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Digital-Sucht als Pandemiefolge – was tun?

Ob Online-Shoppen, Gaming, soziale Medien oder Internet-Pornos: Seit der Pandemie haben immer mehr Menschen mit digitalen Süchten zu kämpfen. Sie sind kommen kaum noch vom Rechner oder Smartphone los und viele andere Dinge bleiben liegen. Längst ist die Online-Sucht nicht mehr nur ein Problem von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen - selbst unter Rentnern hat das Problem zugenommen. Doch was hilft gegen die digitale Abhängigkeit? Und ab wann sollte man sich Hilfe suchen?
NPO / Deutscher Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 26.04.2023
Symbolbild Online-Sucht

© denozy, GettyImages

Die Corona-Pandemie hat das soziale Leben der meisten Menschen stark eingeschränkt, viele hatten dadurch mit Einsamkeit und Depression zu kämpfen – vor allem während der Lockdowns. Doch auch nach Ende der Pandemie leiden viele Menschen noch unter den Folgen: Sie sind weniger unternehmungsfreudig, haben Schwierigkeiten, neue Kontakte zu knüpfen oder alte Beziehungen zu pflegen und ziehen sich stärker zurück.

Mehr digitale Süchte durch die Pandemie

Auch in unserem Online-Verhalten hat die Pandemie ihre Spuren hinterlassen. Immer mehr Menschen haben Probleme mit digitalen Süchten und suchen psychologische Hilfe. Der Zulauf zu psychosomatische Spezialambulanzen ist in den letzten Monaten deutlich angestiegen. „Seit 2021 verzeichnen wir einen Zuwachs von 25 Prozent bei den Behandlungen von Erwachsenen im Alter von 30 bis 67 Jahren“, erläutert Klaus Wölfling, Leiter der Ambulanz für Spielsucht an der Uniklinik Mainz. Bis in das Rentenalter reiche das Klientel, das jetzt behandelt werde.

„Die Pandemie hat wie ein Katalysator gewirkt: Während der Lockdowns brachen gewohnte Strukturen weg und manche füllten die Leerlaufzeiten mit Internetanwendungen, die sich zur Abhängigkeit entwickelten." Viele Betroffenen verbringen nun acht bis zehn Stunden täglich mit Chatten, sozialen Netzwerken, Computerspielen, Internet-Pornografie oder Online-Shopping. Das Problem: Dadurch vernachlässigen sie andere, wichtige Lebensbereiche wie die Arbeit, den Haushalt oder die Beziehung. Im Extremfall kann eine digitale Sucht zum Verlust des Arbeitsplatzes, zur Trennung oder in die Verschuldung führen.

Woran erkenne ich eine digitale Sucht?

Nicht jeder exzessive Internetnutzung bedeutet gleich, dass wir süchtig sind. Aufmerksam sollte man aber werden, wenn man das Surfen, Spielen oder Chatten nicht mehr kontrollieren kann. „Betroffene kommen in die Ambulanzen und sagen: Ich schaffe es nicht mehr, meinen Internetkonsum zu kontrollieren“, sagt Wölfling.

Ein weiteres Merkmal ist die zwanghafte Angst, etwas zu verpassen, die „Fear of missing out“ (FOMO). „Abhängige können beispielsweise nicht mit dem Egoshooter aufhören, weil sie fürchten, ihren Spielstand zu verlieren und aus Spielergruppen herauszufallen“, erläutert der Psychologe. Es kommt zur Vernachlässigung von Beziehung oder Arbeit, zu Krisen und Konflikten. „Solche negativen Veränderungen sind deutliche Warnzeichen für ein Suchtverhalten“, so Wölfling.

Anzeichen einer digitalen Sucht sind oft auch Entzugserscheinungen: Ohne das gewohnte Surfen, Chatten oder Online-Gamen zeigen sich Schlafstörungen, innere Unruhe, Gereiztheit und Aggressivität.  Um eine digitale Sucht zu diagnostizieren, nutzen Experten in der Regel bestimmte Auffälligkeiten im Verhalten und Denken. „Über mindestens zwölf Monate müssen fünf oder mehr von insgesamt neun psychischen Kriterien erfüllt sein“, erläutert Wölfling.

Glückshormon-Schub bei Likes

Aber auch Hirn-Scans können verraten, ob eine digitale Sucht vorliegt. Sie zeigen dann, dass die Internetaktivität das Belohnungssystem im Gehirn aktiviert – ein typisches Suchtmuster. „Wir sehen im Ergebnis von MRT-Studien den Dopaminschub, wenn ein Like auf einen Post erfolgt oder bei Nachrichten das blaue Häkchen für ‚gelesen‘ erscheint“, berichtet Wölfling. „Diese Erregung wird immer wieder gesucht, es entsteht ein Teufelskreis.“

Wie viele Menschen momentan unter digitalen Süchten leiden, ist nicht bekannt. 2011 waren es einer Studie zufolge noch rund ein Prozent der Bevölkerung, inzwischen könnten aber deutlich mehr betroffen sein.

