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Flamenco - Leidenschaft pur! (Podcast 108)

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Flamenco ist Substanz, hat Substanz und geht an die Substanz. Flamenco ist Leben, gibt Leben, handelt über das Leben. Er ist tiefste Emotion, der Spiegel der Seele. Flamenco ist Faszination. Und neuerdings auch Kulturerbe der Menschheit. Das hat die Weltkulturorganisation UNESCO bei ihrer Konferenz in der kenianischen Hauptstadt Nairobi beschlossen

Flamencotänzer Use Gonzales-Reyes sagte einmal: „Flamenco ist für mich einfach alles – mein Leben, meine Kunst, meine Kultur – ohne diesen Tanz wäre ich nicht der Mensch, der ich jetzt bin.“

Im Flamenco fließen die Lebensgeschichten ganzer Generationen zusammen, aber auch verschiedene Stile. Im Laufe der Jahre brachten Phönizier, Griechen, Araber, Römer, Sinti und Roma ihre Einflüsse nach Andalusien, und die einzelnen Merkmale vermischten sich; so sehr, dass heute niemand mehr genau sagen kann, wo die Ursprünge des Flamenco zu suchen sind. Man munkelt unter anderem, er sei entstanden, als sich die Musizierweise der Gitanos, der Sinti und Roma, mit der andalusischen Volksmusik mischte.

Die Gitanos kamen erstmals 1425 nach Spanien. Von Anfang an sahen sie sich dort schweren Repressalien ausgesetzt. Mit Gesetzen wollte man sie beispielsweise zwingen sesshaft zu werden und sie durften keine traditionellen Berufe ausüben. Erst 1783 gestand ihnen Karl III. mit dem letzten „Zigeunergesetz“ eine gewisse Würde zu. Gitanos, die in der flandrischen Armee dienten, nahm Karl III. unter besonderen Schutz. Daher soll auch der Name Flamenco stammen: Es ist das spanische Wort für Flame.

Und das feurige andalusische Lebensgefühl kommt auch in Deutschland an.

Bei einem Auftritt des Flamenco-Duos Antonio Andrade und  José Parrondo in der rheinland-pfälzischen Kleinstadt Schifferstadt kamen über hundert Gäste in die Kirche St. Jakob, um sich von den Klängen des ursprünglichen, Flamenco ergreifen zu lassen.

Was ist das Geheimnis des Flamenco? Warum kann er international verstanden werden?

Flamenco ist etwas für Mutige. Denn die Musik, der Tanz, der Rhythmus haben viel mit Ausdruck und Gefühl zu tun, weit mehr als in der klassischen Musik. Flamenco kann ein Ventil sein, Dampf abzulassen, wenn nötig. Für Andrade ist das eine Form, mit den schönen und hässlichen Dingen des Lebens umzugehen. Und das Schöne daran, sagt Andrade: Man tröstet sich in Gemeinschaft. Wenn der Moment es erlaube, spüre man einander emotional, verstehe einander. Und das umso mehr, wenn man den gleichen kulturellen Backround habe, sich kenne, die gleichen Probleme teile, vom andern wisse.

Diese Emotionen kommen auch beim Publikum an.

Wenn man Flamenco hört, stellen sich einem die Härchen auf, der Körper lädt sich mit Spannung auf, will mit einstimmen, will dem, was die Musiker emotional ausdrücken, zustimmen, aufstehen, rufen: Jawohl! Oder „Olé!“ wie es die Spanier tun. Das Wörtchen bedeutet soviel wie Genau, ja, bravo!

Es ist diese typisch spanische Reaktion auf das, was auf der Bühne passiert. Eine Reaktion, die zeigt, dass man Flamenco begriffen hat.

Parrondo und Andrade verstehen sich in der Musik emotional. Sie tragen einander, greifen musikalisch die Gefühle des Gegenübers auf.

Wenn Andrade Gitarre spielt, flitzen seine Finger nur so über die Saiten als wäre es ein Leichtes. Man sieht kaum, dass sie sich bewegen. Er schließt die Augen, hebt den Kopf Richtung Himmel, verzerrt das Gesicht, verzieht den Mund.

