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Von der Französischen Revolution bis zum Zeitalter des Imperialismus

Aufbauend auf dem Gedankengut der Aufklärung und ausgelöst durch eine ungeheure Finanz- und Wirtschaftskrise, zerstörte die Französischen Revolution in Frankreich die über Jahrhunderte gewachsene Monarchie und deren politische und soziale Grundlagen. Die Revolution machte Frankreich zum ersten demokratisch legitimierten Nationalstaat und verhalf den liberalen Ideen, vor allem den in Amerika bereits durchgesetzten Menschen- und Bürgerrechten, auch auf dem europäischen Kontinent zum Durchbruch. Die Kriege des revolutionären Frankreich und die daran anschließenden Feldzüge Napoleons brachten die monarchische Staatenwelt Europas zum Einsturz.

Nachdem das aus mehr als 300 Staaten und über 1000 kleinen Territorien bestehende Heilige Römische Reich Deutscher Nation 1806 nach der Besetzung durch Napoleon zusammengebrochen war, wurde es zunächst durch den aus 16 süd- und westdeutschen Territorien bestehenden, zentralistisch organisierten Rheinbund ersetzt. Der 1815 per Bundesakte ins Leben gerufene Deutsche Bund war ein loser Staatenverbund von 35 souveränen Fürstentümern und vier freien Reichsstädten, in dem Österreich und Preußen dominierten.

Die Hoffnungen auf Einheit und Freiheit Deutschlands wurden vom österreichischen Staatskanzler Klemens Wenzel Fürst von Metternich (Reg. 1809–1848) im Schulterschluss mit Preußen rigoros unterdrückt. Die deutsche Nationalbewegung scheiterte bei der Revolution von 1848/1849. Auch der von Otto von Bismarck (Reichskanzler 1871–1890) initiierte Nationalstaat löste die Doppelforderungen nach Einheit und Freiheit nicht ein, basierte er doch auf Fürstenherrschaft.

1789 Ausbruch der Französischen Revolution
1804 Napoleon krönt sich zum Kaiser der Franzosen
1806 Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation
1815 Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress
1848/49 In zahlreichen europäischen Ländern kommt es zu Revolutionen
1871 Proklamation des Deutschen Kaiserreichs in Versailles
1912/13 Balkankriege

Französische Revolution: Die Errichtung einer Volksherrschaft

Wieso befand sich die Monarchie in einer Krise?

Die absolutistische Herrschaft der französischen Könige (Ancien régime, französisch für »alte Regierungsform«) war unter Ludwig XVI. (Reg. 1774–1792) in Bewegungslosigkeit erstarrt: Die hohen Aufwendungen für Heer, Beamtenapparat, die Privilegien von Geistlichkeit (Erster Stand) und Adel (Zweiter Stand) sowie die Hofhaltung trieben den Staat in den Ruin und hatten für das Volk ungeheure Preissteigerungen und Steuerlasten zur Folge. Gesellschaftspolitische Reformversuche in Form von Steuererleichterungen für den Dritten Stand (Groß- und Kleinbürgertum, Bauern, Tagelöhner und Arbeiter; zusammen 98 % der Bevölkerung) scheiterten am Widerstand von Adel und Klerus.

Warum wurden die Generalstände einberufen?

Die Einberufung der Generalstände im Mai 1789, einer für gesamtfranzösische Belange zuständigen Versammlung aus Vertretern der drei Stände, sollte Bewegung in die Politik bringen. Zwar wurde die Abgeordnetenzahl für den Dritten Stand verdoppelt, doch mit 600 Sitzen konnte er gegen die zusammengenommen 600 Sitze von Adel und Klerus weiterhin nichts ausrichten, zumal man sich nicht über den Abstimmungsmodus (kooperativ nach Ständen oder nach Köpfen) einigen konnte.

Wie verlief die erste Phase der Revolution?

Das Geschehen spielte sich 1789 leicht zeitversetzt auf drei Bühnen ab: 1. In Versailles schwor eine Nationalversammlung, nicht vor der Vollendung einer Verfassung auseinander zu gehen (Ballhausschwur am 20.6.1789); 2. In den Straßen von Paris erstürmten die bewaffneten städtischen Unterschichten am 14. Juli das alte Stadtgefängnis (Bastille). 3. Auf dem Lande kam es zum größten Bauernaufstand in der französischen Geschichte.

Alle drei Ebenen wirkten aufeinander, wobei die beiden Letzteren zur Radikalisierung des Konflikts beitrugen. Unmittelbar nach dem als symbolischer Sieg über das Ancien régime gefeierten Sturm auf die Bastille wurden zunächst in Paris, dann landesweit demokratische Gemeinde- und Stadtvertretungen eingerichtet: mit Stadträten, Gemeindeausschüssen und Bürgermilizen. Die Nationalversammlung schaffte die Feudalrechte ab und verabschiedete eine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Die vom König verweigerten Unterschriften unter die Dekrete erzwangen am 5. Oktober ca. 20 000 Aufständische in Versailles (Zug der Heldinnen von Paris).

Was passierte in der zweiten Phase?

Die Volksvertretungen der Revolution waren 1789–1791 die verfassunggebende Nationalversammlung, 1791/92 die gesetzgebende Nationalversammlung und 1792–1795 der Nationalkonvent. Mit der Verfassung von 1791 trat die Revolution in eine Phase der Konsolidierung. Frankreich wurde zur konstitutionellen Monarchie. Die Macht des Königs wurde durch die Gewaltenteilung und die Gesetze eingeschränkt. Um die Armut und den Hunger auszuschalten, sollte der Finanzhaushalt in Ordnung gebracht werden. Ende 1789 wurden die Kirchengüter verstaatlicht und auf die eingezogenen Güter Anleihescheine ausgegeben, sich zu einer Art Papiergeld entwickelten.

Gleichzeitig wurde die Wirtschaft liberalisiert (u. a. Aufhebung der Binnenzölle) und das Steuersystem reformiert (Einführung einer allgemeinen Steuer auf Grund, bewegliches Vermögen sowie Gewerbe- und Handelserträge). An die Stelle der historischen Standesunterschiede trat eine soziale Gliederung nach Besitz. So wurde das Zensuswahlrecht eingeführt, das die Wahlberechtigung von der Höhe der Steuerlast des Einzelnen abhängig machte.

Welche politische Rolle spielte der König?

Ludwig XVI. war von Anfang an eine »gekrönte Puppe« der Revolution: Sooft er sein Veto einlegen wollte, wurde er zum Ja gezwungen. Der Annahme der Verfassung von 1791 versuchte er sich durch Flucht ins Ausland zu entziehen; er wurde gefasst und erst wieder in sein Amt eingesetzt, nachdem er den Eid auf die Verfassung geleistet hatte. Die 1792 auf Vorschlag des Königs beschlossene Kriegserklärung an Österreich besiegelte dann das Ende des Monarchen: Nach den ersten französischen Niederlagen erzwangen die revolutionären Massen mit der Erstürmung der Tuilerien (25. Juli 1792) die Abschaffung des Königtums. Als der Oberbefehlshaber der gegnerischen Heere die Zerstörung von Paris androhte für den Fall, dass dem König Leid geschähe, wurde Ludwig XVI. der Prozess wegen landesverräterischer Beziehungen gemacht. Er wurde am 21. Januar 1793 guillotiniert.

Wie waren die Revolutionäre organisiert?

Die Revolutionäre organisierten sich in politischen Klubs, die untereinander in Verbindung standen. Zum Meinungsführer entwickelte sich der Jakobinerklub von Paris, mit ihren drei beim Volk einflussreichen Führergestalten: Georges Danton (1759–1794), Jean-Paul Marat (1743–1793) und Maximilien de Robespierre (1758–1794). Ihnen gelang es im Nationalkonvent, die unentschiedene Mitte auf ihre Seite zu ziehen. Die Bergpartei (Montagnards) erzwang den Prozess gegen den König und vertrat 1793 wegen der gestiegenen Not der Bevölkerung eine Wirtschaftslenkung u. a. mit Lebensmittelrationierungen. Die Girondisten, die sich von den Jakobinern getrennt hatten, wurden ausgeschaltet. Zur effektiveren Regierungsführung wurden Ausschüsse gebildet. Einer davon, der Wohlfahrtsausschuss, wurde 1793/94 unter Robespierre zum Zentralorgan einer Schreckensherrschaft, bei der in der Zeit des »großen Terrors« (10.6.–27.7.1794) 1376 zum Tode Verurteilte unter die Guillotine kamen. Den Hinrichtungswellen fielen auch Marat, Danton und Robespierre selbst zum Opfer.

Was folgte auf die Schreckensherrschaft?

