und zugängliche, in der Regel weithin bekannte Unterhaltungs- und Tanzmusik.

So gesehen gehören volksmusikalische Ereignisse auf Markt- und Dorfplätzen der frühen Neuzeit ebenso dazu wie die seit der Erfindung der Lithografie im 19. Jahrhundert massenhaft verbreiteten Schlager, Operettenmelodien und Opernarien. Diese sich in weiten Kreisen der Bevölkerung großer Beliebtheit erfreuenden Musikstücke wurden von den bürgerlichen Salons über Militärblaskapellen bis zu den Varietés in großem Umfang verbreitet.

In einem engeren Sinn umfasst demgegenüber der Begriff Popmusik die stilistischen Entwicklungen und Darstellungsweisen in der musikalischen Jugendkultur, wie sie sich ab dem Ende der 1950er Jahre in verstärkter Weise herausbildeten.

Wussten Sie, dass …

die Beatles unter dem Namen »Beat Brothers« im Jahr 1961 in Hamburg ihre ersten Plattenaufnahmen machten? Sie waren damals allerdings Begleitband von Tony Sheridan.

Jimi Hendrix keine Noten lesen und schreiben konnte? Um die Musik schriftlich zu fixieren, verwendete er stattdessen verschiedene Farben, die für bestimmte Klangcharakteristika und musikalische Empfindungen standen.

Sgt. Pepper's von den Beatles: Revolution in Form und Inhalt

Aus welchem Antrieb entstand »Sergeant Pepper's«?

Die Beatles wollten Neuland betreten. Seit ihrer ersten Single »Love Me Do« (Oktober 1962) waren John Lennon, Paul McCartney, George Harrison und Ringo Starr in den Kommerz-Olymp aufgestiegen und schrieben einen Superhit nach dem anderen. Eben erst hatten »Paperback Writer« (Juni 1966) und »Yellow Submarine« (August 1966) die Hitparaden angeführt, als sie sich ins Studio begaben, um ein Album zu versuchen, das auf dem neuesten Stand der Studiotechnik präsentierte, was alles an Sounds und Effekten möglich ist. Und das als erste Beatles-LP nicht mehr auf der Bühne reproduzierbar sein musste.

Wie lange dauerte die Studioaufnahme?

Die Beatles waren etwa fünf Monate im Abbey Road Studio. Zwischen November 1966 und März 1967 verbrachten die vier Musiker und ihr Produzent George Martin über 700 Stunden vor den Mikrofonen. Die Arbeit im Studio war äußerst zeit- und nervenraubend. Die Produktionskosten stiegen auf den damals astronomischen Betrag von £ 40 000. Streitereien zwischen Lennon und McCartney behinderten die Fertigstellung der meisten Songs. So wurde im Februar 1967 zunächst die zwischendurch produzierte Single »Penny Lane«/»Strawberry Fields Forever« veröffentlicht, bevor im Juni »Sgt. Pepper« folgte.

Was war außergewöhnlich an »Sergeant Pepper's«?

Das Album »Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band« setzte Maßstäbe. Da war zunächst das Cover, eine wilde Collage berühmter Köpfe, mittendrin die Beatles in Fantasiekostümen. Zu ihren Füßen eine Rabatte mit Cannabis-Pflanzen, die moralische Zeitgenossen zu weit reichenden Schlussfolgerungen veranlasste. Das Ganze wirkte wie ein berauschtes Sinnbild der Hippie-Ära, das die Freiheit des ästhetischen Ausdrucks ironisch und selbstbewusst in den Kontext der westlichen Kulturtradition stellte. Skurril war auch der Titel des Albums, der den altmodischen Charme britischer Blaskapellen ebenso beschwor wie den psychedelischen San-Francisco-Geist der Blumenkinder. Er stammte von McCartney, der auch für einen Großteil der musikalischen Ideen verantwortlich war.

Was war revolutionär am neuen Sound der Beatles?

