Mit Parteien hat man nicht nur zu den Wahlen zu tun. Sie wirken generell an der "politischen Willensbildung“ mit, wie es im Grundgesetz heißt, und durchdringen daher unseren Alltag. Dabei sind sie ein so selbstverständlicher Teil unserer Lebenswirklichkeit, dass man nur selten hinterfragt, woher Parteien eigentlich kommen und von wem sie ursprünglich gegründet wurden. Überraschenderweise gehen nicht wenige Parteien auf Bürgerinitiativen zurück. Wir haben uns drei besonders hervorstechende Beispiele der letzten dreißig Jahre angeschaut. Hören Sie dazu den Beitrag "Grüne, Rechte und Piraten“.
Wie finden Bürgerinitiativen zusammen oder Wird jede Bürgerinitiative auch eine Partei?
Bürgerinitiativen haben meist einen recht konkreten Anlass. Es hat sich etwas ereignet, das nach Meinung der Akteure von der Politik nicht oder nicht im geeigneten Umfang aufgegriffen worden ist. Um diese Entwicklung zu korrigieren und um der eigenen Meinung eine Stimme zu geben, können sich Gruppierungen bilden. Diese kommen meist ganz spontan zusammen, z. B. während eines Stadtteilfestes, oder anlässlich eines launigen Grillabends in der Nachbarschaft, bei dem die missliebige neue Startbahn des nahen Flugplatzes zum Thema wird. Möglicherweise ist auch eine Kleinanzeige oder der Eintrag in einem Internet-Diskussionsforum die Ursache – jemand sucht Gleichgesinnte, und es melden sich mehr, als zunächst gedacht. Doch eine richtige Initiative kommt eigentlich erst dann zustande, wenn über eine singuläre Aktion hinaus gedacht wird – wenn es um mehr geht, als einmal einen Infostand oder eine Demo zu organisieren. Dann geht es nämlich um Nachhaltigkeit, und aus dem einmaligen Anlass wird dauerhaftes Engagement. Das aber muss organisiert werden. Es gibt bestimmte Aufgaben, die verteilt werden müssen. So braucht jede Initiative einen guten Draht zu den Medien, um ihr Anliegen zu kommunizieren, und es sollten Informationen (per Website, Handzettel oder als Broschüre) zusammengestellt und verteilt werden. Da gibt es also schnell ganz schön etwas zu tun.
Dennoch: Nicht aus jeder Initiative wird gleich eine Partei. Das liegt schon daran, dass Initiativen meist nur ein Anliegen haben – eben jenes, weswegen sie gegründet wurden. Parteien aber sind umfassend aufgestellt. Sie bündeln nicht nur vielschichtige Meinungen zu den unterschiedlichsten Themen, sondern sie wollen ganz konkret politischen Einfluss erreichen. Deswegen verfassen sie Grundsatzprogramme, stellen Kandidaten auf und stellen sich dann auch zur Wahl. Die Geschichte der Bundesrepublik kennt mehrere solcher Beispiele.
Die NPD oder Angst vor dem Wandel
Bonn, 28. September 1969. Eine historische Bundestagswahl: Erstmals in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands stellen die Unionsparteien nicht mehr den Bundeskanzler. Die bisherige Große Koalition unter Kurt-Georg Kiesinger wird abgelöst und Willy Brandt zum Bundeskanzler gewählt. Es herrscht Aufbruchsstimmung – zumindest bei den Anhängern des Wechsels. Da schreckt eine kleine Nachricht die Feuernden auf: Die NPD hat 4,3% der Stimmen erzielt. Wegen der Fünf-Prozent-Klausel kann sie nicht in den Bundestag einziehen, aber es stellt sich trotzdem die Frage, wie es dazu kommen konnte.