Nach dem Ende Robespierres übernahm eine Regierung von Bürgerlichen die Macht. Nach der neuen Direktorialverfassung lag die ausführende Gewalt bei einem fünfköpfigen Direktorium, die Legislative bei einer aus zwei Kammern bestehenden Volksvertretung. Die erfolgreiche Niederschlagung eines royalistischen Aufstands verschaffte 1796 dem jungen Napoleon Bonaparte (1769–1821) den Oberbefehl über die Italienarmee, der ihm die Macht zu einem eigenen Staatsstreich im November 1799 verlieh.

Schon 1792 war Frankreich durch eine Kriegserklärung an Österreich in einen Krieg gegen das monarchistische Europa eingetreten. Er wurde bis 1806/07 gegen wechselnde Koalitionen geführt und fand seine Verlängerung in den Napoleonischen Kriegen. Im Ersten Koalitionskrieg (1792–1795) verbündete sich Österreich mit Preußen, ab 1793 kamen Großbritannien, die Niederlande, Spanien, Sardinien, Neapel, Toskana und deutsche Reichsstände hinzu. Nach ersten Niederlagen der Revolutionäre stellten sich 1792 Erfolge für die Franzosen ein. Im zweiten Koalitionskrieg (1799–1802) schlossen sich Russland, Österreich, Großbritannien, Neapel, Portugal und das Osmanische Reich zusammen.

Warum war die Französische Revolution ein Meilenstein?

Die Ereignisse von 1789 waren nach der Bedeutung des Begriffes Revolution (lateinisch für Umwälzung) eine plötzliche Umkehrung der Machtverhältnisse von unten, also durch die sozial Benachteiligten. Aufbauend auf dem Gedankengut der Aufklärung und ausgelöst durch eine ungeheure Finanz- und Wirtschaftskrise, zerstörte sie in Frankreich die Monarchie und deren politische und soziale Grundlagen. Sie machte Frankreich zum ersten demokratisch legitimierten Nationalstaat und verhalf den liberalen Ideen, vor allem den in Amerika bereits durchgesetzten Menschen- und Bürgerrechten, auch in Europa zum Durchbruch. Die Kriege des revolutionären Frankreich und die Feldzüge Napoleons brachten die monarchische Staatenwelt Europas zum Einsturz.

Was waren wichtige Stationen?

Mai 1789: Einberufung der Generalstände

Juni 1789: Bürgerliche Abgeordnete bilden die Nationalversammlung.

Juli 1789: Aufstand durch das Pariser Proletariat: Erstürmung der Bastille

August 1789: Aufhebung des Feudalsystems und Verabschiedung der Menschen- und Bürgerrechte

Oktober 1789: Zug der Pariser Massen nach Versailles, um Ludwig XVI. unter Druck zu setzen

1791: Frankreich wird zur konstitutionellen Monarchie. Die gesetzgebende Nationalversammlung tritt zusammen.

1793: Schreckensherrschaft des Konvents: Hinrichtung Ludwigs XVI., von Girondisten und anderen Gegnern.

1794: Diktatur unter Robespierre: Höhepunkt der Exekutionen; Hinrichtung Robespierres

1795–1799: Regierung durch ein fünfköpfiges Direktorium

1799: Staatsstreich durch Napoleon; die Revolution wird für beendet erklärt.

Wie hießen die wichtigsten Gruppierungen?

Dantonisten: Anhänger von Georges Danton, der Anfang 1794 im Gegensatz zu Robespierre eine gemäßigtere Politik befürwortete; im April 1794 ausgeschaltet.

Girondisten: nach dem Département Gironde benannte gemäßigte Gruppe, die für Volkssouveränität und eine föderalistische Republik eintrat. Bis 1792 im Jakobinerklub, wurden die Girondisten in der gesetzgebenden Nationalversammlung zu Gegnern der radikalen Jakobiner; 1793 großenteils hingerichtet.

Jakobiner: benannt nach dem Versammlungsort der Deputierten des Dritten Standes, dem Kloster Saint-Jacques. Robespierre machte den Klub zum zivilen Arm der Revolution. 1793/94 organisierte der Klub die Schreckensherrschaft und wurde nach Robespierres Sturz geschlossen.

Montagnards: Bergpartei; radikaldemokratische Jakobiner im Konvent, die die höher gelegenen Sitzreihen belegten. Sie setzten sich für die Unterschichten und das allgemeine Wahlrecht ein; ab 1795 unterdrückt.

Was steht in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte?

Am 26. August 1789 verfügte die Nationalversammlung nach längeren Diskussionen eine 17 Artikel umfassende Erklärung der Rechte des Menschen und Bürgers, die in die Verfassung von 1791 aufgenommen werden sollte. Kernbegriffe waren die persönliche Freiheit (Liberté) und die Rechtsgleichheit (Égalité) der Menschen. So verkündete gleich der erste Artikel: »Frei und mit gleichen Rechten werden die Menschen geboren und bleiben es auch ...« Damit waren die Stände abgeschafft und die Souveränität des Volkes ausgerufen. Vorbild war die amerikanische Declaration of Rights von Thomas Jefferson zur Verfassung des Staates Virginia vom Juni 1776. Jefferson wurde auch als Gesandter in Paris gehört. Kritiker der Erklärung, darunter auch Graf Mirabeau, befürchteten, der unvermittelte »Sprung aus der Tyrannei in die Freiheit« berge die Gefahr der Anarchie in sich.

Wussten Sie, dass …

der Schriftsteller François Choderlos de Laclos (1741–1803) durch sein »Journal der Freunde der Verfassung« und einen regen Meinungsaustausch per Briefwechsel die Parolen der Jakobiner in ganz Frankreich bekannt machte? Besser bekannt ist er heute allerdings als Autor des Briefromans »Gefährliche Liebschaften« (1782), der bereits mehrmals erfolgreichverfilmt wurde und in dem er die freizügig-dekadente Liebesmoral des Adels geißelt.

Revolution und Nation: Der erste demokratische Nationalstaat

Was ist eine Nation?

»Ein Körper, dessen Mitglieder unter einem gemeinsamen Gesetz leben und durch eine und dieselbe gesetzgebende Versammlung vertreten sind.« So definierte Abbé Emmanuel Joseph Sieyès in seiner Flugschrift »Was ist der Dritte Stand?« vom Januar 1789 den Begriff Nation. Scharfe Worte findet Sieyès darin für die soziale Stellung der Adeligen. Der Adelsstand habe darin aufgrund seiner Privilegien und seiner in geschlossenen Zirkeln ausgeübten politischen Rechte nichts zu suchen, er bilde vielmehr ein Volk für sich inmitten der Nation. Sieyès gelangte zu dem Schluss, dass nur der Dritte Stand die Nation ausmache: »Alles, was nicht Dritter Stand ist, kann sich nicht als Bestandteil der Nation betrachten.«

Was macht ein Volk zu einer Nation?

Insgesamt, so der Historiker Pierre Nora, »kristallisieren sich in der Revolutionsepoche drei Bedeutungskomplexe [von Nation] heraus: die soziale Bedeutung – eine Gemeinschaft von vor dem Recht gleichen Bürgern; die rechtliche Bedeutung – die konstituierende Gewalt im Vergleich zu der konstituierten Gewalt; die historische Bedeutung – eine Gemeinschaft, die durch eine gemeinsame Geschichte verbunden ist.«

»Der Ursprung jeder Souveränität ruht letztlich in der Nation. Keine Körperschaften, kein Individuum können eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich von ihr ausgeht«, formulierte die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in ihrem dritten Artikel. Als höchstes Herrschafts- und Entscheidungsorgan des Staates löste die Nationalversammlung den Monarchen ab. Die Souveränität der Nation, die Gemeinschaft aller freien Bürger ersetzte also die seit dem Mittelalter geltende Souveränität des Monarchen.

Wie hieß die erste demokratische Nation Europas?

Frankreich wurde 1791 zum ersten demokratisch legitimierten Nationalstaat Europas. Der in die neue Verfassung aufgenommene Bürgereid trug dem Nationalgefühl des vormaligen Dritten Standes Rechnung: »Ich schwöre, der Nation, dem Gesetz und dem König treu zu sein.« Auch Minderheiten wie Nichtkatholiken und Juden waren nun gleichberechtigt, sofern sie den Eid leisteten. Damit war in Frankreich der Schritt zur Gesellschaft der Staatsbürger vollzogen. Allerdings: Beim Wahlrecht waren nicht alle Staatsbürger gleich.

Wer durfte wählen?