Die Musik verband nicht nur die modischen ethnischen Elemente wie die von George Harrison besonders geliebten indischen Klänge, sondern auch klassische Motive und Soundeinsprengsel, Sprachfetzen und Live-Einblendungen mit den akustischen Gewohnheiten der noch jungen, bislang nachvollziehbar produzierten Popmusik. Das machte den kreativen Kraftakt zum Vorbild zahlreicher Konzeptalben der Folgejahre und beeinflusste als Strukturmuster in den 1970er Jahren Bombast-Rockgruppen wie Pink Floyd, Genesis und King Crimson.

Warum markierte die LP den Anfang vom Ende der Beatles?

Mit »Sgt. Pepper« veränderten sich auch die Beatles. Sie hatten sich entschieden, nicht mehr auf die Bühne zu gehen. Die Rivalitäten untereinander wurden immer stärker, vor allem seit der Liaison John Lennons mit Yoko Ono, die Einfluss auf die Beatles zu nehmen begann. 1967 starb Brian Epstein, der langjährige Manager der Fab Four, an einer Überdosis Tabletten, woraufhin die Band Apple Corps Ltd. gründete und die Organisation des Erfolgs selbst übernahm. Das Thema der freakigen Combo im wildfantastischen Traumland, die durch ihre Musik die Welt vor der Einfalt bewahrt, wurde 1969 in den Trickfilm »Yellow Submarine« aufgenommen, der mehrere Songs aus »Sgt. Pepper« enthielt.

Jedenfalls war die LP der Wendepunkt der bislang harmonisch erscheinenden Laufbahn der Beatles. Es folgten noch drei Studioprodukte – »The Beatles (White Album)« (1968), »Abbey Road« (1969), »Let It Be« (1970) –, bevor George Harrison, John Lennon, Paul McCartney und Ringo Starr im April 1970 beschlossen, sich zu trennen. Ein Kritiker sprach vom »Verlust der künstlerischen Unschuld«, der mit dem ungewöhnlichen Album eingesetzt habe.

Warum wurde die LP-Produktion zum Mammutunternehmen?

Das Abbey Road Studio verfügte zunächst nicht einmal über das Minimum der angestrebten Ausstattung. Dazu kam die intuitive Arbeitsweise. Anstatt ausgefeilter Arrangements hatten die Beatles oft nur Themen und Motive vorbereitet, die sie dann im Playbackverfahren zu vielschichtigen Kompositionen zusammensetzten. Exotische Instrumente wie indische Tablas stellten die Tontechniker vor ungeahnte Probleme. Für »A Day In The Life« wurde sogar ein 41-köpfiges Streichorchester geordert.

Wussten Sie, dass …

»Lucy In The Sky With Diamonds« das kontroverseste Stück auf »Sergeant Pepper's« ist? Abgekürzt steht es angeblich für die Droge LSD, was allerdings von den Beatles immer wieder dementiert wurde.

Adolf Hitler für die Collage von berühmten Personen auf dem Cover eingeplant war, aber aus gutem Grund auf ihn verzichtet wurde?

Die frühen Alben der Rolling Stones: Die bösen Buben des Rock

Wann begründeten die Stones ihren Mythos?

Die Rolling Stones hatten ihre kreativste und radikalste Phase zwischen 1965 und 1972. Seit der Veröffentlichung des Albums »Out Of Our Heads« (1965) mit dem Hit »Satisfaction« schwammen Sänger Mick Jagger (geb. 1943), die Gitarristen Keith Richards (geb. 1943) und Brian Jones (1942 bis 1969), Bassist Bill Wyman (geb. 1936) und Schlagzeuger Charlie Watts (geb. 1941) auf der Welle des Erfolgs.

Ihr Image war böse, schmutzig, aggressiv und proletarisch. Sex- und Drogenexzesse gehörten ebenso zu ihrem Repertoire wie die Verwüstung ganzer Hotelsuiten. Konsequent setzten sie sich über bürgerliche Moralvorstellungen hinweg und wurden mit ihrem Rebellengestus zum Gegenentwurf der Beatles. Die Rolling Stones waren die bad boys, die bösen Buben, in dieser Rolle machten sie Furore.

Wie zementierte die Band ihren Erfolg?