Rückblick auf die 1960er Jahre. Ein wechselhaftes Jahrzehnt, das politische Attentate ebenso gesehen hat wie die Beatles, den Vietnam-Krieg und die Mondlandung. In Deutschland reizt die seit 1966 bestehende Große Koalition zum Widerstand. Die Studentenbewegung formiert sich und stellt alles in Frage, was der Adenauer-Generation lieb und teuer war. Neben erbittertem Widerstand bewirkt diese Entwicklung, die zu einer Außerparlamentarischen Opposition führt, vor allem eins: Verunsicherung. Das Wirtschaftswunder ist abgeflaut und führt zu einer ersten, sehr ängstlich aufgenommenen Wirtschaftskrise. Die sog. "Gastarbeiter“ geraten zunehmend in Verruf; weil sie angeblich den deutschen Arbeitnehmern den Job wegnehmen würden. Das Stichwort von der "Überfremdung“ macht die Runde – man wäre nicht mehr "Herr im eigenen Haus“. Und nun droht ein sozialdemokratischer Bundeskanzler, dem manche den Verrat bundesrepublikanischer Interessen zutrauen. In diesem Klima kann die NPD, die Nationaldemokratische Partei Deutschlands, erstarken. Sie wurde 1964 gegründet und ging im wesentlichen aus der Deutschen Reichspartei hervor, rekrutierte ihre Mitglieder und Funktionäre aber auch aus kleinen Gruppierungen und Splittergruppen, zu denen auch Bürgerinitiativen gehörten. Es ging um nationalistisch-revisionistische Überzeugungen, etwa um die Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Grenze und damit um eine Beibehaltung aller Ansprüche, was die "Ostgebiete“ des Deutschen Reichs betraf. Und es ging – mehr oder weniger offen vorgetragen – um Hetze gegen Ausländer. Die NPD vertrat eine Linie, die wie ein Gegengewicht zum sich aufhellenden politischen Klima der Zeit funktionieren sollte und dies zumindest teilweise auch tat. Bei der baden-württembergischen Landtagswahl am 28. April 1968 gelang es der NPD, mit 9,8 Prozent in den Landtag einzuziehen. Ihre Mitgliederanzahl wuchs stetig, mitunter sogar rasant. Würde es ihr gelingen, sich auf Landesebene als einflussreiche Kraft zu etablieren? – Das Gegenteil war der Fall. Bis 2009 gelang es der NPD nicht, oberhalb der kommunalen Ebene die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen. Sie bleibt zwar die stärkste Partei des rechtsextremen Lagers, wird aber vom Verfassungsschutz beobachtet und ist immer wieder kurz davor, aufgrund ihrer antidemokratisch-rassistischen Ausrichtung verboten zu werden. Zweifelsohne aber spiegelt sie die Ansichten eines kleinen Teils der bundesrepublikanischen Bevölkerung wider.
Die Grünen oder Wenn der Turnschuh zum Politikum wird
Wiesbaden, 12. Dezember 1985. Ein neues Landesparlament wird vereidigt – ein Routinevorgang, dem eigentlich nicht viel Aufmerksamkeit zuteil wird. Doch diesmal ist etwas anders. Es ist einer unter den zukünftigen Ministern, der eine neue Partei repräsentiert, und der dies mit einem harmlosen Detail zeigt, über das am nächsten Tag nicht nur das politische Deutschland spricht. Denn am diesen Tag wird durch die Vereidigung von Joschka Fischer zum hessischen Umweltminister die erste rot-grüne Koaltion auf Länderebene besiegelt, und Fischer trägt dem Anlass entsprechend Turnschuhe. Ganz so verbissen staatstragend wie die anderen Volksvertreter wollen die Grünen zu diesem Zeitpunkt nämlich noch nicht sein, dazu verstehen sie sich viel zu sehr als "Anti-Parteien-Partei“
