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Kommt bald die Schule ohne Hausaufgaben?

Der Streit um die Hausaufgaben gehört in vielen Familien in Deutschland genauso zum Nachmittag wie Kaffee und Kuchen. Trotzdem hat jahrzehntelang kaum jemand den Nutzen der leidigen Pflichtübung in Frage gestellt. Erst mit dem Ausbau der Ganztagsschulen ist die Frage nach Sinn und Unsinn von Hausaufgaben auf der pädagogischen Agenda gelandet, an immer mehr Schulen lösen „Lernzeiten“ und andere Übungsangebote die traditionellen Hausaufgaben ab. Das fördert nicht nur den häuslichen Frieden, sondern verspricht auch eine individuellere Förderung der Schüler.
von wissen.de-Autorin Alexandra Mankarios

Pädagogisches Ritual aus der Kaiserzeit

Schule historisch
shutterstock.com/ChipPix
Sie sollen Gelerntes vertiefen, Gelegenheit zum Üben bieten und zum selbstständigen Lernen anregen – und Disziplin und Pflichtbewusstsein schärfen sie angeblich auch. Hausaufgaben sind in Deutschland regelrecht ein Kulturgut. Fast unvorstellbar, dass Lernen auch ohne die nachmittägliche Sitzung am heimischen Schreibtisch funktionieren kann.

Die historischen Wurzeln der deutschen Hausaufgaben reichen bis ins Kaiserreich des 19. Jahrhunderts zurück. Kinderarbeit, vor allem in der Landwirtschaft, war damals alltäglich, außerdem mussten viele Schulen im Schichtbetrieb arbeiten, um allen Schülern einen Unterrichtsbesuch zu ermöglichen. Als Anpassung an diese gesellschaftlichen Bedingungen wurde die zuvor übliche Ganztagsschule abgeschafft und durch die Halbtagsschule ersetzt. Um den Lernstoff nicht ebenfalls zu halbieren, mussten die Schüler zu Hause weiterlernen – die klassischen Hausaufgaben waren geboren.

Heute ist Kinderarbeit abgeschafft und die Anzahl der Schulen mehr als ausreichend, der Hausaufgaben-Ritus ist trotzdem ungebrochen. Wie fest er verwurzelt ist, zeigt sich zum Beispiel daran, dass sich die pädagogische Forschung jahrzehntelang nur wenig mit dem Thema beschäftigt hat. Auch in der Lehrerausbildung spielten Hausaufgaben kaum eine Rolle, und schulinterne Konzepte zu Art, Inhalt und Umfang der Nachmittagsarbeit waren jahrelang eine Rarität.

Wissenschaftler allerdings bezweifeln zunehmend den Nutzen der häuslichen Übungen. 2008 etwa fand eine Studie der Technischen Universität Dresden heraus, dass Hausaufgaben kaum Auswirkungen auf die Leistung der Schüler haben. "Gute Schüler werden durch Hausaufgaben nicht unbedingt noch besser", fasste damals der Erziehungswissenschaftler Hans Gängler von der TU Dresden zusammen, "und schlechte Schüler begreifen durch bloßes Wiederholen noch lange nicht, was sie schon am Vormittag nicht richtig verstanden haben". Das Fazit der Dresdner Wissenschaftler: Hausaufgaben seien nur ein „pädagogisches Ritual“ und sollten am besten durch andere Lernangebote ersetzt werden.

 

Hausaufgaben zurück in die Schulen holen

Frischen Wind in die Hausaufgaben-Debatte bringt der Ausbau der Ganztagsschulen, denn es gilt der Grundsatz, dass Schüler, die erst um 16 Uhr aus der Schule kommen, keine Aufgaben mehr mit nach Hause nehmen sollen. Die Lösungen, die die Schulen für die Hausaufgaben-Frage finden, hängen eng mit ihrem pädagogischen Gesamtkonzept zusammen. „Man kann sogar sagen, dass der Umgang mit Hausaufgaben ein Indikator für die Lernkultur ist, die an einer Schule herrscht“, erklärt Ilse Kamski vom Institut für Schulentwicklungsforschung an der Technischen Universität Dresden.