Die folgenden LPs, allesamt komponiert und getextet vom Duo Jagger/Richards, – wie »Aftermath« (1966) mit dem Hit »Paint It Black«, »Between The Buttons« (1966) mit »Let's Spend The Night Together« und »Ruby Tuesday« sowie »Flowers« (1967) mit »Back Street Girl« – waren textlich wie musikalisch explosive Alben, in denen sich der typische Stil der Band endgültig herauskristallisierte: dem Blues entlehnte, relativ einfache, aber zum Tanzen anregende Gitarrenriffs, Mick Jaggers unverwechselbarer Gesang und sarkastische, oft zweideutige Texte.

1967 brachten sie mit »Their Satanic Majesties Request« ein LSD-geschwängertes, psychedelisches Werk heraus, mit dem sie die Flower-Power-Jugend für sich einnehmen wollten. Die allerdings reagierte, ebenso wie die Kritik, wenig begeistert.

Womit sorgten die Stones für neue Provokationen?

Die Band kehrte zu ihrem Stil und ihrem Proleten-Image zurück und brachte 1968 mit »Beggars Banquet« und den darauf enthaltenen Nummern »Sympathy For The Devil« und »Street Fighting Man« ein Album heraus, das in der Straßenkämpferszene Kult wurde. Harte Musik, dazu provokative Texte: Polizisten werden Verbrecher genannt, der »Stray Cat Blues« preist die Liebeskünste einer 15-Jährigen. Für das Cover reichte die Band bei ihrer Plattenfirma Decca ein Foto ein, das eine verdreckte Toilette voller ordinärer Graffiti zeigte. Als der Entwurf abgelehnt wurde, trennten sie sich von Decca. Fortan erschienen Stones-Platten auf einem eigenen Label.

Warum verließ Brian Jones die Band?

Im Juni des Jahres 1969 verließ Jones die Band, weil er mit dem dominanten Songschreiberduo Jagger/Richards nicht mehr zurechtkam. Einen Monat später ertrank Jones in seinem Swimmingpool. Die letzte LP, bei der noch Brian Jones mitwirkte, war »Let It Bleed« von 1969 mit »You Can't Always Get What You Want« und »Gimme Shelter«.

Wer ersetzte Brian Jones?

Auf der nächsten Platte »Sticky Fingers« (1971) mit dem Hit »Brown Sugar« übernahm Mick Taylor (geb. 1949) seinen Part. Dieses Album mit dem skandalträchtigen Reißverschluss-Cover und auch das nächste, »Exile On Main Street« (1972), steckten noch einmal voller rotziger Obszönität, aggressiver Straßen-Poesie und rücksichtsloser Genialität.

In den 1970ern begannen die Rolling Stones ihr radikales Auftreten abzulegen. Es hätte ihnen keiner mehr abgenommen. Die folgenden Alben – »Goats Head Soup« (1973), »It's Only Rock'n'Roll« (1974), »Black And Blue« (1976) – waren inhaltlich harmlos und musikalisch glatt, perfekt gestylt, doch uninspiriert. Die Stones, seit 1975 mit Ron Wood (geb. 1947) anstelle von Mick Taylor, waren Multimillionäre, gingen nun nur noch etwa alle drei Jahre auf Tournee und bewegten sich vornehmlich in den Kreisen des Jet-Sets. In diesen Jahren machten sie weniger durch ihre Musik, als durch Partys, Drogengeschichten und Affären mit Stars und Sternchen Schlagzeilen.

Schafften die Stones einen Neubeginn?

Musikalisch fand die Band Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre zwar noch einmal zu ihrer alter Form, doch die wilde Attitüde der Jugendjahre stellte sich nicht mehr ein. Die Bandmitglieder waren in die Jahre gekommen, es wurde ruhiger um sie. Gerüchte über die Auflösung der Rolling Stones wurden laut. Doch 1989 waren sie plötzlich wieder da, feierten ein viel beachtetes Comeback und sind seither, auch mit Hilfe modernster Marketingstrategien, darum bemüht, ihrem Ruf als größte Rock'n'Roll-Band aller Zeiten gerecht zu werden.