Rückblick auf die 1970er Jahre. Das Jahrzehnt der Ölkrise, des Terrorismus, aber auch das einer wirtschaftlichen Konsolidierung und einer immer breiteren kulturellen Vielfalt. Politik wird in einem geringeren Maß den Parteien überlassen – vor allem da, wo es richtig wehtut. Zu diesem Zeitpunkt sind das vor allem Fragen der Ökologie und der Friedenssicherung, thematisiert werden aber auch der Umgang mit der 3. Welt und die Gleichberechtigung der Frauen. Doch der Umweltschutz steht besonders im Fokus – insbesondere wegen der höchst umstrittenen Kernenergie. Die etablierten Parteien ignorierten das Thema. Die Kernkraft galt als unverzichtbar und wurde durchgesetzt – mitunter gegen beträchtliche Widerstände. Dabei kam es zu erstaunlichen Solidarisierungen über alle Grenzen hinweg. Alter, Bildung, auch allgemeine politische Ausrichtung spielten kein Rolle, wenn es darum ging, den Bau eines AKWs zu verhindern oder – wie in Brokdorf – zumindest erbittert Widerstand zu leisten. Der zumindest teilweise Erfolg führte nicht nur zu einer weiteren Sensibilisierung der Öffentlichkeit, sondern auch auf kommunaler Ebene zu ersten Wahlbündnissen und Wählergemeinschaften. Bei den Bürgerschaftswahlen in Bremen kommen 1979 mit vier Mandaten erstmals Grüne in ein Landesparlament. Verschiedene "bunte“ oder "alternative“ Listen bildeten sich, rangelten miteinander, schlossen aber auch Bündnisse. Letztlich zwang die Fünf-Prozent-Hürde alle Beteiligten, sich in einem größeren Kontext zu organisieren, und so wurde am 12. und 13. Januar 1980 in Karlsruhe die Bundespartei Die Grünen gegründet. Bereits im März ziehen Die Grünen in den Landtag von Baden-Württemberg ein. Bei der vorgezogenen Bundestagswahl 1983 schafft die Partei 5,6%. Nachfolgend kam es zu Erfolgen bei der Europawahl und zu ersten Formen von Zusammenarbeit mit der SPD auf kommunaler Ebene. Trotz vieler Rückschläge war die Entwicklung nicht aufzuhalten – und führte über die hessische Koalition Stück für Stück in die Regierungsverantwortung. 1998 kam es schließlich zur Koalition auf Bundesebene, und der Ausstieg aus der Atomenergie war beschlossene Sache. Das hätte sich Joschka Fischer, der ganz ohne Turnschuhe zum Umweltminister vereidigt wurde, sicher nicht träumen lassen. Er trug Anzug.
Die Piratenpartei oder Finger weg von meinen Daten
Berlin, irgendwann im Herbst 2013. Die Bundestagswahl findet statt. Erstmals erzielt eine kleine, bislang nur am Rande wahrgenommene Partei mehr als fünf Prozent. Es ist die im Herbst 2006 gegründete Piratenpartei, die sich als Sprachrohr der Informationsgesellschaft versteht. Ihre Mitglieder sind auffällig jung und meist sehr aktive Internetnutzer; sie kennen daher die Fallstricke des Netzes sehr gut, die nicht selten mit Copyrightverletzungen zu tun haben. Die Partie setzt sich – sehr zum Ärger der Industrie – für eine Stärkung des Privatkonsumenten ein, eine Position, die zumindest teilweise mit dem geltenden Recht in Widerspruch steht, und sie wendet sich gegen den "Schnüffelstaat“, gegen die Einschränkung von Bürgerrechten und gegen Zensur in jeder Form. Die etablierten Parteien sind konsterniert. Ihre Funktionäre sind oft an den Mitteln des Internets desinteressiert; sie setzen auf die tradierten Wege der Informationsvermittlung. Doch die Zeiten haben sich gewandelt, und "das Netz“ ist ein idealer Weg, um Gleichgesinnten eine Stimme zu verschaffen. Die zunächst nur als Zusammenschluss von Betroffenen agierende Piratenpartei ist plötzlich ein bundesweit agierender Faktor geworden, und eine bisherige Minderheit, die kaum wahrgenommen wurde, erhält die Chance zur parlamentarischen Mitgestaltung. Erst dann wird sich zeigen, ob sie mehr kann, als das eine Anliegen zu vertreten, weswegen sie gegründet worden ist. Entwickelt auch die Piratenpartei eine wirtschaftliche Perspektive? Welche Stellung bezieht sie zu anderen Problemen der Zeit wie Arbeitslosigkeit, Terrorismus und Finanzkrise? Wie ist ihre Haltung zum Gesundheitswesen oder der Kulturlandschaft? Dies wird die Zeit zeigen.
Natürlich kann wissen.de nicht in die Zukunft sehen. Ob die Piratenpartei oder eine andere Gruppierung den Sprung in die Parlamente schafft, bleibt abzuwarten. Tatsache aber ist: Es lohnt sich, Engagement zu zeigen, und auch Große haben klein angefangen. Dies ist für die Demokratie in unserem Land allemal eine gute Nachricht.