Man musste »Aktivbürger« sein, um eine Stimme zu haben. Das heißt, man musste unter anderem männlich und über 25 Jahre sein, mindestens eine direkte Steuer im Gegenwert von drei Arbeitstagen zahlen (= Zensuswahlrecht) und durfte kein Dienstbote sein. Nur die Jakobiner-Verfassung von 1793, die allerdings nie in Kraft trat, schrieb ein allgemeines Wahlrecht (für alle männlichen Bürger ab 21 Jahren) vor. Die Direktorialverfassung von 1795 kehrte wieder zu der Einschränkung aufgrund der Steuerzahlung zurück, während die Konsularverfassung von 1799 ein scheindemokratisches allgemeines Wahlrecht einführte: Hier konnte die Gesamtheit aller Wahlberechtigten nur die unterste Ebene wählen, das Namensverzeichnis, aus dem die Gemeindebeamten bestimmt wurden.

Wie wurden die revolutionären Ideen in Europa verbreitet?

Die von Ludwig XIV. geforderten »natürlichen« Grenzen Frankreichs, der Rhein und die Alpen, verloren an Bedeutung, ging es doch jetzt darum, wie es der Girondist Jacques Pierre Brissot formulierte, nicht nur das Vaterland zu verteidigen, sondern auch ganz Europa »in Brand zu stecken«. Annexionen und die Bildung von Tochterrepubliken waren die Folge. »Eine sonderbare Manie der französischen Revolutionäre,« befand die französische Schriftstellerin Madame de Staël (1766–1817) »alle Länder zu einer politischen Organisation nach dem Modell Frankreichs zwingen zu wollen.«

Die grundsätzlichen politischen Leitlinien der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – wurden in den Revolutionskriegen und im Zeitalter Napoleons über ganz Europa verbreitet. Doch wandelte sich im Gefolge des Widerstands gegen die »Franzosenherrschaft« der ursprüngliche Respekt vor anderen – gleichberechtigten – Nationen zu einer übersteigerten Wertschätzung der eigenen Nation und Geringschätzung der anderen.

Was ist der Gemeinwille?

Bei Jean-Jacques Rousseau verkörperte der Gemeinwille (»volonté générale«) den Gesamtwillen aller Mitglieder des Staates, der auf einem Vertrag freier und gleicher Bürger (»contrat social«) basiert und ein gesetzlich gesichertes und geordnetes Zusammenleben garantiert. Immanuel Kant (1724–1804) konkretisierte den Begriff als »allgemein gesetzgebenden Willen«. Denis Diderot (1713–1784) definierte: »Der allgemeine Wille ist in jedem Individuum ein reiner Akt des Verstandes, welcher, während die Leidenschaften schweigen, darüber nachdenkt, was der Mensch von seinesgleichen fordern kann, und darüber, was seinesgleichen von ihm zu fordern berechtigt sind.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 bis 1831) stellte den Gemeinwillen über das Urteil des Einzelnen. Dabei berief auch er sich auf Rousseaus Grundsatz »Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten«: Hegel stellte sich vor, dass der einzelne Bürger durch Erziehung und den Staat zum Bewusstsein seiner Freiheit geführt werden sollte.

Wussten Sie, dass …

die französischen Nationalfarben Blau, Weiß und Rot die Farben der französischen Könige waren? In der Französischen Revolution wurden sie zur Trikolore vereinigt, der dreifarbigen Nationalflagge. Spätere Versuche, zu einzelnen Nationalfarben zurückzukehren (die Restauration von 1815 plädierte für Weiß, der Aufstand von 1848 für Rot), scheiterten.

der gallische Hahn in der Französischen Revolution zum Symbol der nationalen Identität erhoben wurde? Von Napoleon wurde er durch einen Adler ersetzt, kam aber ab 1830 wieder zu neuen Ehren. Während des Zweiten Weltkriegs verkörperte er den Widerstand (Résistance) gegen die deutsche Besatzungsmacht.

Menschen- und Bürgerrechte: Freiheiten für das Individuum

Wann wurden die Menschenrechte erstmals in Europa deklariert?

Die französische Nationalversammlung verkündete 1789 eine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die als erste universelle Ausformulierung gelten kann. In ihrer Erklärung führten die versammelten Vertreter des französischen Volkes viele bestehende Missstände in der Öffentlichkeit und die Mängel vieler Regierungen auf die Unkenntnis oder die Verachtung der Menschenrechte zurück. Unter diesen verstanden sie »die natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechte der Menschen«, also die Freiheitsansprüche, die jedem Individuum zustehen, vom Staat nicht beschränkt oder genommen (veräußerlicht) werden dürfen und von einer Gemeinschaft rechtlich gesichert werden. Sie sollten »allen Mitgliedern der Gesellschaft beständig vor Augen« sein und sie unablässig an ihre »Rechte und Pflichten« erinnern.

Gab es die Idee der Grundrechte schon früher?

Die Idee der Grundrechte findet sich bereits in der antiken griechischen Philosophie und im Christentum. Die Botschaft lautet: Alle Menschen sind gleich bzw. alle Menschen sind gleichermaßen von Gott geschaffen und ihm ebenbildlich. Aber erst der englische Philosoph John Locke (1632–1704) folgerte daraus in seiner Naturrechtsphilosophie, dass Leben, Gesundheit, Freiheit und Eigentum angeborene Rechte des Menschen seien, die ein Staat schützen muss.

Wer begann mit der politischen Realisierung?

Bei der Durchsetzung der Menschenrechte spielten die Engländer lange eine Vorreiterrolle. Über englische Auswanderer gelangten diese Gedanken nach Amerika, wo sie 1776 in der »Virginia Bill of Rights« in einem Katalog vereint wurden: 1. Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum, 2. Versammlungs- und Pressefreiheit, 3. Freizügigkeits- und Petitionsrecht, 4. Anspruch auf Rechtsschutz, 5. freies Wahlrecht. Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 war ihr unmittelbarer europäischer Ausdruck und wurde hier zum Vorbild.

Neu daran war die Betonung der universellen Gültigkeit der Menschenrechte, obgleich sie erst als Grundrechte in den nationalen Verfassungen anerkannt werden mussten. Die Franzosen formulierten aber: »Eine Gesellschaft, in der die Verbürgung der Rechte nicht gesichert und die Gewaltenteilung nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung« (= Artikel 16).

Warum wurde die UNO geschaffen?

Es ging darum, dem Anspruch auf universelle Gültigkeit der Menschenrechte eine rechtsverbindliche Grundlage in den einzelnen Staaten zu verschaffen. Die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten Vereinten Nationen (UNO) erließen 1948 eine Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die mittlerweile unter anderem um die so genannten Rechte der dritten Generation oder Solidarrechte (Recht auf Frieden, Recht auf intakte Umwelt, Recht auf Entwicklung zur Verkleinerung der Kluft zwischen Arm und Reich) erweitert wurde. Sie soll in allen Mitgliedstaaten der Weltorganisation gelten. Letztlich kann die UNO Menschenrechtsverletzungen allerdings nicht verhindern, hat sie es doch mit souveränen Staaten zu tun.

Sind die Menschenrechte überall gültig?

Der Menschenrechtsgedanke ist im christlichen Europa entstanden. Man kann bezweifeln, dass die Menschenrechte über diesen Kulturraum hinaus Gültigkeit beanspruchen können. Durch einen Dialog aller Religionen und Kulturen wollte man gemeinsame Grundwerte für alle Menschen, ein so genanntes Weltethos, erarbeiten; eine entsprechende Erklärung wurde 1993 in Chicago durch ein »Parlament der Weltreligionen« verabschiedet.

Was steht in der UNO-Deklaration der Menschenrechte?

Die am 10. Dezember 1948 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen (UNO) verabschiedete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte stellt in 30 Artikeln einen Katalog von bürgerlichen, politischen und sozialen Rechten auf. Die in westlich-liberaler Tradition stehende Deklaration soll weltweit gültige moralische und rechtliche Maßstäbe setzen.

Artikel 2 lautet: »Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand. Des weiteren darf kein Unterschied gemacht werden aufgrund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebiets, dem eine Person angehört, gleichgültig ob dieses unabhängig ist, unter Treuhandschaft steht, keine Selbstregierung besitzt oder sonst in seiner Souveränität eingeschränkt ist.«

Wussten Sie, dass …

es bereits 1215 in England eine »Magna Charta Libertatem«, ein großes Freiheitsgesetz, gab? Es verpflichtete den König auf die Einhaltung des Rechts und räumte den Baronen ein Widerstandsrecht ein.

das englische Parlament 1628 König Karl I. eine »Petition of Rights« unterbreitete? In dieser akzeptierten Bittschrift wurden grundlegende Rechte der Bürger zusammengefasst, etwa der Schutz vor unwillkürlichen Verhaftungen.

der Inter Action Council, ein Zusammenschluss ehemaliger Staats- und Regierungschefs, 1998 für eine »Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten« als Ergänzung zur UNO-Menschenrechtserklärung plädierte?

