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Heinrich Manns Untertan: Der Prototyp eines Karrieristen

Wer steht im Zentrum des Geschehens?

Es ist der Fabrikantensohn Diederich Heßling, dessen Lebensgeschichte von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter in »Der Untertan«, Heinrich Manns (1871–1950) bedeutendstem Werk, beschrieben wird. Formal wie ein klassischer Entwicklungsroman aufgebaut, stellt das Buch prägende und bezeichnende Stationen seines Werdegangs dar:

Von der Kindheit in einem autoritären Elternhaus ist zunächst die Rede, und schon in dieser ersten Phase seines Lebens zeigt sich der Junge für das Erleiden institutioneller Macht empfänglich, wie sie sein Vater und die Schule auf ihn ausüben. Diederich empfindet die Macht, die Menschen über andere haben, als anziehend und richtet sein Verhalten danach aus, Teil dieser Macht zu sein. So schließt er sich während des Studiums in Berlin einer kaisertreuen schlagenden Burschenschaft an. Hier wie im Militärdienst findet er feste Machtstrukturen, die ihm Halt geben und ihn stolz machen. Denn Teil eines solchen Gefüges zu sein, erlaubt ihm auch, selber Macht auszuüben – und das ist sein Ziel.

Wie gelingt der Aufstieg an die Spitze?

Nach dem Tod des Vaters kehrt Diederich in seine Heimatstadt zurück. Er ist jetzt Oberhaupt der Familie und Leiter der vom Vater ererbten Papierfabrik. Die folgenden Episoden zeigen ihn ganz als Haustyrann und intriganten, opportunistischen Karrieristen, der sich eine bedeutende Stellung aufzubauen versucht. Die Heirat mit einer reichen Erbin ermöglicht ihm die Erweiterung der Geschäftstätigkeit; als Stadtverordneter und bei gesellschaftlichen Ereignissen erweist er sich als geschickter, das politische Ränkespiel beherrschender Lokalpolitiker, der die Dinge stets zu seinem persönlichen Vorteil zu nutzen weiß. Die Schlussepisode zeigt den mittlerweile wohlhabenden und einflussreichen Bürger Diederich Heßling auf dem Höhepunkt seiner Karriere: Bei der Einweihung eines Denkmals für Kaiser Wilhelm I. wird ihm ein hoher Orden verliehen.

Wie wird der Held durch die Gesellschaft geformt?

An einer Kette von Stationen führt Mann vor, wie das im wilhelminischen Deutschland herrschende politische und gesellschaftliche Gefüge Diederich zu dem gemacht hat, was er ist: kriechender Untertan und zynischer Tyrann zugleich. Einerseits ist der Druck auf ihn so groß, dass er sich dem »unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus« des streng hierarchisch geordneten Staates nur unterwerfen kann. Andererseits ermöglicht die Eingliederung in diese Machtstrukturen die Ausübung eigener Macht: »Wer treten wollte, musste sich treten lassen«, lautet folgerichtig seine Maxime. Diederich wird dabei nicht als »Person« mit individuell entfaltetem Charakter dargestellt, sondern als »Typ«: Er ist ein Repräsentant seiner Zeit, denn jedes politische System formt den Charakter, den es zur Machterhaltung benötigt, und das Kaiserreich braucht feige Untertanen ohne Rückgrat – so die herausfordernde Grundaussage des Buchs.

Weist der Roman über seine Zeit hinaus?

In seiner unerbittlichen Diagnose besitzt der »Untertan« heute noch dieselbe Aktualität wie zum Zeitpunkt seines Entstehens, obwohl es keinen Kaiser und keine Prügelstrafe mehr gibt. Dass es Opportunisten und Mitläufer weit bringen können, war nicht nur zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine bittere Wahrheit. Sieht man vom historischen Gewand ab, hätte »Der Untertan« ebenso gut 1933, 1950 oder heute geschrieben werden können.

War Heinrich Mann ein Moralist?

Ja, seine moralische Grundhaltung äußerte sich in der Kritik an der bürgerlichen Doppelmoral und am Kadavergehorsam der wilhelminischen Zeit, wie in den Romanen »Professor Unrat« (1905) und »Der Untertan« (1918). Heinrich Mann wurde am 27.3.1871 in Lübeck geboren und übersiedelte 1893 mit seiner Familie nach München. Das Verhältnis zu seinem Bruder Thomas, in dessen Schatten sein literarisches Schaffen stand, war auch wegen unterschiedlicher politischer Anschauungen nicht konfliktfrei. 1933 floh Heinrich über Frankreich – wo der zweibändige historische Roman über Heinrich IV. (1935/1938) entstand – in die USA. Er starb vor seiner geplanten Rückkehr am 12.3.1950 in Santa Monica, Kalifornien.

Wussten Sie, dass …

»Der Untertan« erst vier Jahre nach Fertigstellung erscheinen konnte? 1914 sollte der Roman in Fortsetzungen in einer Zeitschrift veröffentlicht werden, doch kaum dass die Serie auf den Weg gebracht war, wurde sie abgebrochen – der Erste Weltkrieg hatte begonnen. »Im gegenwärtigen Augenblick kann ein großes öffentliches Organ nicht in satirischer Form an deutschen Verhältnissen Kritik üben«, begründete die Redaktion.

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