Wussten Sie, dass …

das Konzert der Rolling Stones 1969 auf dem Altamont Speedway bei San Francisco in einer Katastrophe endete? Ein Konzertbesucher wurde von einem Mitglied der Rockerbande Hell's Angels, die von den Stones als Sicherheitsdienst engagiert worden war, erstochen. Dieser Vorfall löste in der Öffentlichkeit und den Medien eine heftige Diskussion über die Gefährlichkeit der Rockkultur aus.

Miles Davis' Bitches Brew: Synthese von Jazz und Rock

Warum war der Jazz am Scheideweg angelangt?

In den 1960er Jahren hatte der Jazz zum ersten Mal ernsthaft Konkurrenz bekommen. Noch in den späten 1950ern ließ man sich von New York bis Paris mit jazzigen Klängen berieseln. Ob in der Bar oder bei berühmten Festivals wie Newport – Jazz war die Musik kulturell interessierter, trendbewusster Kreise. Wenige Jahre später war alles anders. Zum einen hatten die Jazzmusiker den Sprung in die freie Improvisation gewagt. Das war als Akt künstlerischer Emanzipation verständlich, aber kaum noch konsumierbar. Auf der anderen Seite hatte die Popmusik der Beatles und ihrer raueren Kollegen die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Der Rock'n'Roll war noch ein Nischenphänomen gewesen, Woodstock aber hatte Hunderttausende versammelt.

Welche Entwicklungen gab es in der Jazz-Szene der 1960er Jahre?

Der kommerziell erfolgreichen Konkurrenz musste der Jazz eine eigene musikalische Kreativität entgegensetzen. Musiker wie Quincy Jones, Lee Morgan, Horace Silver, George Benson und der junge Herbie Hancock arrangierten sich und schrieben Jazzhits (»Song For My Father«, 1964; »The Sidewinder«, 1965).

Doch ab Mitte der Sechziger setzte eine neue Entwicklung ein, die Szenen begannen sich zu vermischen. Denn die Elektrifizierung der Musik, die sich rasant verändernde Studiotechnik, die Soundmöglichkeiten neuer Instrumente wie Fender Rhodes und Synthesizer boten für die Musiker beider Seiten faszinierende Möglichkeiten. Darüber hinaus verschwammen mit stilistischen Experimentatoren wie zum Beispiel Charles Lloyd oder Jimi Hendrix die Grenzen zwischen den Gattungen. Jazz und Rock näherten sich an. Und sie fanden mit »Bitches Brew« ihr künstlerisches Manifest.

Welche stilbildenden Einflüsse brachte Miles Davis ein?

Seit Miles Davis (1926–1991) um 1945 in der Bebop-Szene Fuß gefasst hatte, veränderte der Trompeter, Komponist und Bandleader mit Gespür für unterschwellige Trends die Stilgeschichte des Jazz. Mehrmals sorgten seine Alben für einen Neuansatz. »Birth of the Cool« (1949/50) galt als Ausgangspunkt des Cool Jazz. »Kind of Blue« (1959) führte die modale, an Kirchentonarten des Mittelalters orientierte Spielweise ein. »Sketches of Spain« (1960) verband Flamenco mit Jazz in ungewöhnlicher Orchestrierung und die berühmten Quintett-Alben von 1967/68 (»Sorcerer«, »Nefertiti«, »Filles de Kilimanjaro«) öffneten den Blick auf den elektrischen Sound. »In a Silent Way« (1969) schließlich experimentierte bereits deutlich mit rockigen Stilmitteln. Ende der 1960er Jahre war Miles Davis der erfolgreichste Musiker des modernen Jazz.

In welcher kreativen Atmosphäre entstand »Bitches Brew«?