Das Zeitalter Napoleons: Aufstieg Frankreichs zur Hegemonialmacht

Wie verlief Napoleons Aufstieg zur Macht?

Napoleon zeichnete sich zunächst als Feldherr aus. Als Brigadegeneral führte er die Italienarmee, mit der er 1796/97 den Ersten Koalitionskrieg (ab 1792) gegen ein Bündnis aus Preußen und Österreich, Großbritannien, Spanien, den Generalstaaten, Sardinien, Neapel, Toskana und deutschen Reichsständen für sich entscheiden konnte. Im Friedensvertrag von Campo Formio (1797) erwirkte er von Österreich die Abtretung der Niederlande, des linken Rheinufers und von Teilen Oberitaliens (künftige Tochterrepubliken um Mailand und Genua). Der Versuch, die britische Herrschaft im Mittelmeer zu beenden, scheiterte hingegen. In der entscheidenden Seeschlacht bei Abukir wurden die Franzosen 1798 durch Admiral Horatio Viscount Nelson (1758–1805) vernichtend geschlagen. Innenpolitisch gelang es Napoleon im Jahr darauf, durch den Staatsstreich vom 18. Brumaire (9. November 1799) die Macht zu übernehmen; formal regierte er als Erster Konsul, zunächst auf zehn Jahre, dann 1802 auf Lebenszeit gewählt. 1804 wandelte er Frankreich in ein erbliches Kaiserreich um und krönte sich selbst zum »Kaiser der Franzosen«. Es folgte ein bestätigender Volksentscheid, wobei Napoleon 3,4 Mio. Ja-Stimmen erhielt.

Wie gestaltete Napoleon den Staat um?

Napoleon schuf die Voraussetzungen für einen bürgerlichen Staat und errichtete ein straff organisiertes und zentralistisches Verwaltungssystem mit von der Regierung ernannten Präfekten an der Spitze der Départements. Als selbsternannter »Vollender« der Französischen Revolution sicherte er die Grundsätze von Freiheit und Gleichheit, die er 1804 in einem allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch (Code civil) festschreiben ließ. Zur inneren Aussöhnung gestattete er adligen Emigranten die Rückkehr, während der Revolutionszeit erworbener Besitz wurde allerdings als rechtmäßig anerkannt. Obwohl autoritär von Napoleon beherrscht, kehrte Frankreich nicht zur feudalen Ständegesellschaft zurück. Staatstragend wurde das (Groß-)Bürgertum.

War Napoleon ein Demokrat?

Nein, seine Herrschaft war ein klarer Bruch mit den Idealen der Französischen Revolution. Die Konsularverfassung von 1799 bringt es auf den Punkt: »Alles wird für das Volk, im Namen des Volkes gemacht; nichts wird durch es noch unter seinem unüberlegten Diktat gemacht.« Trotz des allgemeinen Wahlrechts (für männliche Bürger ab 21 Jahre) und der verfassungsmäßig garantierten Möglichkeit von Volksentscheiden blieb die politische Mitbestimmung weit gehend eingeschränkt: Das Volk selbst erstellte eigentlich nur ein Namensverzeichnis, aus dem die Gemeindebeamten bestimmt wurden. Maßgebliche Posten in Politik und Verwaltung wurden zentral von oben besetzt. Mit der Konsularverfassung und Napoleons umfassender Macht war die Gewaltenteilung größtenteils aufgehoben.

Wer wurde Napoleons ärgster Widersacher?

Napoleons militärische Erfolge ließen das europäische Machtgefüge zerbrechen. Insbesondere Großbritannien, das sich traditionell als Garant des politischen Gleichgewichts sah, betrachtete den französischen Machtzuwachs mit Argwohn. Es unterstützte deshalb (ab 1793) verschiedene Koalitionen europäischer Staaten, zunächst gegen das revolutionäre, dann gegen das napoleonische Frankreich, das zur Verteidigung die Massen mobilisierte (allgemeine Dienstpflicht).

Ein Jahr nach dem Frieden von Amiens, der den Zweiten Koalitionskrieg (1799 bis 1802) beendete, brachte der britische Premierminister William Pitt d. J. (reg. 1783 bis 1801 und 1804–1806) ein neues Bündnis mit Russland, Österreich und Schweden zustande, um vor allem den französischen Vorstößen in Übersee (Indien, Amerika) Einhalt zu gebieten. Im Dritten Koalitionskrieg (1805) blieb Napoleon zwar zu Lande ungeschlagen, errang bei Austerlitz gegen die verbündeten russischen und österreichischen Truppen gar einen glänzenden Sieg, zur See musste er sich aber der Überlegenheit der Briten beugen (Schlacht bei Trafalgar).

Wie wollte Napoleon Großbritannien ausschalten?

Mit einer Kontinentalsperre (1806) versuchte der Kaiser, Großbritannien wirtschaftlich unter Druck zu setzen; im französischen Herrschaftsgebiet wurde der Handel mit englischen Waren untersagt. Nach dem Vierten Koalitionskrieg (1806/07) wurde Russland im Frieden von Tilsit (1807) als neuer Bündnispartner dazu verpflichtet, die wirtschaftliche Isolierung der Briten in Skandinavien durchzusetzen. Wer sich der Kontinentalsperre widersetzte, wurde unterjocht: Portugal (1807–1811), Spanien (1808 erobert, Unabhängigkeitskrieg bis 1814), der Kirchenstaat (1809 aufgehoben) und Finnland (1808/09 von Russland erobert). Schweden wählte 1810 den französischen Marschall Jean-Baptiste Bernadotte zum Thronfolger (ab 1818 Karl XIV. Johann). Anschluss an Frankreich hatte zuvor ein Großteil der deutschen Staaten im Rheinbund (1806) gefunden. Das Kaiserreich Österreich geriet nach seiner Erhebung von 1809 vor allem durch die Niederlage bei Wagram in französische Abhängigkeit.

Was geschah auf dem Russlandfeldzug?

Als Ende 1810 Zar Alexander I. von Russland (reg. 1801–1825) die Kontinentalsperre durchbrach, weil die Wirtschaft seines Landes schwer darunter litt, marschierte Napoleon mit seiner Großen Armee aus ca. 600 000 Soldaten 1812 in Russland ein – nur ein Drittel davon waren Franzosen, der Rest Vasallen, u. a. aus Preußen und Österreich. Zunächst war er erfolgreich, doch zögerten die Russen eine Entscheidungsschlacht hinaus. Sie setzten Moskau in Brand, um dem Feind kein Winterquartier zu bieten, und überließen die Invasoren dem Schnee und der Kälte. Auf dem Rückzug wurde Napoleons Armee fast vollständig vernichtet – nach dem Übergang über die Beresina im November 1812 blieben ihm gerade noch 30 000 Mann.

Wie begannen die Befreiungskriege?

Der Anstoß für die Befreiungskriege gegen die napoleonische Vorherrschaft in Europa ging Ende 1812 von Preußen aus: Der Befehlshaber eines preußischen Hilfskorps schloss eigenmächtig einen Neutralitätsvertrag mit Russland, der Bevollmächtigte des Zaren vereinbarte daraufhin in Königsberg mit den ostpreußischen Ständen die Errichtung einer Landwehr. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. (reg. 1797–1840) unterstützte diese Aktionen nachträglich, indem er im Frühjahr 1813 mit dem Zaren den Vertrag von Kalisch schloss. Österreich, Schweden und Großbritannien traten der neuen Koalition gegen Frankreich bei. Gemeinsam konnten sie die Völkerschlacht bei Leipzig (1813) für sich entscheiden und sogar Napoleons Herrschaft im eigenen Land ein Ende bereiten. Der Kaiser wurde auf die Insel Elba verbannt. Mit der Berufung des Bruders Ludwigs XVI. als Ludwig XVIII. (Reg. 1814–1824) begann die Zeit der Restauration. Der Feldzug gegen Frankreich endete mit dem Ersten Pariser Frieden (1814), der im Wesentlichen die Grenzen von 1792 wiederherstellte.

Die Uneinigkeit der Sieger verleitete Napoleon 1815 zur Rückkehr. Es bedurfte nochmals vereinter Kräfte, um seine »Herrschaft der hundert Tage« zu beenden (Schlacht bei Waterloo). Im Zweiten Pariser Frieden (1815) wurde Frankreich auf seine Grenzen von 1790 (ohne das Saargebiet, aber mit dem Elsass) zurückgedrängt und zum Teil bis 1818 (Aachener Kongress) besetzt.

Was wurde auf dem Wiener Kongress festgelegt?

