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Stadtplanung als Gesamtschau

Ein digitaler Zwilling hebt die Stadtplanung auf ein neues Niveau. Davon profitieren Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft gleichermaßen.
Michael Vogel
Symbolbild dreidimensionale Projektion
In der CAVE – einem Raum zur dreidimensionalen Projektion virtueller Welten – können die Forscher Stadtquartiere wie hier das Gelände der Universität in Stuttgart-Vaihingen virtuell begehen.

© picture alliance/dpa/Marijan Murat

In einem zunächst recht unscheinbar wirkenden Raum am Höchstleistungsrechenzentrum Stuttgart (HLRS) gibt es einen Vorgeschmack auf die Stadtplanung von morgen. Hier entstehen ganze Städte als virtuelle 3D-Darstellung. Wer sich ihr mit einer Virtual-Reality-Brille nähert, sieht eine Stadt aus der Vogelperspektive oder steht auf ihren Straßen und Plätzen – im Maßstab 1:1 mit realitätsnahem Umfeld. Was schon optisch beeindruckend ist, hat einen tieferen Sinn: Solche Visualisierungen sollen die Stadtplanung verbessern, weg vom Kleinklein der Einzelmaßnahmen und hin zu einer integrierten Gesamtschau.

„In einer Stadt hängt alles miteinander zusammen – Gebäude, Energie, Umwelt, Mobilität, soziale und ästhetische Aspekte“, sagt Uwe Wössner. Der Ingenieur leitet am HLRS die Abteilung Visualisierung und forscht mit seinem Team und seinen Kooperationspartnern an Methoden, mit denen sich dieser Komplexität bei der Planung und Entscheidungsfindung besser Rechnung tragen lässt.

„Wenn heute ein Areal neu bebaut und gestaltet wird, dann sind daran diverse Fachplanungsbüros beteiligt“, erklärt Wössner. Ein Büro erstellt zum Beispiel den Bebauungsplan mit Gebäuden und Grünflächen, andere sind für das Verkehrskonzept oder die Energie- und Wärmeversorgung verantwortlich. „So entstehen viele Teilergebnisse, oft in Form von zweidimensionalen Plänen und Karten. Aber es entsteht keine integrierte Gesamtschau“, beklagt Wössner. Die Folgen kennen viele vom privaten Hausbau: Auf der Baustelle erweist sich manches als unpraktikabel, was in der Planung problemlos ausgesehen hat. Auf der Ebene der Stadt- und Quartiersplanung ist das Grundproblem ähnlich.

Mann mt VR-Brille in virtueller Umgebung
In der virtuellen Umgebung stehen etliche digitale Werkzeuge zur Verfügung.

© Silicya Roth

Simulieren und visualisieren

Abhilfe würde ein digitaler Zwilling schaffen. „Er besteht aus einem realistischen Modell der Stadt mit ihren Gebäuden und Straßen. Dieses Modell lässt sich dann immer weiter mit georeferenzierten Daten anreichern“, erklärt Wössner. Georeferenziert bedeutet, dass die Daten sich exakt einem Ort im Modell zuordnen lassen. Solche Daten können sehr unterschiedlicher Natur sein: etwa Verkehrsströme, die Konzentration von Stickoxiden, Luftströmungen, der Wasserbedarf städtischer Bäume oder das Müllaufkommen. „Dann lässt sich vieles simulieren und visualisieren, sodass Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft sich ein besseres Bild vom Ist-Zustand und den womöglich geplanten Maßnahmen machen können – bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist“, stellt der Forscher fest.

Wie man sich eine solche integrierte Planung vorstellen kann, verdeutlicht ein 2023 angelaufenes Forschungsprojekt, das vom HLRS und der Universität Stuttgart gemeinsam verwirklicht wird. In dem Vorhaben namens DiTEnS (Discursive Transformation of Energy Systems) wollen die Projektbeteiligten den Gestaltungs- und Entscheidungsprozess für eine nachhaltige lokale Energieversorgung mit digitalen Zwillingen und Visualisierungen erleichtern. Bekanntlich soll die gesamte Europäische Union bis 2050 – Deutschland sogar schon bis 2045 – klimaneutral werden.