Vom 19. bis zum 21. August 1969 fand in New York eine wegweisende Session statt. Miles Davis hatte junge Spitzenmusiker im Studio versammelt, unter anderem die Keyboarder Chick Corea und Joe Zawinul, den Saxofonisten Wayne Shorter, Dave Holland am Bass und abwechselnd Jack De Johnette, Lenny White und Charles Alias am Schlagzeug. Es wurden besondere Tage: »Mann, diese Aufnahmesession war wahnsinnig […] Es war eine Jam Session wie in den alten Bebop-Zeiten im Minton's. […] Ich notierte nur Bruchstücke, aber nicht, weil ich nicht wusste, was ich wollte; vielmehr war mir klar, dass meine Vorstellungen aus einem Prozess wachsen müssten und nicht aus irgendwelchem vorrangigen Scheiß. Diese Session war reine Improvisation, und das macht den Jazz so aufregend.«

Das Experiment glückte, denn es kam tatsächlich wirklich alles zusammen: die passenden Musiker, das ekstatisch psychedelische Lebensgefühl der Hippie-Ära, die inspirierende Kraft des Neuen und der Spaß an ausgedehnten Improvisationen. »Bitches Brew« verband mühelos die Stilvorstellungen verschiedener Lager und avancierte schnell zu einer der meistverkauften Platten des Jazz.

Gelang die Symbiose von Jazz und Rockmusik?

Für einen Moment schien es, als ob sich die Authentizität der Rockmusik und die Intellektualität des Jazz dauerhaft verbinden würden. Miles Davis wurde zum Popstar, stand mit Grateful Dead (»Black Beauty – Miles Davis at Fillmore West«, 1970) oder beim Rockfestival Isle of Wight (1970) auf der Bühne. Eine Zusammenarbeit mit Jimi Hendrix scheiterte nur am frühen Tod des Gitarristen. Die Kommerzialisierung der Musikbranche führte jedoch dazu, dass die kreative Aufbruchstimmung der frühen Siebziger immer deutlicher zum reinen Geschäft verflachte. Miles Davis zog sich 1975 für fünf Jahre aus der Szene zurück. Der Jazzrock boomte in entschärfter Version als »Fusion« weiter. Und »Bitches Brew« wurde zum musikgeschichtlichen Denkmal einer bewegten, innovativen Ära.

Wussten Sie, dass …

Miles Davis ein »cooles« Auftreten kultivierte? Dem Publikum kehrte er gelegentlich den Rücken zu und bei Soli seiner Musiker ging er schon mal von der Bühne.

der Regisseur Louis Malle Davis dazu überredete, die Filmmusik für »Fahrstuhl zum Schafott« (1957) zu komponieren und aufzunehmen?

Was waren die wichtigsten Stationen in Miles Davis' Musikerlaufbahn?

Miles Dewey Davis III. wurde am 26. Mai 1926 in Alton, Illinois, in ein begütertes Elternhaus geboren. 1944 ging er nach New York, spielte bald Bebop in Charlie Parkers Quintett. 1949 gab er mit »Birth of the Cool« den Anstoß für die Entwicklung des Cool Jazz. In den 1950ern lähmte eine beginnende Drogenabhängigkeit seine Kreativität, bis er sich 1955 mit dem Miles Davis Quintett zurückmeldete. Er nahm das Album »Round About Midnight« auf, avancierte zum Star. 1957 folgt mit »Miles Ahead« ein weiterer großer Erfolg, 1959 komplettiert durch das legendäre Album »Kind of Blue«. 1969 nahm Davis das Fusionalbum »In a Silent Way« mit Rockmusikern auf. Die 1970er waren künstlerisch und gesundheitlich schwierig, aber in den 1980ern meldete sich Miles zurück. Er starb am 28. September 1991 in Santa Monica, Kalifornien.

Philip Glass' Koyaanisqatsi: Düsterer Minimalismus

Worum geht es in dem Film »Koyaanisqatsi«?

Zentrales Thema des Films ist die Zerstörung der Natur durch den Menschen, der sich dabei auch noch selbst versklavt und sich Lebensbedingungen auferlegt, die seinem Wesen zuwiderlaufen. Der Titel des Films stammt aus der Sprache der nordamerikanischen Hopi-Indianer und bedeutet »Welt, die aus den Fugen gerät«. Mit seinem Soundtrack zu diesem wortlosen Film schuf der amerikanische Komponist Philip Glass ein Meisterwerk des musikalischen Minimalismus, das inzwischen Kultstatus erreicht hat.