Der große Friedenskongress, der zwischen Oktober 1814 und Juni 1815 in Wien stattfand, beschloss die große Neuordnung Europas. Gestaltet wurde sie vor allem vom österreichischen Staatskanzler Clemens Fürst Metternich (1773–1859). Seine Grundprinzipien im Bemühen um ein neues Gleichgewicht der Mächte lauteten: Restauration (Wiederherstellung) der politischen Zustände vor der Französischen Revolution, Legitimität (Gesetzmäßigkeit) der Wiedereinsetzung der alten Dynastien und Solidarität der alten/neuen Herrscher bei der Bewahrung der wiedergewonnenen Stärke.

Hauptgewinner hinsichtlich der territorialen Veränderungen waren Großbritannien, das mit den Stützpunkten Helgoland, Malta, der Kapkolonie und Ceylon seine Vorherrschaft zur See stärkte, und das russische Zarenreich: der nun stärksten Kontinentalmacht wurde neben Finnland und Bessarabien auch die Herrschaft über einen polnischen Rumpfstaat (Kongresspolen) zugestanden. Preußen musste sich mit der Rheinprovinz, Westfalen, dem nördlichen Teil von Sachsen, Westpreußen, Vorpommern und Posen zufrieden geben.

Wie nutzte Napoleon militärische Erfolge für den politischen Aufstieg?

Der am 15.8.1769 in Ajaccio geborene Sohn eines korsischen Advokaten (Buonaparte) wurde 1785 Leutnant der Artillerie und 1794 Brigadegeneral. Aus politischem Ehrgeiz trat er der französischen Bergpartei (Montagnards) bei und schlug im Oktober 1795 einen royalistischen Aufstand gegen den Konvent nieder. Das brachte ihm im Folgejahr den Oberbefehl über die französische Italienarmee ein. Nach großen Erfolgen wurden ihm auch Heere gegen Großbritannien (1797) und Ägypten (1798) anvertraut. Seine Herrschaft über Frankreich begann 1799 mit einem Triumphzug nach Paris, dem ein gewaltsamer Staatsstreich folgte, und endete 1814/15 mit der erzwungenen Abdankung und Verbannung. Der ebenso gefürchtete wie beliebte Staatsmann starb am 5.5.1821 auf der Insel St. Helena.

Wussten Sie, dass …

Napoleon bei der Wahl seiner politischen Vorbilder keineswegs bescheiden war? So eiferte er Alexander dem Großen, Julius Cäsar und Karl dem Großen nach.

der Feldherr häufig Familienangehörige als Regenten in den Vasallenstaaten einsetzte?

die Gebeine Napoleons seit 1840 im Pariser Pantheon ruhen?

Wo wurden Tochterrepubliken und Vasallenstaaten errichtet?

Von Frankreich in den Revolutions- bzw. napoleonischen Kriegen eroberte Gebiete wurden als Satellitenstaaten wie das Mutterland organisiert und regiert. So wurde aus den 1795 eingenommenen Vereinigten Niederlanden die Batavische Republik und 1806–1814 das Königreich Holland, aus der Schweiz 1798 die Helvetische Republik (bis 1803), aus der Republik Genua 1797 die Ligurische Republik (bis 1805), aus dem Herzogtum Mailand 1797 die Cisalpinische Republik (1802–1805 erweitert zur Italienischen Republik, ab 1805 Königreich Italien). Von Napoleon eingesetzte Herrscher regierten ab 1807 über die zum Königreich Westphalen zusammengefassten deutschen Gebiete westlich der Elbe mit Kurhessen, Brandenburg und Hannover, ab 1808 über das Königreich Spanien, ab 1809 über das zu Illyrischen Provinzen gemachte vormalige österreichische Staatsgebiet an der Adriaküste.

Wussten Sie, dass …

Napoleon nach seinem Tod 1821 von Literaten wie Victor Hugo, Percy Bysshe Shelley, Alexander Puschkin und Franz Grillparzer zunächst nur mit verächtlichen Versen bedacht wurde?

die restaurative Politik den ehemaligen Kaiser der Franzosen aber bald als Symbol politischer Liberalität erscheinen ließ? Berühmtester Fürsprecher Napoleons in Deutschland wurde Heinrich Heine, der ihn im zweiten Band seiner »Reisebilder« mit antiken Helden verglich.

Vom Deutschen Bund zur Revolution 1848: Für Einheit und Freiheit

Wie kam es zur Gründung des Deutschen Bundes?

Der Deutsche Bund wurde als loser Bund souveräner Einzelstaaten gegründet, der für das politische Gleichgewicht in Europa keine ernsthafte Bedrohung darstellte. Beschlossen wurde dies auf dem Wiener Kongress 1814/15 – initiiert vom österreichischen Staatskanzler Clemens Wenzel Fürst von Metternich (reg. 1809–1848), der sich von dem Modell einen friedlichen Dualismus von Österreich und Preußen erhoffte, waren doch beide mit einem Teil ihres Besitzes im Bund vertreten.

Der Bund war nur eingeschränkt handlungsfähig. Statt über eine eigene Regierung oder eine demokratische Volksvertretung verfügte er nur über einen ständigen Kongress von weisungsgebundenen Delegierten aus den Mitgliedstaaten, der unter dem Vorsitz Österreichs stand: den ab 1815 in Frankfurt am Main über auswärtige, militärische und innere Angelegenheiten tagenden Bundestag (auch: Bundesversammlung).

Warum wurden liberale Tendenzen unterdrückt?

Liberale, demokratische und nationale Bestrebungen im Deutschen Bund wurden von Metternich generell als Gefahr für die innere Ordnung angesehen. Als einzelne Mitgliedstaaten, dazu aufgefordert durch Artikel 13 der Bundesakte, so genannte landständische Verfassungen einrichteten (u. a. 1816 Sachsen-Weimar, 1818 Bayern und Baden, 1820 Hessen-Darmstadt), wehrte sich Metternich dagegen mit der Schrift »Über den Unterschied zwischen landständischen und Repräsentativ-Verfassungen« (1819) und der ein Jahr später vorgelegten Wiener Schlussakte, die verfassungspolitische Liberalisierungen ausschließt. 1819 wurden die Karlsbader Beschlüsse getroffen, freie politische Äußerung war nicht mehr möglich, führende Liberale und Nationale wurden als Demagogen verfolgt.

Wie sah das politische Spektrum aus?

Die Politisierung Deutschlands war von der Französischen Revolution 1789 ausgegangen. Die uneingeschränkten Befürworter der Revolution nannten sich Demokraten oder Deutsche Jakobiner und versammelten sich nach französischem Vorbild in politischen Klubs. Darunter waren auch zahlreiche Studenten, die sich u. a. an den Universitäten von Stuttgart, Tübingen und Jena organisierten. Gegner einer revolutionären Radikalisierung bildeten ein liberales Lager. Zentren wurden Weimar und Jena, wichtige Sprecher waren Christoph Martin Wieland (1733–1813) und Friedrich Schiller (1759–1805). Gegner der Revolution traten als konservative Gruppierungen auf. Solche gab es etwa an der Universität Göttingen, auf Schloss Emkendorf in Holstein und als Mitarbeiterkreis der »Berlinischen Monatsschrift«.

Wie agierten die politischen Parteien?

Während der Restauration ab 1815 gewannen in Deutschland die konservativen Kräfte die Oberhand, die für die alte absolutistische Monarchie eintraten sowie Privilegien für Adel, Grundbesitzer und Geistlichkeit befürworteten. Dagegen opponierten vor allem im gebildeten Bürgertum Gruppen mit ihren Forderungen nach Freiheit und nationaler Einheit. Die Liberalen versuchten, ihre Ziele vornehmlich durch Reformen zu erreichen, und plädierten für eine konstitutionelle Monarchie. Die Demokraten hingegen suchten mit aller Macht (zur Not auch mit Gewalt) feudalherrschaftliche Strukturen aufzulösen und eine republikanische Verfassung einzuführen. Die liberale und demokratische Opposition formierte sich erstmals 1832 beim Hambacher Fest als öffentlicher Massenprotest.

Was war der Zweck des Deutschen Zollvereins?

Ein Etappenziel auf dem Weg zur deutschen Einheit wurde ab 1834 mit dem Deutschen Zollverein erreicht. Die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes ohne Zollschranken und andere wirtschaftliche Hemmnisse entstand auf Initiative Preußens, dem an der Vereinfachung des Handels zwischen seinen beiden getrennten Staatsteilen im Osten und Westen Deutschlands gelegen war. Zunächst hatte Preußen 1818 die Zollgrenzen im Innern des eigenen Staates aufgehoben, 1828 war dann als nächster Schritt ein preußisch-hessischer Zollverein entstanden. 1834 kamen Bayern und Württemberg, die thüringischen Staaten und Sachsen hinzu. Bis 1854 traten alle Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes mit Ausnahme von Österreich dem Zollverein bei. Dominierte Österreich den Deutschen Bund politisch, so dominierte ihn Preußen wirtschaftlich.

