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Andrea Mantegna, Der Tote Christus: Perspektive als Konzept

Welche Faktoren prägten das Schaffen Mantegnas?

Leben und Werk des Künstlers entwickelten sich um 1500 in einer Zeit umfassender gesellschaftlicher und kultureller Veränderungen. Das Schaffen Mantegnas ist von seinem Interesse für die Archäologie und seiner Vorliebe für Perspektive und Illusionismus bestimmt.

Um 1500 herrscht in Italien noch der gotisch-erlesene Stil der Höfe, der nun jedoch einem wachsenden Interesse für die Antike weicht. Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler erarbeiten zuerst in Florenz und später in ganz Italien mit der Wiederentdeckung der antiken Kultur die Basis für die Wiederbelebung eines kulturellen Modells, in dessen Zentrum der Mensch steht. In der Frührenaissance finden die Ideale der lateinischen und griechischen Philosophie ihre Entsprechung in der Erforschung der harmonischen Proportionen des menschlichen Körpers. Er hat als Idealmaß auch für Architektur und Städteplanung Geltung. Im Zeitalter des Humanismus wird der Mensch als alleiniger Urheber seiner eigenen Geschichte wiederentdeckt. Aufgabe der Künstler war es, diese Idee in der Kunst sichtbar zu machen.

Setzt der »Tote Christus« das Menschenbild der Renaissance um?

Ja, Mantegnas »Toter Christus« gilt als herausragendes Beispiel für die Anwendung der neu entdeckten Ideale auf die bildliche Darstellung. Der Maler hat deutlich nicht die christliche Thematik in den Vordergrund seiner Darstellung gerückt. Er lässt vielmehr den Betrachter einen intimen Moment zwischen Menschen erleben: die Beweinung Christi vor der Grablegung durch Maria und zwei weitere Personen. Das kleine Gefäß rechts neben dem Kissen verweist auf die letzte Ölung. Die realistische Darstellung der christlichen Bildinhalte ist für die Zeit um 1500 ungewöhnlich.

Wie erzielt der Künstler beim Betrachter den Eindruck besonderer Nähe?

Das Gemälde zeigt in extrem verkürzter Perspektive den Leichnam Christi. Sein in der Totenstarre bereits ergrauter Körper nimmt fast das gesamte Bild ein. Man wähnt sich unvermittelt im Bild, als ob man an der Szene teilhätte. Der tote Christus liegt auf einer Bahre aus rosa Marmor, sein Kopf ist durch das Kissen leicht zum Betrachter hin geneigt. Das Leichentuch bedeckt lediglich den Unterkörper des Toten. Die ungewöhnliche Nahsicht der Darstellung verhindert eine Zuordnung der Szenerie in einen konkreten räumlichen oder zeitlichen Kontext.

Was verrät das Bild über den Künstler?

Mantegna nutzte die Darstellung eines religiösen Themas als Vehikel, um seine Bravour in den beiden Hauptbereichen der Malerei zu demonstrieren, in Anatomie und Perspektive. Jeder Künstler der Renaissance absolvierte anatomische Studien als Teil seiner Ausbildung, um den Menschen »in seiner Wesentlichkeit« kennen zu lernen. Im »Toten Christus« sind sie vor allem in der Wiedergabe des Brustkorbes und seiner Muskulatur deutlich erkennbar.

Die ungemein gewagte Perspektive, die Andrea Mantegna für seinen Christus wählte, finden wir auch in den Fresken der Camera degli Sposi (Gemach der Eheleute), die der Künstler 25 Jahre zuvor im Palazzo Ducale von Mantua angefertigt hatte.

Bereits 25 Jahre zuvor hatte Giovanni Bellini einen toten Christus gemalt, der von Engeln getragen wird. Das Bild weist einige formale Ähnlichkeiten mit Mantegnas Gemälde auf. Und doch markieren die beiden Werke zwei unterschiedliche Welten, zwei gänzlich verschiedene kulturelle Epochen. Auf beiden Bildern ist die Figur Christi bildfüllend präsentiert; die anatomisch korrekte Wiedergabe des menschlichen Körpers aber – wie wir sie zeitgleich auch bei Albrecht Dürer finden – und die geradezu waghalsige Perspektive machen das Werk Andrea Mantegnas zu einer Ikone der »neuen« Kultur der Renaissance.

Wo arbeitete Mantegna?

Der humanistisch ausgerichteten Familie Gonzaga, die ihn 1460 als Hofmaler nach Mantua geholt hatte, blieb Mantegna über drei Generationen (Ludovico, Federico und Francesco II. sowie dessen Gattin Isabella d'Este) hinweg treu.

Seine Ausbildung erhielt der um 1430 in Isola di Cartura bei Padua als Sohn eines Tischlers geborene Andrea Mantegna 1441–1448 bei dem Maler Francesco Squarcione in Padua. Schon mit 17 Jahren führte er seinen ersten Auftrag aus: eine nicht erhaltene Altartafel für die Kirche S. Sofia. Mit der Ausmalung der Kapelle für Antonio Orvetari in der Chiesa degli Eremitani in Padua begann er seine erste Freskenarbeit. 1456–1459 schuf er den Hochaltar der Kirche San Zeno Maggiore in Verona. 1460 schließlich erhielt Mantegna den Ruf der Gonzagas. An deren Hof blieb er, unterbrochen von Aufenthalten in Florenz (1466–1468) und Rom (1488/89), bis zu seinem Tod 1506.

Wussten Sie, dass …

Mantegnas Bild sich beim Tod des Künstlers noch in seinem Atelier befand? Der »Tote Christus« entstand in der letzten Schaffensphase Mantegnas. Wahrscheinlich hatte er das Gemälde für seine eigene Grabkapelle vorgesehen, die noch zu Lebzeiten des Künstlers in der Kirche Sant'Andrea in Mantua errichtet worden war.

die realistische Anmutung des toten Christus durch die Verwendung einer besonderen Maltechnik verschärft wird? Mantegna arbeitete mit Tempera ohne den üblichen Lackzusatz zur »Dämpfung« der Farben. So wirken die Farben besonders echt und lebensnah.

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