Was er wohl fühlt? Parrondo schaut ihn an und bekräftigt sein Spiel mit dem einen oder anderen „Olé“, oder er klatscht. Und wenn Parrondo singt, schaut Andrade ihn aufmunternd oder zustimmend an, lächelt, nickt - und wippt mit, wenn Parrondo sich mit immer mehr Energie aufpumpt. Parrondo ballt die Fäuste, schlägt mit dem Fuß auf dem Boden, singt immer eindringlicher als wollte er jemandem etwas einbläuen.

Man glaubt, er würde jeden Augenblick explodieren – oder zumindest aufstehen und zu tanzen beginnen, um der Energie erst richtig freien Lauf zu lassen. Aber das ist nicht nötig: Die Stimme gibt alles her, was er braucht, um sich von den Emotionen zu befreien, die ihn eben noch so sehr ergriffen hatten.

Das ist Flamenco: ein geteiltes Lebensgefühl, Freude, Leid, Schmerz, Hoffnung. Die Olé-Rufe, schöne Kleider, der Stepptanz und die gefühlsverzerrten Gesichter sind im Flamenco nur wie Gewürze in dem gewaltigen Gefühlsteig. Auch ist Flamenco nicht bloß Erotik, wie viele meinen. Sondern Emotionen jeder Art (die die tiefsten und verwundbarsten Bereiche des Herzens erreichen – diesen Zusatz finde ich etwas zu poetisch. Den könnte man eventuell auch weglassen) – vorausgesetzt, man ist bereit, sich zu öffnen und das Leben auf diese Art und Weise zu spüren.

Flamenco ist ein Konglomerat der Gefühle, Erlebnisse einer ganzen Gruppe oder Familie, die von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Für Andrade ist es wichtig, dass der Mensch weiß oder zumindest erahnt, woher er kommt. Die Kenntnisse über die Wurzeln seien wichtig für Gegenwart und Zukunft. Nicht zuletzt deshalb, weil man von der Vergangenheit, die die Flamencotexte besingen, lernen könne. „Sie enthalten sehr viel Weisheit“, sagt der Musiker.

Für die Missa Flamenca hat Parrondo überlieferte Mess-Texte mit verschiedenen Flamenco-Stilen verknüpft. Das Kyrie beispielsweise ist im Nana-Stil, im Stil eines Wiegenliedes gehalten.

Das Vaterunser der Missa Flamenca lehnt an die spanische Folklore an, der Stil heißt Fandango, der je nach Region eine eigene Prägung hat.

Die Dreierrhythmen sind charakteristisch für den Fandango. Typisch ist auch, die Musik so sehr zu verlangsamen bis sie sich vom Rhythmus weitgehend löst, wie hier im Gesang von Parrondo zu hören ist.

Wenn Parrondo eine Silbe über mehrere Töne singt, nennt man das Melismen-Gesang. Das gibt es im spanischen Folkloregesang nicht. Anders als bei der Folklore geht der Flamenco in die Tiefe. Folklore kann zudem in einer Gruppe gesungen werden und ist meist fröhlichen Charakters. Der Flamenco wird von einer Person gesungen, sie muss sich ganz allein mit Musik und Text auseinandersetzen. Die Kastagnetten, die in der folgenden Musik gut rauszuhören sind, werden vor allem bei folkloristisch angehauchtem Flamenco hergenommen.

Anfangs drückten die Gitanos Schmerz, Wut und Enttäuschung im Gesang aus. Später erst kamen Tanz und Kastagnetten dazu. Künstlerisch und professionell wurde er erst Mitte des 19. Jahrhunderts. Er entwickelte sich weiter und nimmt heute auch komplett andere Stile mit auf, gern z.B. Jazz.

Manche Flamenco-Puristen gefällt das gar nicht, wenn man den Flamenco mit anderen Stilen mischt. Aber die Entwicklung ist nicht aufzuhalten. Andrade ist überzeugt, dass sich der Flamenco nicht entwickelt, weil man nach Neuem sucht, sondern weil jede Zeit einen anderen Lebensstil impliziert, andere Möglichkeiten bietet. Wurden Texte beispielsweise damals mündlich überliefert, sind sie heute zu großen Teilen im Internet zu finden.

Auch die Gitanos haben ihren Flamenco entwickelt und damit ihre lang ersehnte Anerkennung zumindest auf diesem Gebiet gefunden.

Um diese Kunst zu verstehen, muss man sie erleben, sich ihr ausliefern. Dann entdeckt man ihre Seele – und die eigene auch.
 

Dorothea Treder, wissen.de-Redaktion

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