Was war der Vormärz?

Als Vormärz wird die Zeit zwischen der französischen Julirevolution von 1830 und der deutschen Märzrevolution von 1848 bezeichnet. Der mehrtägige Pariser Volksaufstand des Jahres 1830 beendete in Frankreich die Phase der Restauration unter König Karl X. (reg. 1824–1830): Der Monarch, der Einschränkungen der Pressefreiheit und des Wahlrechts erlassen und die gerade gewählte Kammer des Parlaments aufgelöst hatte, wurde gestürzt und durch den liberal gesinnten Herzog Louis Philippe von Orléans (als König Louis Philippe, reg. 1830–1848) ersetzt.

Wie griff die Revolution auf Deutschland über?

Die Julirevolution fand ein europaweites Echo, griff u. a. auf den katholischen Süden der Vereinigten Niederlande (1831 als Königreich Belgien unabhängig), die Schweiz, Mittelitalien und Polen über. Der nationale polnische Aufstand gegen die russische Herrschaft (1830/31) hatte unmittelbar mit Deutschland zu tun: Er wurde von Russland mit preußischer Hilfe blutig niedergeschlagen. In Braunschweig, Sachsen, Hannover und Kurhessen erzwangen daraufhin Volkserhebungen konstitutionelle Verfassungen, in Baden wurden die Zensurbestimmungen gelockert (1831). Repressionsmaßnahmen durch den Bundestag beschnitten diese Liberalisierungen aber wieder.

Wie war die Reaktion auf die politische Repression?

Ein Großteil der deutschen Bevölkerung zog sich wieder aus dem politischen Leben zurück. Ruhe und Ordnung, Besitz und Idylle wurden wichtig (Biedermeierzeit). Auf der anderen Seite aber vollzog sich eine politische Radikalisierung: Bekannt geworden ist etwa der Protest von sieben Göttinger Professoren (»Göttinger Sieben«, u. a. mit den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm) gegen die willkürliche Aufhebung der Verfassung durch den König von Hannover (1837) oder das politische Wirken von Schriftstellern und Journalisten wie der Gruppe »Junges Deutschland« um Ludwig Börne (1786–1837) oder von Georg Büchner (1813–1837) und Heinrich Heine (1797–1856). Die Göttinger Sieben wurden ausgewiesen, Büchner musste nach Straßburg fliehen, seine Schriften wurden verboten.

Wie kam es zur Revolution von 1848?

Auslöser für die Märzrevolution 1848 in Deutschland war die französische Februarrevolution, die König Louis Philippe zur Abdankung zwang. Die Revolution griff schnell nach Deutschland über. Überall beugten sich die Regierungen zunächst kampflos den Menschenmassen und beriefen Führer der liberalen und nationalen Opposition in ihre Ministerien (Märzministerien). In Wien stürmte die Volksmenge den Sitzungssaal der Stände – die kaiserliche Verwaltung zog sich nach Innsbruck zurück. In Berlin lenkte König Friedrich Wilhelm IV. (reg. 1840–1858) ein und garantierte Pressefreiheit sowie den Erlass einer Verfassung. Auch versprach er, die Führung bei der Regelung der deutschen Angelegenheiten zu übernehmen.

Wie entstand die Nationalversammlung?

Bereits zwischen dem 31. März und 3. April 1848 tagte in Frankfurt am Main ein aus der Volksbewegung hervorgegangenes Vorparlament, das die Wahl einer Nationalversammlung beschloss und dieser die Entscheidung über die künftige deutsche Verfassung auftrug. Am 18. Mai trat die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche zusammen.

Ein Hauptstreitpunkt galt der Festlegung der Staatsgrenzen im Norden (mit/ohne Schleswig) und Südosten (mit/ohne Österreich). Die Mehrheit der Nationalversammlung plädierte für die Einbeziehung des deutschsprachigen, jedoch zu Dänemark gehörigen Herzogtums Schleswig. Preußen wurde mit der Kriegsführung gegen Dänemark beauftragt, wobei es erfolgreich, aber halbherzig agierte, weil es internationale Komplikationen fürchtete. Als die Nationalversammlung den am 26. August vereinbarten Waffenstillstand anerkannte, reagierte die radikale Linke mit Aufständen. Preußische und österreichische Truppen griffen ein, in der Nationalversammlung vollzog sich ein Rechtsruck: Die Französische Revolution vor Augen, ersehnten die Bürgerlichen die Rückkehr zu Ruhe und Ordnung. Als erster Teil der Verfassung wurde ein Katalog über Freiheitsrechte und Rechtssicherheit aufgestellt.

Warum kam die deutsche Einheit nicht zustande?

Sie wurde von oben blockiert. Zunächst wurden die großösterreichische Lösung (Deutscher Bund plus Gesamtösterreich) und die großdeutsche Lösung (Deutscher Bund plus deutsch-österreichische Gebiete) abgelehnt. Mit knappen Mehrheiten entschieden sich die Parlamentarier für die kleindeutsche Lösung unter Ausschluss Österreichs und für den Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. als Kaiser der Deutschen. Dieser jedoch lehnte es im April 1849 kategorisch ab, seine »den Stempel Gottes« tragende Krone gegen eine mit dem »Ludergeruch der Revolution« einzutauschen. Damit war die Nationalversammlung am Ende. Versuche, durch Gewalt (Barrikadenkämpfe im Süden Deutschlands) oder auf parlamentarischem Weg (Rumpfparlament ab Ende Mai in Stuttgart) die Reichsverfassung doch noch durchzusetzen, scheiterten aber an der Übermacht der alten Mächte Preußen und Österreich: Sie beriefen ihre Beamten unter den Parlamentariern ab und stellten die alte Ordnung militärisch wieder her.

Wie wurde Deutschland vom Flickenteppich zur Großmacht?

Das aus mehr als 300 Staaten und über 1000 kleinen Territorien bestehende Heilige Römische Reich Deutscher Nation brach 1806 nach der Besetzung durch Napoleon zusammen. Ersetzt wurde es zunächst durch den aus 16 süd- und westdeutschen Territorien bestehenden, zentralistisch organisierten Rheinbund. Der 1815 per Bundesakte ins Leben gerufene Deutsche Bund war ein loser Staatenverbund von 35 souveränen Fürstentümern und vier freien Reichsstädten, in dem Österreich und Preußen dominierten. Nachdem die Nationalbewegung bei der Revolution von 1848 gescheitert war, machte der von Otto von Bismarck (Reichskanzler 1871–1890) initiierte Nationalstaat Deutschland dann zu einer geeinten wirtschaftlichen und politischen Großmacht.

Wussten Sie, dass …

der Rheinbund sich schon allein aus dem Grund zu keinem deutschen Nationalstaat entwicklen konnte, weil die einzelnen Teile französischer Schutzherrschaft unterstanden?

dem Deutschen Bund auch drei ausländische Könige angehörten? Es handelte sich dabei um den englischen für Hannover, den dänischen für Holstein und den niederländischen für Luxemburg.

Wussten Sie, dass …

die staatlichen Repressionen im Vormärz jeder Rechtsstaatlichkeit spotteten? So wurde der später als niederdeutscher Schriftsteller zu Bekanntheit gelangte Fritz Reuter (1810–1874) 1833 festgenommen, in einer Festung interniert und 1836 wegen »Majestätsbeleidigung und versuchtem Hochverrat« zum Tode verurteilt. Ein Jahr später wurde er zu 30 Jahren Haft begnadigt, die später auf acht Jahre reduziert wurden – und das alles nur, weil er sich einer Burschenschaft angeschlossen hatte.

Wussten Sie, dass …

ein revolutionäres Klima in Deutschland auch aufgrund sozialer Missstände heranreifte? So kam es beispielsweise 1844 zu schweren Unruhen durch schlesische Weber und als Folge von Missernten zu Unruhen in den Jahren 1846/47.

die Parlamentarier der Nationalversammlung überwiegend Bildungsbürger (insbesondere Beamte und Juristen) waren? Die Nationalversammlung bestand zu 40 % aus konservativen Liberalen, zu 30 % aus linken Liberalen, zu 18 % aus Demokraten (davon 6 % radikale) sowie zu 12 % aus Konservativen.

Sozialismus und Kommunismus: Wege aus dem Elend?

Warum gab es in den großen Städten so viel Elend?

