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Stockhausens Gesang der Jünglinge: Musik aus dem Mischpult

Was versteht man unter elektronischer Musik?

Elektronische Musik zu komponieren bedeutet, Klangmaterial zu Strukturen zusammenzusetzen (lateinisch »componere«), und zwar Klangmaterialien, die der Komponist mit Hilfe elektronischer Apparaturen wie Tongeneratoren synthetisch gewinnt, verarbeitet und auf einem Trägermedium fixiert. Mit der Wiedergabe über Lautsprecher wird die Vermittlerfunktion des Interpreten hinfällig. Keine Musik distanziert sich dermaßen radikal von den traditionellen Formen des Komponierens wie die elektronische Musik. Das Tonstudio wird gleichsam zum »Instrument«, das »bespielt« wird. Einer der Pioniere der elektronischen Musik ist Karlheinz Stockhausen (geb. 1928), der 1956 mit dem »Gesang der Jünglinge im Feuerofen« sein bekanntestes Werk dieser Art vorstellte.

Was war das Ziel der musikalischen Avantgarde?

Sie wollte zu Beginn der 1950er Jahre elektronische Klangräume erfassen und erforschen. Hier ging es nicht um überlieferte Techniken der Kunst, sondern um Technik als Kunstmedium. Das Mischpult des Tonstudios avancierte zur Schaltzentrale zwischen Idee, Experiment und Umsetzung. Das erste Studio dieser Art wurde 1951 in Köln beim NWDR (heute WDR) eingerichtet, das rasch seinen Ruf als »Mekka« der elektronischen Musik festigte.

Welche programmatischen Ansätze gab es?

Während sich in Frankreich die musique concrète darauf spezialisierte, Bandaufnahmen von Umweltgeräuschen aller Art zu einer Collage zu montieren, bevorzugte man in Deutschland dagegen abstraktes Material, das sich aus reinen Tönen wie zum Beispiel Sinusschwingungen, Geräuschen wie dem »weißen Rauschen«, Tongemischen und Impulsen gewinnen lässt. Mit beiden Ansätzen waren programmatische Gegensätze formuliert, deren Schärfe sich aber sehr rasch abnutzte und mittlerweile gegenstandslos geworden ist.

Worin besteht der Reiz der elektronischen Musik?

Das Einzigartige besteht in der Unwiederholbarkeit der entstehenden Klangwelt. Alles, was Tongeneratoren erzeugen und Filter weiterverarbeiten, was durch Rückkopplung, Transposition, Verhallung, Zerhackung, Übereinanderschichtung, Wiederholung und zeitliche Spreizung oder Stauchung transformierbar ist, dient als Baumaterial. Die Klangfarben traditioneller Instrumente liegen fest; die Klangfarben der elektronischen Musik müssen für jeden speziellen Anlass hergestellt werden, sind Teil variabler Parameter wie Tonhöhe, Tondauer, Lautstärke, Gruppencharakteristik, deren Mischungsverhältnis die unverwechselbare Eigenart der elektronischen Komposition bestimmt. Allein die Verarbeitung des Materials ist entscheidend, nicht das Material selbst.

Wie entstand der »Gesang der Jünglinge«?

Karlheinz Stockhausen war ab 1953 ständiger Mitarbeiter im Kölner Tonstudio und übernahm zehn Jahre später dessen Leitung. Nach ersten Versuchen mit »Studie I« und »Studie II« plante er eine Messe für elektronische Klänge und Stimmen, der er den »Gesang der Jünglinge im Feuerofen« aus den Apokryphen zum Buch Daniel zugrunde legte. Stockhausens Vorhaben bestand darin, die synthetischen Klänge und die gesungene Sprache zu einer Synthese zu führen. Er nahm sich vor, die von einer Knabenstimme gesungenen Texte durch Bearbeitung in ein gemeinsames Klangkontinuum mit den elektronischen Klängen einzuschmelzen.

Welche kompositorischen Mittel wurden verwendet?

Stockhausen schuf eine Art Klangfarbenskala, die auf verschiedenen Stufen zwischen den Extremen Klang/Vokal und Konsonant/Geräusch vermittelte. Die kompositorische Feinarbeit bestand nun darin, das gesungene Material bis in die Lautzusammensetzung hinein zu verändern. Das bedeutete konkret, dass er Worte, Silben, ja sogar Lautelemente in den Silben austauschte und dass er Sprach- und Klangelemente mischte. Darüber hinaus schuf er mit Hilfe des Multiplayback-Verfahrens chorische Wirkungen. Das Resultat sind verschiedene Grade der Textverständlichkeit, die zwischen reinem Klang und Sprache liegen.

Welche Reaktionen gab es auf den »Gesang der Jünglinge«?

Begeisterter Beifall und lautstark-radikale Ablehnung begleiteten die Uraufführung des »Gesangs der Jünglinge«, Stockhausens erstes geistliches Werk, das ursprünglich im Kölner Dom vorgestellt werden sollte, was allerdings vom erzbischöflichen Generalvikariat verweigert wurde. So mussten sich die Zuhörer für die revolutionären Klänge dieser ersten elektronischen Raummusik am 30. Mai 1956 mit dem Studio des Funkhauses begnügen.

Was macht das Stück zu einem geistlichen Kunstwerk?

Der permanente Austausch von Lauten und Klängen entspricht genau der geistlichen Textstruktur – was Kritiker allerdings nicht davon abgehalten hat, die Zerstörung des Textes zu monieren. Der »Gesang« besteht aus ständigen Wiederholungen der Versanfänge »Preise den Herrn« beziehungsweise »Jubelt dem Herrn« und stetig wechselnden Subjekten. Auch das Konzept der Raumkomposition, das heißt die Verteilung der Klänge auf fünf um die Zuhörer verteilte Lautsprecher, setzt den Gehalt der Dichtung, der im universalen Lobpreis Gottes besteht, um. Die Komposition ist ein geistliches Kunstwerk von hohem Rang, das in dieser Form allerdings nur außerhalb der Kirche »aufführbar« ist.

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Stockhausen eine grafische Notation erfand, die dem ausführenden Musiker mehr kreativen Spielraum lässt als die herkömmliche Notenschrift?

unter den 70 Personen der Zeitgeschichte, die auf dem Cover des Beatles-Albums »Sergeant Pepper's Lonely Hearts Club Band« zu sehen sind, sich auch Stockhausen befindet?

Was waren wichtige Stationen in Stockhausens Laufbahn?

Karlheinz Stockhausen wurde am 22. August 1928 in Mödrath bei Köln geboren und studierte von 1947 bis 1951 an der Musikhochschule Köln Musikpädagogik und Klavier. Seither hat er als Komponist, Dirigent, Hochschuldozent und Verfasser einer Reihe von musiktheoretischen Schriften wichtige Anstöße für die Entwicklung der modernen Musik gegeben. Nach einem Ausflug in die serielle Musik – die auf Zahlen- und Proportionsreihen basiert – zu Beginn der 1950er Jahre verband ihn zwischen 1953 und 1998 eine intensive Zusammenarbeit mit dem Studio für Elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks. Er verschrieb sich dort ganz der elektroakustischen Musik und mit dem »Gesang der Jünglinge« entstand dort im Jahr 1955 auch sein bislang wohl bekanntestes Werk.

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