Vor welchem Hintergrund entstanden der Film und die Musik?

Das Thema »Mensch und Natur« lag in der Luft. 1972 hatte die internationale Vereinigung »Club of Rome« ihre Aufsehen erregende Studie über »Die Grenzen des Wachstums« veröffentlicht, die erstmals die Gefahren der hemmungslosen Ausbeutung der Natur deutlich aufzeigte. Politiker, Journalisten, Philosophen und Filmemacher nahmen sich des Themas an. Der Filmemacher Godfrey Reggio drehte mit »Koyaanisqatsi« – erster Teil der »Qatsi«-Trilogie über die Position des Menschen im Spannungsfeld zwischen Natur, Tradition und Moderne – eine der eindrucksvollsten optischen Umsetzungen der düsteren Vorhersagen. Im Jahr 1940 in New Orleans geboren und als Klosterschüler isoliert von der Außenwelt aufgewachsen, gehörte der unkonventionelle Regisseur zu den Mitbegründern mehrerer Non-Profit-Organisationen, die sich kritisch mit den Machenschaften der Medien wie der Mächtigen auseinandersetzten.

Mit welchen Mitteln arbeitet »Koyaanisqatsi«?

Reggio sammelte zwischen 1975 und 1982 Filmeindrücke in natürlichem, urbanem und industriellem Ambiente, die er zu einer Dokumentarcollage zusammensetzte. Die Idee war ebenso simpel wie verblüffend. Reggio kontrastierte unkommentierte Schnipsel aus Natur und vom Menschen gemachter Welt, deren Abfolge er schrittweise beschleunigte.

Die extreme Geschwindigkeit der Bilder gegen Ende des Films war in einer Zeit ohne Videoclips ein Affront gegen die Wahrnehmungsgewohnheiten, der zugleich irritierte und berauschte. Die eigentliche Wirkung von »Koyaanisqatsi« entstand aber durch das gekonnte Zusammenspiel der Bilder des Films und der Musik von Philip Glass.

Was charakterisiert die Musik von Philip Glass?

Der Komponist Philip Glass (geb. 1937) war seit den späten 1960er Jahren neben Terry Riley und Steve Reich der wichtigste Protagonist des musikalischen Minimalismus geworden. Seine Opern, Ballette und Kammermusikwerke waren von der Reduktion der gestalterischen Mittel auf einzelne, prägnante und immer wiederkehrende Motive bestimmt, die in Reihungen und Schichtungen miteinander verknüpft komplexe, sich langsam verändernde Klangarchitekturen entwickeln. Glass war fasziniert von der Idee zu dem Film, die idealtypisch mit seinen eigenen Strukturvorstellungen harmonierte.

Wie ist die Filmmusik angelegt?

Glass komponierte eine achtteilige Suite zu den Bildern, die minutiös auf die optische Wirkung abgestimmt wurde (»Koyaanisqatsi / Organic / Cloudscape / Resource / Vessels / Pruit Igoe / The Grid / Prophecies«). Das große Vokal- und Instrumentalensemble kombinierte dabei elektronische Soundelemente, orchestrales Pathos und finstere Hopi-Gesänge zu einem fugenlosen Klangteppich. Gruppiert um die Prophetie des Untergangs aus den Hopi-Überlieferungen, die mit sonorem Bassgesang die Stimmung des Werks prägen, entwickelte Glass ein flirrendes Netzwerk von akustischen Assoziationen, das die provokante Bildbotschaft zivilisationsbedingter Selbstzerstörung eindrucksvoll unterstützte.

Welche Resonanz hatte der Film?

Von der Premiere am 11. November 1983 an wurde über den Film »Koyaanisqatsi« äußerst heftig diskutiert. Die Reaktionen des Publikums reichten von einem Verdikt der kulturpessimistischen Propaganda bis hin zum verschreckten Bewusstwerden der eigenen Bedeutungslosigkeit angesichts der globalen Zerstörung. Der Film bekam zahlreiche Preise vom São Paulo Film Festival bis zum Critics Award in Lissabon, für den Komponisten Philip Glass brachte er den internationalen Durchbruch. Das US-amerikanische »Time Magazine« wählte die Musik unter die zehn besten Klassikveröffentlichungen des Jahres. An der Schwelle zur Postmoderne beschwor sie noch einmal die Bedeutungsmacht der Klänge.