Die Ursachen dafür lagen in der Industrialisierung und dem großen Bevölkerungswachstum im 19. Jahrhundert. Die ländlichen Regionen boten nur wenigen Menschen ausreichenden Broterwerb, weshalb eine Landflucht einsetzte. Doch auch in den Städten kam es zu einem Überangebot an Arbeitskräften. Viele Menschen waren daher bereit, unter schlechten Bedingungen für einen Hungerlohn zu arbeiten. Der größte Teil der Arbeiterschaft lebte in Armut, unter schlechten hygienischen Bedingungen und immer im Kampf um die Existenzsicherung der Familie.

Wie organisierten sich die Arbeiter?

Interessenvereine wurden gegründet, in denen sich der Widerstand gegen die Verhältnisse formierte, wie 1837 der Bund der Gerechten, ein Zusammenschluss wandernder Handwerker. Aus ihm entstand 1847 der Bund der Kommunisten. 1863 gründete sich der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, ein Vorläufer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. 1869 erfolgte unter Führung von August Bebel die Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die sich auf Marx und Engels berief. Aus dem Zusammenschluss beider Organisationen ging 1875 die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands hervor.

Wer schuf das Fundament des Kommunismus?

Die deutschen Philosophen und Politiker Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) entwickelten Mitte des 19. Jahrhunderts die grundlegende Theorie des Kommunismus. Zu ihren bedeutendsten Schriften gehören ihr Kommunistisches Manifest von 1848 und Marx' politisch-ökonomisches Hauptwerk »Das Kapital«.

Nach Marx hätten sich in der Geschichte stets wenigstens zwei Klassen gegenübergestanden: die herrschende und die von ihr abhängige Klasse (z. B. Freie und Sklaven, Feudalherren und Leibeigene). Doch erst im Zeitalter der Industrialisierung hätten die unterdrückten Klassen die Fähigkeit erworben, selbst eine Gesellschaft zu leiten. Hinzu komme, dass erst jetzt das Proletariat groß genug sei und das Potenzial zu einer Revolution besäße. Mit der Zerschlagung der kapitalistischen Strukturen würden die Produktionsmittel (z. B. Fabriken) in gesellschaftlichen Besitz übergehen, und es würde sich eine klassenlose Gesellschaft bilden.

Wie definierte sich der russische Kommunismus?

In Russland gab Wladimir I. Lenin dem Marxismus eine neue Stoßrichtung: Er forderte – im Gegensatz zu Marx, nach dem die Revolution von der arbeitenden Klasse ausgeht – eine Diktatur der kommunistischen Partei, Diktatur des Proletariats genannt, die eine kommunistische Gesellschaftsordnung durchsetzen sollte. Seine Begründung: Russland sei ein rückständiges Land, die arbeitende Klasse sei nicht in der Lage, die Gesellschaft auf revolutionäre Weise umzugestalten – die Initialzündung müsse von der Partei ausgehen.

Josef Stalin, Lenins Nachfolger, entwickelte den Stalinismus, die Diktatur der Parteiführung, die er nutzte, um mit brutalen und repressiven Methoden gegen politische Gegner vorzugehen sowie andere »Klassen« (Groß- und Mittelbauern), »Abweichler« und »Volksfeinde« zu liquidieren.

Wie sah der Kommunismus in China aus?

China passte die Ideen des Marxismus an die Bedürfnisse der herrschenden Parteieliten an. Nach der Gesellschaftstheorie des Maoismus (nach dem Führer der kommunistischen Partei Mao Zedong) könnten auch nach der Einführung des Kommunismus aufgrund von gesellschaftlichen Widersprüchen Klassenkämpfe fortbestehen, so dass immer wieder revolutionäre Maßnahmen unabdingbar seien. Außerdem müsse jede Generation ihre eigenen revolutionären Erfahrungen machen; nur so könne es in einer Gesellschaft zum Fortschritt kommen.

Übrigens: Die Spielart des Sozialismus in Jugoslawien (nach 1945), nach dem Parteiführer, Josip Broz Tito, Titoismus genannt, löste sich von der hegemonialen UdSSR. Besonders bei der Organisation der Wirtschaft ging Tito ganz eigene Wege (z. B. »Arbeiterselbstverwaltung«).

Was bedeutet Kommunismus?

Der Begriff bezeichnet eine gesellschaftspolitische Utopie, die das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft mit sozial gleichgestellten Mitgliedern hat. Die Produktionsmittel befinden sich im Besitz des Volkes und nicht in den Händen weniger. Bedeutende Theoretiker und Politiker des Kommunismus waren Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir I. Lenin. In die Realität konnte diese Gesellschaftstheorie nicht umgesetzt werden. In den Staaten mit einer kommunistischen bzw. sozialistischen Gesellschaftsordnung (z. B. der Sowjetunion) übernahm die kommunistische Partei die dominierende Stellung. Das führte zu Einparteiendiktatur, zentraler Lenkung der Wirtschaft und Unterdrückung Andersdenkender.

Wussten Sie, dass …

1878 im deutschen Kaiserreich das Sozialistengesetz erlassen wurde, das die Betätigung der Sozialistischen Arbeiterpartei und aller anderen sozialistischen Gruppierungen, auch Gewerkschaften, verbot?

das Sozialistengesetz der Entwicklung der sozialistischen Parteien jedoch keinen dauerhaften Abbruch tat? Im Gegenteil: Nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes war der Aufstieg der Sozialisten in Deutschland nicht mehr aufzuhalten.

Das Deutsche Reich: Reichseinigung bis 1871

Warum wurde Österreich nicht Teil des Reichs?

Im preußisch-österreichischen Dualismus hatte sich nach 1848/49 das Gewicht zugunsten Preußens verschoben. Im Konflikt um die Grenzen des zu schaffenden deutschen Nationalstaats wurde die kleindeutsche Lösung (unter Ausschluss der Habsburgermonarchie) favorisiert, König Friedrich Wilhelm IV. (Reg. 1840–1858) war von der Frankfurter Nationalversammlung die Kaiserkrone angeboten worden. Die Reichsverfassung von 1849 trat nie in Kraft, der Deutsche Bund wurde bis 1851 wiederhergestellt. Bei der Restauration der alten Ordnung hatte das Militär eine zentrale Rolle gespielt. Auch König Wilhelm I. von Preußen (Reg. 1861–1888, seit 1871 deutscher Kaiser) setzte bei der Einigung Deutschlands auf militärische Machtmittel. Sein wichtigster Mann war Otto von Bismarck als preußischer Ministerpräsident (Reg. 1862–1890).

Im Deutsch-Dänischen Krieg (1864) um Schleswig und Holstein kämpfte Preußen noch auf der Seite Österreichs. Die von Preußen beantragte Reform des Deutschen Bundes führte 1866 zum Krieg mit der Habsburgermonarchie (Deutscher Krieg). Im Frieden von Prag musste Österreich der Errichtung des Norddeutschen Bundes zustimmen: eines Bundesstaats der deutschen Länder nördlich des Mains mit direkt gewähltem Parlament (Reichstag) und einem die Mitgliedsstaaten repräsentierenden Bundesrat.

Wie kam es zum Deutsch-Französischen Krieg?

Der Krieg wurde durch diplomatische Intrigen provoziert: Napoleon III. (Reg. 1848 bis 1870) empfand die preußische Machtentfaltung zunehmend als Bedrohung für Europa. Die Bewerbung des Prinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen um den spanischen Thron wurde von Bismarck insgeheim unterstützt. Die vom französischen Botschafter geforderte Verzichtserklärung auf eine solche Kandidatur wurde in zugespitzter Form veröffentlicht (Telegramm des in Bad Ems weilenden preußischen Königs, daher Emser Depesche). Der brüskierte französische Kaiser antwortete mit der Kriegserklärung an Preußen.

Im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 standen Bayern, Württemberg und Baden auf preußischer Seite. So führten die militärischen Erfolge gegen Frankreich zum Beitritt der nord- und süddeutschen Staaten zum Deutschen Reich. Frankreich musste Elsass-Lothringen an Deutschland abtreten und eine Kriegsentschädigung (5 Mrd. Francs) zahlen.

Wie kam es zur Gründung des Deutschen Reichs?

Nach dem deutschen Sieg über Frankreich wurde der Preußenkönig Wilhelm I. am 18. Januar 1871 in Versailles zum Deutschen Kaiser ausgerufen. Das Kaiserreich war eine konstitutionelle Monarchie, ein Bundesstaat aus 22 souveränen Fürstentümern und drei freien Hansestädten. Preußens Vorherrschaft wurde mehrfach deutlich: Der Deutsche Kaiser (zugleich preußischer König) ernannte den Reichskanzler, war Oberbefehlshaber des Heeres, berief Reichstag wie Bundesrat ein, während der Reichskanzler u. a. im Bundesrat den Vorsitz hatte. Da Preußen im Bundesrat 17 Stimmen hatte (für das Vetorecht genügten 14 Stimmen), konnte Preußen stets Verfassungsänderungen verhindern.