Unterschiede je nach Alter und Geschlecht

Welche digitale Aktivität einen Menschen so sehr in den Bann zieht, dass er eine Sucht entwickelt, ist individuell unterschiedlich. Es gibt aber vom Alter und Geschlecht abhängige Trends. Bei der Generation Y etwa, den zwischen 1980 und 1999 Geborenen, sind vor allem Online-Rollenspiele und Egoshooter beliebt. „Diese Generation ist mit diesen Spielen aufgewachsen“, berichtet Wölfling. „Im Rentenalter ist dagegen Einsamkeit ein großer Treiber für Digitalsüchte, dann wird über Spiele ein soziales Netzwerk gefunden“, stellt Wölfling fest. Dass sich eine Sucht entwickelt hat, fällt dann häufig den Kindern der Betroffenen auf. „Sie registrieren, dass die Eltern nicht mehr abwaschen oder einkaufen gehen“, so der Psychologe.

Unterschiede gibt es auch zwischen den Geschlechtern: So nutzen Männer tendenziell häufiger Online-Pornografie, Computer- oder Glücksspiele, während bei Frauen eher Online-Kaufsucht, Glücksspiele, soziale Netzwerke und Messenger dominieren.

Wie kann man vorbeugen?

Die meisten von uns nutzen ihr Smartphone, Tablet oder den Computer täglich mehrere Stunden – sie sind längst fester Bestandteil unseres Lebens. Doch gerade deshalb ist es wichtig, zwischendurch auch immer mal abzuschalten – im buchstäblichen Sinne. „Wir benötigen Ruhephasen für unsere gesundheitliche und seelische Balance“, sagt der Experte. „Diese Phasen für sich selbst zu finden und umzusetzen, ist sicherlich eine der wichtigsten Aufgaben in unserer modernen digitalen Zeit.“ Solche Offline-Zeiten sind wichtig, um die Balance zu halten, außerdem können sie uns zeigen, ob wir noch ohne Handy und Co können oder ob wir schon deutliche Entzugserscheinungen zeigen.

Wem es schwerfällt, bestimmte Auszeiten einzuhalten oder beim surfen und Chatten ein Ende zu finden, der kann zum Beispiel bestimmte Apps zur Zeitkontrolle nutzen. Es gibt auch Apps, die einen immer wieder daran erinnern, auch mal was anders zu tun als nur online zu sein.  „Sie ploppen auf, wenn man in das soziale Netzwerk eintauchen will und rufen uns die Möglichkeit in Erinnerung, statt digitaler Ablenkung einfach mal Langeweile oder Einsamkeit zu ertragen“, sagt Wölfling. „Diese Zustände sind nichts Negatives. Es ist wichtig, sie aushalten zu können.“

Wie wird digitale Sucht behandelt?

Wenn man den Verdacht hat, dass das ständige Online-Sein schon den Alltag beeinträchtigt und zur Sucht ausgeartet ist, dann sollte man sich Hilfe holen – etwa in einer Suchtberatung oder bei einem Arzt oder Psychologen. „Es sollte eine Einschätzung erfolgen, ob wir es noch mit problematischem oder schon mit Suchtverhalten zu tun haben“, sagt Wölfling.

In manchen Fällen kann dem Suchtverhalten nicht mehr im häuslichen Umfeld begegnet werden, die Patienten müssen erst einmal vom Medium Internet entzogen werden“, sagt Wölfling. Bei stark ausgeprägtem Suchtverhalten wird daher oft eine stationäre Therapie durchgeführt, die sechs bis acht Wochen dauern kann.

Ob stationäre oder ambulante Therapie – Ziel ist die Abstinenz. „Damit ist nicht die komplette Abstinenz vom Internet gemeint, das wäre ja auch völlig lebensfremd“, betont der Experte. „Sondern die Abstinenz vom Problemverhalten. Häufig kommen erst in der Abstinenz die eigentlichen Probleme zum Vorschein, die hinter der Internetsucht liegen – soziale Unsicherheiten oder Versagensängste beispielsweise." In der Therapie lernen Patientinnen und Patienten beispielsweise, ohne exzessives Online-Shoppen, spielen oder Internet-Pornografie zu leben. „Dafür nutzen wir Verhaltens- und Gruppentherapie“, so Wölfling.

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