Wie verlief Philip Glass' musikalische Entwicklung?

Der am 31. Januar 1937 in Baltimore, Maryland geborene Philip Glass studierte Klavier und Komposition an der renommierten Juilliard School of Music in New York und verfeinerte seine Kompositionstechnik bei Nadia Boulanger in Paris. Er war seit den späten 1960er Jahren ein wichtiger Protagonist des musikalischen Minimalismus. Einem breiteren Publikum ist er durch seine Soundtracks bekannt. So schrieb er neben »Koyaanisqatsi« (1983) noch eine ganze Reihe von zum Teil preisgekrönten Filmmusiken (»Die Truman Show« 1998, »The Hours« 2002). Daneben ist er ein äußerst produktiver und erfolgreicher Opernkomponist (»Einstein on the Beach«, 1976). Das Repertoire des vielseitigen Komponisten umfasst aber auch Orchester- und Chorwerke, Stücke für Orgel und Kammermusik.

Wussten Sie, dass …

die Studie »Die Grenzen des Wachstums« 1972 den Startschuss für eine Vielzahl von Umweltschutzinitiativen gab? Sie brachte, mit Statistiken und Zahlen untermauert, den skeptischen Zeitgeist zu Beginn der 1970er Jahre auf den Punkt.

der Buddhist Philip Glass sich gegen die Unterdrückung der Bevölkerung in Tibet engagiert?

Popmusik um 2000: Globalisierung und Individualisierung

Was geschah in der Pop-Musik nach der großen Zeit der 1960er Jahre?

Mit dem folgenden Jahrzehnt setzte Ernüchterung ein. Zwar konnten Richtungen der schwarzen Popmusik wie Funk und Soul hitparadentaugliche Trends etablieren. Spätestens mit der Disco-Ära jedoch setzte sich synthetisch erzeugte Studiomusik vom Live-Ideal der Pop- und Rockkünstler ab. Die Szene entwickelte eine kaum noch zu überblickende Vielfalt der Stilformen. Der Live-Ästhetik verhaftet waren Richtungen wie Hard Rock, Punk mit Gruppen wie den Sex Pistols oder Clash, Heavy Metal, Grunge mit Nirvana oder Britpop. Daneben gab es künstliche, an Studio-, Sampler- und Computersounds (Disco, House, Techno, Dancefloor, Drum & Bass) orientierte Trends. Darüber hinaus entwickelten sich mit Rap und Hiphop Mischformen, die die »DJ-Culture« mit spontan-kreativen Elementen rhythmisierten Sprechgesangs kombinierten.

Ist Techno eine Musik ohne Gesicht?

Im wörtlichen Sinne ja. Die Künstlerpersönlichkeit tritt zugunsten einer reinen Gebrauchskultur in den Hintergrund. Mit der Techno-Generation entwickelte sich eine zuvor unübliche Form der Konsumfunktionalität nach dem Motto: Mir ist egal, wer da spielt, Hauptsache, man kann dazu tanzen. Was in Woodstock noch undenkbar war, ist auf den Techno-Raves alltäglich: Der Musiker verliert angesichts der computergenerierten Beats und der synthetisch erzeugten Sounds an Bedeutung. Nur der Discjockey (DJ) zieht durch seine Arbeit an den Plattentellern Reste des bürgerlichen Starrummels auf sich.

Wie lautet das kreative Credo des Techno?

Anything goes. Praktiziert wird eine kreative Klangverwertung in einer ganz neuen Form, die mithilfe von Collage und Remix das akustische Material von der Gregorianik bis zur Gegenwart respektlos ausbeutet und traditionelle Wertungen des Schönen und Guten zugunsten des Praktikablen und Verwertbaren relativiert. Die Vorstellung von Musik als frei verfügbares Repertoire von Motiven und Ideen korrespondiert mit der rasanten technischen Entwicklung medialer Vernetzung.