Neben dem Sektor der Stromversorgung muss sich dafür auch maßgeblich der Wärmesektor verändern. Denn die Erzeugung von Wärme für Gebäude verursacht in Deutschland ungefähr ein Fünftel der Treibhausgasemissionen und verbraucht ein Drittel der Energie.

Rollstuhlfahrer in CAVE-Umgebung
Mit einem präparierten Rollstuhl lässt sich in der CAVE zum Beispiel testen, ob ein Platz barrierefrei befahrbar ist.

© Silicya Roth

Abwärme für den Campus

Im Forschungsprojekt betrachten Wössner und die weiteren Beteiligten zunächst den Stuttgarter Universitätscampus Vaihingen, der bereits bis 2030 klimaneutral werden soll. Eine wichtige Komponente ist ein Neubau, in der ein neuer Supercomputer des HLRS stehen wird. „Mit der Abwärme dieses Rechners lässt sich im Sommer der gesamte Wärmebedarf des Campus decken, im Winter immer noch rund ein Drittel“, verdeutlicht Uwe Wössner das Potenzial zum Energiesparen. Bislang verpufft die Abwärme der existierenden Rechner des Stuttgarter Höchstleistungsrechenzentrums weitgehend ungenutzt.

In der virtuellen 3D-Darstellung des Uni-Campus steht das neue Gebäude bereits und ist auch im Inneren begehbar. Unterirdisch verlaufen auf dem virtuellen Gelände Rohrleitungen, die das Gebäude mit dem Nahwärmenetz des Campus verbinden, um die Abwärme nutzbar zu machen. „So lässt sich sehr realistisch simulieren, welche technischen Maßnahmen im Bestandswärmenetz sowie möglicherweise an angeschlossenen Bestandsgebäuden erforderlich werden“, erklärt Wössner.

Doch der Campus ist bei DiTEnS nur eine der Fallstudien, um das Thema Energieversorgung mit der Stadtplanung auf neue Weise zu verbinden. Im Rahmen des Projekts sollen weitere Beispielstudien folgen, gemeinsam mit Kommunen aus Baden-Württemberg. Ziel ist es, dass zum Projektende ein digitales Modell und leicht anpassbare Algorithmen für die Einbindung von Daten vorliegen, um digitale Zwillinge rasch für künftige Anwendungsfälle aufbauen zu können. Alles wird Open Source sein, also frei zugänglich.

Verschiedene Interessen vereinen

„Das Thema Energie ist ein Gemeinschaftsakt“, sagt Wössner. Energieversorger, Gerätehersteller, Handwerk, Wohneigentümer und Bewohner haben Interessen, die nicht übereinstimmen müssen. Soll die Wärmewende gelingen, gilt es aber, alle Interessen so gut wie möglich unter einen Hut zu bringen. „Mit Simulationen und Visualisierungen geht das einfacher“, ist der Wissenschaftler überzeugt. Das könne selbst bei so schwierigen Themen wie der Windkraft helfen: „Es macht einen Unterschied für die Akzeptanz vor Ort, ob ich nur die technischen Daten einer Windenergieanlage und ihren Standort genannt bekomme oder ob ich eine realitätsnahe Simulation sehe, um zum Beispiel die optische Anmutung zu beurteilen.“

Cave-Szenario
Folgen und Hemmnisse von Planungen werden dank einer dreidimensionalen Visualisierung greifbar.

 © Silicya Roth

Ein Zwilling von Herrenberg

Die rund 30 Kilometer von Stuttgart entfernte 30.000-Einwohner-Stadt Herrenberg hat in den vergangenen Jahren gemeinsam mit dem HLRS und weiteren Forschungseinrichtungen einen digitalen Zwilling genutzt, um verschiedene Fragen zu klären. Herrenbergs Kernstadt hat aufgrund früherer Planungsentscheidungen ein hohes Verkehrsaufkommen – mit allen Folgen, zum Beispiel Lärm und Luftschadstoffe. Als Vorarbeiten zur Fortschreibung des Verkehrswegeplans simulierte das HLRS-Team aufwendig die Bewegungen von Fahrzeugen und Menschen in der Herrenberger Kernstadt. Dazu speiste es Daten zur Topografie, zum Straßenverlauf und zu realistischen Verkehrsflüssen in den digitalen Zwilling ein und spielte auf dieser Grundlage unterschiedliche Szenarien durch. Die verwendete Simulationssoftware war zweckentfremdet: Für gewöhnlich dient sie zur physikalischen Berechnung von komplexen Strömungen, zum Beispiel an Flugzeugflügeln oder in Motoreinspritzdüsen.

