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Revolution und Nation: Der erste demokratische Nationalstaat

Was ist eine Nation?

»Ein Körper, dessen Mitglieder unter einem gemeinsamen Gesetz leben und durch eine und dieselbe gesetzgebende Versammlung vertreten sind.« So definierte Abbé Emmanuel Joseph Sieyès in seiner Flugschrift »Was ist der Dritte Stand?« vom Januar 1789 den Begriff Nation. Scharfe Worte findet Sieyès darin für die soziale Stellung der Adeligen. Der Adelsstand habe darin aufgrund seiner Privilegien und seiner in geschlossenen Zirkeln ausgeübten politischen Rechte nichts zu suchen, er bilde vielmehr ein Volk für sich inmitten der Nation. Sieyès gelangte zu dem Schluss, dass nur der Dritte Stand die Nation ausmache: »Alles, was nicht Dritter Stand ist, kann sich nicht als Bestandteil der Nation betrachten.«

Was macht ein Volk zu einer Nation?

Insgesamt, so der Historiker Pierre Nora, »kristallisieren sich in der Revolutionsepoche drei Bedeutungskomplexe [von Nation] heraus: die soziale Bedeutung – eine Gemeinschaft von vor dem Recht gleichen Bürgern; die rechtliche Bedeutung – die konstituierende Gewalt im Vergleich zu der konstituierten Gewalt; die historische Bedeutung – eine Gemeinschaft, die durch eine gemeinsame Geschichte verbunden ist.«

»Der Ursprung jeder Souveränität ruht letztlich in der Nation. Keine Körperschaften, kein Individuum können eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich von ihr ausgeht«, formulierte die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in ihrem dritten Artikel. Als höchstes Herrschafts- und Entscheidungsorgan des Staates löste die Nationalversammlung den Monarchen ab. Die Souveränität der Nation, die Gemeinschaft aller freien Bürger ersetzte also die seit dem Mittelalter geltende Souveränität des Monarchen.

Wie hieß die erste demokratische Nation Europas?

Frankreich wurde 1791 zum ersten demokratisch legitimierten Nationalstaat Europas. Der in die neue Verfassung aufgenommene Bürgereid trug dem Nationalgefühl des vormaligen Dritten Standes Rechnung: »Ich schwöre, der Nation, dem Gesetz und dem König treu zu sein.« Auch Minderheiten wie Nichtkatholiken und Juden waren nun gleichberechtigt, sofern sie den Eid leisteten. Damit war in Frankreich der Schritt zur Gesellschaft der Staatsbürger vollzogen. Allerdings: Beim Wahlrecht waren nicht alle Staatsbürger gleich.

Wer durfte wählen?

Man musste »Aktivbürger« sein, um eine Stimme zu haben. Das heißt, man musste unter anderem männlich und über 25 Jahre sein, mindestens eine direkte Steuer im Gegenwert von drei Arbeitstagen zahlen (= Zensuswahlrecht) und durfte kein Dienstbote sein. Nur die Jakobiner-Verfassung von 1793, die allerdings nie in Kraft trat, schrieb ein allgemeines Wahlrecht (für alle männlichen Bürger ab 21 Jahren) vor. Die Direktorialverfassung von 1795 kehrte wieder zu der Einschränkung aufgrund der Steuerzahlung zurück, während die Konsularverfassung von 1799 ein scheindemokratisches allgemeines Wahlrecht einführte: Hier konnte die Gesamtheit aller Wahlberechtigten nur die unterste Ebene wählen, das Namensverzeichnis, aus dem die Gemeindebeamten bestimmt wurden.

Wie wurden die revolutionären Ideen in Europa verbreitet?

Die von Ludwig XIV. geforderten »natürlichen« Grenzen Frankreichs, der Rhein und die Alpen, verloren an Bedeutung, ging es doch jetzt darum, wie es der Girondist Jacques Pierre Brissot formulierte, nicht nur das Vaterland zu verteidigen, sondern auch ganz Europa »in Brand zu stecken«. Annexionen und die Bildung von Tochterrepubliken waren die Folge. »Eine sonderbare Manie der französischen Revolutionäre,« befand die französische Schriftstellerin Madame de Staël (1766–1817) »alle Länder zu einer politischen Organisation nach dem Modell Frankreichs zwingen zu wollen.«

Die grundsätzlichen politischen Leitlinien der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – wurden in den Revolutionskriegen und im Zeitalter Napoleons über ganz Europa verbreitet. Doch wandelte sich im Gefolge des Widerstands gegen die »Franzosenherrschaft« der ursprüngliche Respekt vor anderen – gleichberechtigten – Nationen zu einer übersteigerten Wertschätzung der eigenen Nation und Geringschätzung der anderen.

Was ist der Gemeinwille?

Bei Jean-Jacques Rousseau verkörperte der Gemeinwille (»volonté générale«) den Gesamtwillen aller Mitglieder des Staates, der auf einem Vertrag freier und gleicher Bürger (»contrat social«) basiert und ein gesetzlich gesichertes und geordnetes Zusammenleben garantiert. Immanuel Kant (1724–1804) konkretisierte den Begriff als »allgemein gesetzgebenden Willen«. Denis Diderot (1713–1784) definierte: »Der allgemeine Wille ist in jedem Individuum ein reiner Akt des Verstandes, welcher, während die Leidenschaften schweigen, darüber nachdenkt, was der Mensch von seinesgleichen fordern kann, und darüber, was seinesgleichen von ihm zu fordern berechtigt sind.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 bis 1831) stellte den Gemeinwillen über das Urteil des Einzelnen. Dabei berief auch er sich auf Rousseaus Grundsatz »Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten«: Hegel stellte sich vor, dass der einzelne Bürger durch Erziehung und den Staat zum Bewusstsein seiner Freiheit geführt werden sollte.

Wussten Sie, dass …

die französischen Nationalfarben Blau, Weiß und Rot die Farben der französischen Könige waren? In der Französischen Revolution wurden sie zur Trikolore vereinigt, der dreifarbigen Nationalflagge. Spätere Versuche, zu einzelnen Nationalfarben zurückzukehren (die Restauration von 1815 plädierte für Weiß, der Aufstand von 1848 für Rot), scheiterten.

der gallische Hahn in der Französischen Revolution zum Symbol der nationalen Identität erhoben wurde? Von Napoleon wurde er durch einen Adler ersetzt, kam aber ab 1830 wieder zu neuen Ehren. Während des Zweiten Weltkriegs verkörperte er den Widerstand (Résistance) gegen die deutsche Besatzungsmacht.

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