Beeinflusst das Internet die Entwicklung der Musik?

Es verändert den Höralltag und die Gebrauchsgewohnheiten grundlegend. Musik wird zunehmend digitalisiert und komprimiert, archiviert und getauscht. Jeder einmal ins Netz gestellte Titel ist international verfügbar. So ist eine andere wichtige Tendenz die weltumspannende »Demokratisierung« des Musikkonsums. Das hat weitere Folgen. Einerseits bekommen bislang dominierende Stile durch den freien Zugriff der User noch größere Bedeutung: Popgrößen wie Robbie Williams oder Coldplay sind überall. Die amerikanisch geprägte Klangsprache beherrscht die Rechner von Paris bis Peking und führt in den Hitparaden zu einem erstaunlichen Konsens.

Welches Bedürfnis befriedigt authentische Musik?

Die Sehnsucht nach dem »Wahren«. Die Hinwendung zur echten oder vermeintlichen Authentizität, der dritte wesentliche musikalische Trend, verspricht Echtheit, Glaubwürdigkeit, Unmittelbarkeit, Atmosphäre (zumindest). Das weit gefächerte Spektrum reicht dabei von kubanischen Son-Greisen wie Compay Segundo, bekannt aus Wim Wenders Filmerfolg Buena Vista Social Club, afrikanischen Griot-Poeten (Bewahrer mündlich überlieferter Literatur und Musik) oder britischen Garagen-Rockern bis hin zu nordamerikanischen Ghetto-Rappern wie dem Ex-Gangster Fifty Cent. Es ist dabei egal, welches individuelle Sinnsystem letztlich dahinter steht, solange die Interpreten »ihr Ding zu machen« scheinen und die Tradition der jeweiligen Nische plausibel aufnehmen, haben sie gute Aussichten auf kommerziellen Erfolg.

Je echter, desto besser?

Das scheint die zeitgenössische Maxime zu sein, was den Rückgriff auf ethnische Traditionen und den Retro-Sound betrifft. Neben den synthetisch fabrizierten Produkten der Post-Techno-Ära, den DJ-Collagen und den zielgruppenspezifischen Klangidyllen (produziert von Boy- und Girlgroups wie Tokio Hotel oder den Sugababes, Schlagersängern wie Roland Kaiser oder Andrea Berg, volkstümlichen Musikanten wie Hansi Hinterseer) sind vor allem die »handgemachten« Genres im Trend. »Weltmusik« aus der Karibik, Südamerika und Afrika, dazu die Verknüpfung regionaler Traditionen etwa des spanischen Flamenco (Gipsy Kings), des algerischen Rai oder des Türkpop (Sezen Aksu) mit den Formen des Rock 'n' Roll sorgen für ungewohnte Soundnuancen im amerikanisch dominierten Weltmarkt.

Wie steht es um deutsche Schlager und Popmusik?

Der deutsche Schlager hat eine lange Tradition und lässt sich, je nach Begriffsdefinition, bis auf die Wiener Operetten um 1900 zurückführen. Große Interpreten der 1930er Jahre wie Lale Andersen mit Lili Marleen oder die Comedian Harmonists interpretierten individuelle künstlerische Kompositionen, der aktuelle deutsche Schlager seit den 1970er Jahren ist häufig ein leicht verdauliches Industrieprodukt mit eingängiger Melodie und sentimentalen Texten. Daneben gibt es einsame Größen wie Udo Jürgens mit einem ausgeprägt individuellen Schlagerstil.

Nach der in den späten 1970er Jahren zunächst als Underground-Bewegung einsetzenden Neuen Deutschen Welle mit Figuren wie Nena (99 Luftballons, 1983) war es lange Zeit ruhig um deutschsprachige Popmusik. Ausnahmen bildeten Langzeitstars wie Udo Lindenberg, Marius Müller-Westernhagen oder Herbert Grönemeyer. Im neuen Jahrtausend bestimmen Jugendbands wie Juli oder Wir sind Helden oder auch der Deutsch-Soul-Sänger Xavier Naidoo die Szene.

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