Außerdem erfassten die Projektbeteiligten mit einer App die emotionalen Einschätzungen von Bürgerinnen und Bürgern zu verschiedenen Gegenden ihrer Stadt: „wohnlich“, „unsicher“, „hässlich“ zum Beispiel. Des Weiteren setzte die Stadt auf den Bürgerdialog, ergänzt – als Übersetzungshilfe – um Visualisierungen auf Basis des digitalen Zwillings. Teils geschah das mit mobilen Virtual-Reality-Systemen. So ließen sich auch Gruppen erreichen, die sonst eher nicht auf Dialogformate ansprechen, zum Beispiel Jugendliche oder Menschen, für die Deutsch nicht Muttersprache ist. In der soziologischen Begleitforschung bescheinigten die Teilnehmer der Bürgerdialoge der digitalen Übersetzungshilfe eine positive Wirkung.

„Mit der Stadt Herrenberg arbeiten wir derzeit an einer Erweiterung des digitalen Zwillings“, verrät Wössner. Es geht etwa um weitere Bebauung und die aufwachsende Vegetation in den nächsten zwei Jahren. Wegen der Klimaerwärmung müssen Bäume im Stadtgebiet über den Sommer häufiger gegossen werden. Herrenberg lässt dazu nun testweise Bäume mit Feuchtesensoren ausstatten. Deren Daten sollen per Funk ausgelesen und in den digitalen Zwilling eingespeist werden. So bekäme die Verwaltung einen Überblick und müsste nur dann Personal zum Gießen schicken, wenn es wirklich nötig ist. Das spart Ressourcen.

Im südniedersächsischen Hildesheim assistierte das HLRS im Rahmen einer Dienstleistung. Erneut ging es um den Bürgerdialog. Ein ehemaliges Militärgelände in der 100.000-Einwohner-Stadt war für die städtebauliche Nutzung freigeworden. In der Bevölkerung kamen jedoch Sorgen auf, dass auf dem Areal eine Retortenstadt entstehen könnte. „Mithilfe unserer Visualisierung auf der Basis eines digitalen Zwillings konnten die Verantwortlichen vor Ort diese Bedenken zerstreuen und den Dialog in kooperative Bahnen lenken“, berichtet Wössner. Auch als eines der ersten Gebäude des Quartiers stand und Anwohner über starke Winde klagten, nutzte das verantwortliche Architekturbüro noch einmal die HLRS-Dienste. „Wir konnten mit einer Simulation des gesamten geplanten Quartiers zeigen, dass sich das Thema durch die weitere Bebauung und die wachsende Vegetation innerhalb von zwei Jahren von selbst erledigen wird“, sagt Wössner. „Denn dadurch veränderten sich die Luftströmungen im Gebiet vorteilhaft.“

Stuttgart wiederum ist der Ort eines Verbundforschungsprojekts, welches das HLRS gemeinsam mit dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) durchführt. „Cape Reviso“ lautet der griffige Projektname für das „Cyclist And PEdestrians on REal and VIrtual Shared rOads“.

Zwei Jugendliche in der 3D-Darstellung einer städtischen Umgebung
3D-Darstellungen in der virtuellen Welt erleichtern es, Menschen in die Neugestaltung städtischer Bereiche einzubeziehen.

© HLRS

Die Frage nach Komfort und Sicherheit

Bekanntlich wollen viele Stadtverwaltungen den nicht motorisierten Verkehr – zu Fuß oder mit dem Fahrrad – stärken, um ihre Klimaziele im Verkehrssektor und eine bessere Aufenthaltsqualität zu erreichen. Doch Wissenschaftler wissen, dass die Wahl eines Verkehrsmittels nicht nur von Kosten und Zeitaufwand abhängt, sondern auch von der Frage, ob eine bestimmte Mobilitätsform als angenehm und sicher empfunden wird.