Kamski begleitet bundesweit Schulen beim Ausbau ihres Ganztagsangebots. Sie kennt den langen Weg, mit dem sich die Schulen von der gewohnten Hausaufgaben-Praxis verabschieden. „Das Fernziel besteht darin, die Hausaufgaben wieder in den Unterricht zurückzuholen. Viele Schulen entscheiden sich aber zunächst dafür, feste ‚Lernzeiten’ mit einer Art der Hausaufgabenbetreuung anzubieten. Meist stellen sie dann fest, dass das mit viel Aufwand verbunden ist, aber immer noch wenig mit dem Unterricht zu tun hat.“ Unter anderem sei die Kommunikation zwischen Betreuern und Fachlehrern häufig sehr schwer zu organisieren.

„Gebundene Ganztagsschulen, die etwas weiter in ihrer Entwicklung sind, verzichten vollständig auf Hausaufgaben und bauen Übungsphasen – denn das ist ja der Zweck von Hausaufgaben – direkt in den Unterricht ein“, erzählt Kamski. Der „Trick“, der an den Schulen solche Übungsphasen ermöglicht: Anstelle des traditionellen 45-Minuten-Rhythmus stellen sie auf längere Unterrichtseinheiten von etwa 60 oder 80 Minuten um – genug Zeit für jeden Schüler, um das Gelernte intensiv und selbstständig zu bearbeiten. Stellt die Schule dazu noch passende Übungsmaterialien bereit, ist die Rhythmus-Umstellung zugleich ein wichtiger Schritt hin zum individualisierten Lernen, bei dem jeder Schüler die Themen und Aufgaben bearbeitet, die genau auf seinen Lernstand zugeschnitten sind.

 

Ein bisschen Arbeit für zu Hause bleibt

Schülerin bei den Hausaufgaben
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Auch die renommierte Hamburger Max-Brauer-Schule verzichtet auf Hausaufgaben. Der Unterricht läuft im 90-Minuten-Rhythmus, die Schüler bearbeiten in ihrem eigenen Lerntempo Themen und Projekte – ein Gesamtkonzept, in dem es für klassische Hausaufgaben nach dem Schema „Bis übermorgen Aufgabe 3 a bis h“ keinen Platz gibt. Trotzdem sitzt der 15-jährige Max mitunter nach der Schule noch am Schreibtisch, zum Beispiel um seinen Bericht vom Schulpraktikum fertig zu schreiben. „Dafür gibt es auch in der Schule Zeiten, aber die reichen nicht aus, deshalb schreiben die meisten zu Hause weiter“, erzählt Max’ Mutter Monika Bauer.

Auch wenn Vokabellernen oder Projektarbeiten wie der Praktikumsbericht doch immer wieder dazu führen, dass Max nach der Schule noch an den Schreibtisch muss – den täglichen Kampf um die Hausaufgaben kennt Bauer nur noch aus Max’ Grundschulzeit, sie ist froh, dass sie ihn nicht mehr führen muss. „Eltern sind ohnehin schlechte Hausaufgabenbetreuer“, ist sie überzeugt, „weil da so viel anderes mit hineinspielt, zum Beispiel Trotz. Wir haben damals um jede halbe Stunde gefeilscht. Außerdem gibt es zu Hause viel mehr Ablenkung als in der Schule – denn da lernen eben alle, das fällt einfach viel leichter als zu Hause.“

 

Die Zukunft gehört der Ganztagsschule

Auch wenn heute erst ein Teil der Schüler in Deutschland wie Max in der Schule übt statt Hausaufgaben zu machen, ist Ilse Kamski von Institut für Schulentwicklung überzeugt, dass der Trend nicht mehr aufzuhalten ist. "Ich persönlich bin überzeugt, dass wir irgendwann flächendeckend in Deutschland nur noch gebundene Ganztagsschulen haben werden, und dass die meisten Schulen ihre Lernkultur stark weiterentwickeln werden. Ich kann nicht sagen, wann das sein wird, aber wenn die Deutschen etwas anfangen, machen sie es sehr akribisch und planen es durch."

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