„Will eine Stadt den Fahrrad- und Fußverkehr fördern, muss sie also auch die Unannehmlichkeiten reduzieren“, sagt Wössner. „Dazu kann sie nicht einfach die Unfallstatistik heranziehen, um kritische Stellen zu identifizieren. Denn Ereignisse wie Beinahezusammenstöße werden dort nicht erfasst, beeinflussen aber massiv das Wohlbefinden von Betroffenen.“

Ein Reallabor am Marienplatz

Wie so eine Analyse gelingen kann, untersucht das Cape-Reviso-Team zunächst am Stuttgarter Marienplatz, der als Reallabor dient. Er ist ein zentraler Platz im Süden der baden-württembergischen Landeshauptstadt. Bei ihm gibt es eine U-Bahn-Station, Bus- und Taxihaltestellen sowie die Endstation der Zacke, Stuttgarts Zahnradbahn. Zudem liegt der Marienplatz auf einer der Hauptrouten des städtischen Fahrradverkehrsnetzes. Wochenmärkte finden hier ebenfalls statt. Der Ort ist ein beliebter Treffpunkt. Kurzum: Hier pulsiert das Stadtleben.

Leider kommt es immer wieder zu Konflikten im Verkehr, besonders betroffen sind Menschen, die zu Fuß oder per Rad unterwegs sind. Stuttgart verfügt bereits über einen ständig gepflegten digitalen Zwilling mit unterschiedlichem Detailierungsgrad. Die Idee der Projektpartner war es daher, den Platz möglichst detailgetreu im digitalen Zwilling abzubilden und Realdaten der Verkehrssituation aufzunehmen. „Auf dieser Basis lassen sich dann mögliche Änderungen in der Verkehrsführung zunächst in der Simulation untersuchen“, erläutert Wössner.

Die Erhebung der Daten erfolgt dabei auf drei Ebenen. Mit analytischen Methoden lassen sich die bevorzugten Wege von Radfahrern und Fußgängern am Marienplatz erfassen und potenzielle Gefahrenstellen identifizieren. Das ist sozusagen die Metaperspektive. Zudem rüsten Freiwillige ihre Räder mit GPS und Abstandssensoren aus, tragen Sensoren am Handgelenk und nutzen eine App am Lenker, um Gefahrensituationen unmittelbar zu erfassen. Über den Sensor am Handgelenk lassen sich etliche physiologische Daten wie Puls und Hautwiderstand messen. Die teilnehmenden Fußgängerinnen und Fußgänger sind entsprechend ausgerüstet, nur dass sie die Abstandssensoren in Rucksäcken auf dem Rücken tragen. Die gemessenen physiologischen Daten lassen sich also den Ereignissen in der Umgebung räumlich zuordnen.

Kameras mit Künstlicher Intelligenz

Zudem montierte das HLRS-Forscherteam Kameras am Marienplatz, um die Bewegungen im Rad- und Fußverkehr automatisch zu erfassen. „Sie arbeiten mit Künstlicher Intelligenz und müssen deshalb keine Bilder speichern“, erklärt Wössner die Datenschutzkonformität der Installation. Die Datenverarbeitung erfolgt unmittelbar in den Kameras. Sie speichern dann nur anonymisierte Metadaten über die Verkehrsteilnehmer und deren Verhalten: Geht jemand zu Fuß oder ist er mit dem Rad unterwegs? Fährt er, bremst er oder steht er? Mit dieser umfangreichen Datenerhebung sorgen die Wissenschaftler des HLRS für valide Simulationen.

Parallel zu dem Labor am Stuttgarter Marienplatz gibt es im Rahmen des Projekts „Cape Reviso“ inzwischen zwei weitere Reallabore in Karlsruhe und Herrenberg. Die Fragestellung, der die Forscher nachgehen, ist an allen drei Orten identisch.

Die Stadtplanung der Zukunft ist also digital. Statt Präsentationen und Plänen gibt es Visualisierungen von geplanten Veränderungen. Virtuelle 3D-Darstellungen heben das Ganze nochmals auf ein neues Niveau. Und hinter all dem steht der digitale Zwilling als wachsendes Modell der Stadt. „Dank solcher Technologien können wir Menschen anschaulich in die Gestaltung des städtischen Raums einbeziehen und liefern ideale Voraussetzungen für die Planung“, sagt HLRS-Experte Wössner. „Immer mehr Kommunen erkennen dieses Potenzial.“

Dieser Artikel ist Teil einer Sonderpublikation in Kooperation mit dem Höchstleistungsrechenzentrum Stuttgart (HLRS). Hier finden Sie das vollständige bild der wissenschaft extra zum Download.

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