Wie wirkte die Reichsgründung auf die politische Balance in Europa?

Die Reichsgründung hatte das Kräfteverhältnis in Europa empfindlich gestört. Bismarck ging es nach 1871 vornehmlich darum, Spannungen zwischen den Großmächten diplomatisch auszubalancieren und das Erreichte zu sichern (Erhaltung des Status quo). Um das Sicherheitsrisiko aus Koalitionen der anderen europäischen Mächte gegen Deutschland auszuschließen, baute er seinerseits ein umfangreiches Bündnissystem auf.

Wie labil der Frieden in Europa war, zeigte sich 1875 bei der »Krieg-in-Sicht-Krise«: Als Bismarck von Frankreich die Rücknahme seiner Aufrüstung forderte, Frankreich und Russland sich aber annäherten, war der Zweifrontenkrieg zum Greifen nahe. Der vom Reichskanzler lancierte Zeitungsartikel »Ist der Krieg in Sicht?« sollte Frankreich einschüchtern, bewirkte aber, dass sich Großbritannien und Russland hinter Frankreich stellten.

Was waren die Leitlinien in Otto von Bismarcks politischer Karriere?

Der am 1.4.1815 in Schönhausen/Altmark geborene Otto von Bismarck begann als Atheist und Republikaner und wandelte sich zum königstreuen, protestantischen Politiker, der ab 1872 den politischen Katholizismus (Kulturkampf) und die Sozialdemokratie (Sozialistengesetz, 1878) bekämpfte. Seine Laufbahn begann 1847 als Abgeordneter des Vereinigten Landtags. 1851 bis 1859 Vertreter Preußens beim Bundestag in Frankfurt am Main, ging Bismarck anschließend als Gesandter nach Russland (1859 bis 1862) und Frankreich (1862), ehe er von König Wilhelm I. zum preußischen Ministerpräsidenten berufen wurde. Den Höhepunkt seiner Macht erreichte er 1871 bis 1890. Differenzen mit dem ab 1888 regierenden Kaiser Wilhelm II. führten im März 1890 zu seiner Entlassung. Bismarck starb am 30.7.1898 in Friedrichsruh.

Wussten Sie, dass …

1870 in der entscheidenden Schlacht bei Sedan der französische Kaiser Napoleon III. gefangen genommen wurde? Eine schwere Demütigung für Frankreich.

die von Bismarck für den Norddeutschen Bund entworfene föderalistische Verfassung 1871 ohne größere Änderungen für das Deutsche Reich übernommen wurde und bis 1918 in Kraft blieb?

Leben im neuen Staat: Die deutsche Gesellschaft im Kaiserreich

Welches Staatsverständnis hatte das neue Reich?

Sinnbildender Mythos des 1871 gegründeten zweiten deutschen Kaiserreichs war die Utopie einer romantisch verbrämten mittelalterlichen Kaiserherrlichkeit. Der auf Befehl und Gehorsam beruhende Obrigkeitsstaat (Macht- und Militärstaat) dominierte über den Verfassungsstaat. Damit verbunden waren in der Öffentlichkeit zur Schau gestellter militärischer Prunk (Uniformen, Waffen, Fahnen und Standarten) und militärischer Drill in Schule und Verwaltungsapparat.

Als Folge des Sieges im Deutsch-Französischen Krieg kam es in den Jahren 1871–1873, der Gründerzeit, zu einer Hochkonjunktur mit zahlreichen Unternehmensgründungen, einem wahren Spekulationsfieber und einem rasanten Wirtschaftswachstum. Deutschland wandelte sich vom Agrar- zum Industriestaat. Allerdings versetzte der Kollaps der Wiener Börse im Jahr 1873 der Euphorie einen kräftigen Dämpfer (Gründerkrach). In der Folge wurde bis ca. 1895 nur noch ein geringes Wirtschaftswachstum erzielt. Jene zwei Jahrzehnte sind als Große Depression in die Geschichte eingegangen.

Wie sah das erste Parlament aus?

Nach der Reichstagswahl von 1871 zogen eine Reihe bürgerlicher Parteien ins Parlament ein. Die Liberalen stellten mit den Nationalliberalen (125 Sitze), der Deutschen Fortschrittspartei (46) und der Liberalen Reichspartei (30) die Mehrheit, die Konservativen waren durch die Konservative Partei (57) und die Deutsche Reichspartei (37) vertreten.

In der Opposition befanden sich als stärkste Gruppe Vertreter der konservativen, katholisch geprägten Zentrumspartei (63 Sitze). Ihr Führer war der Rechtsanwalt Ludwig Windthorst (1812–1891). Die Nationalliberale Partei, bis 1878 stärkste Reichstagsfraktion, repräsentierte die national gesinnten oberen bürgerlichen Bevölkerungsschichten: das protestantische Bildungsbürgertum und das erstarkende industrielle Großbürgertum.

Wie regierte Bismarck?

Otto von Bismarck setzte klare Prioritäten: »Den Reichstag kann man eher entbehren als die Armee.« Politik war für ihn ein ständiger Machtkampf mit den Parteien, um Reichstagsmehrheiten für eigene Gesetzesvorlagen zu erzielen. Dabei spielte er während seiner 19-jährigen Amtszeit als Reichskanzler die Politiker souverän gegeneinander aus und arbeitete mit wechselnden Gruppierungen zusammen.

1871–1878 verbündete er sich mit den Nationalliberalen. Deren Vorsitzender Rudolf von Bennigsen (1824–1902) förderte als Präsident des preußischen Abgeordnetenhauses den Kulturkampf gegen die katholische Kirche. Ihm schloss sich der Mitbegründer der Fortschrittspartei, Rudolf von Virchow (1821 bis 1902), an. Den »Feldzug« gegen die Sozialdemokratie (ab 1878) führte Bismarck zusammen mit konservativen Fraktionen – einschließlich des zuvor bekämpften Zentrums. Die Feinde der »bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung« machten Kaiser Wilhelm I. und sein Reichskanzler Otto von Bismarck im linken und im katholischen rechten Parteienspektrum aus, beide sollten daher unschädlich gemacht werden. Der mit noch härterer Hand regierende Kaiser Wilhelm II. (Reg. 1888–1918) bekräftigte dies 1895 in einem Brief an den russischen Zaren Nikolaus II.: »Mein Reichstag führt sich so schlecht wie nur möglich auf; er schwingt vorwärts und rückwärts zwischen den Sozialisten, die von den Juden angetrieben werden, und den ultramontanen [= von jenseits der Alpen durch den regierenden Papst gesteuerten] Katholiken; beide Parteien sind, soweit ich sehen kann, bald reif, samt und sonders gehängt zu werden.«

Was war der Kulturkampf?

Damit bezeichnet man Bismarcks Versuch, den Katholizismus einzudämmen. Der Kanzler nannte die katholische Zentrumspartei eine »Mobilmachung zur Bekämpfung des Staates«. Aufgrund der Weisungsbefugnis des vom Ersten Vatikanischen Konzil (1870) für unfehlbar erklärten Papstes fürchtete Bismarck eine Fremdbestimmung der deutschen Politik. Deshalb versuchte er ab 1871, den Katholizismus mit gesetzgeberischen Mitteln zu schwächen und so »den uralten Machtstreit zwischen Königtum und Priestertum« (Bismarck) zu seinen Gunsten zu entscheiden. Die Bezeichnung »Kulturkampf« stammt von Bismarcks liberalen Partnern, die die Angelegenheit als Kampf »für die Freiheit der Kultur und des Humanismus« betrachteten.

Für das Deutsche Reich wurde Ende 1871 mit einer Ergänzung des Strafgesetzbuchs, dem Kanzelparagraf, der politische Missbrauch eines geistlichen Amts unter Strafe gestellt, das heißt, Geistliche hatten sich aus der Politik herauszuhalten.

Das »Gesetz, betreffend den Orden der Gesellschaft Jesu« vom Juli 1872 ordnete die Schließung jesuitischer Niederlassungen im Deutschen Reich an. 1875 wurde die Zivilehe eingeführt, wodurch nur der standesamtlichen Eheschließung Rechtsgültigkeit zukam. Geistliche, die sich den Anordnungen widersetzten, wurden mit Verbannung aus dem Reich bedroht (Expatriierungsgesetz von 1874).

Im Königreich Preußen wurden u. a. folgende Maßnahmen ergriffen: Schließung der katholischen Abteilung im preußischen Kultusministerium (1871), Übertragung der Schulaufsicht von geistlichen auf staatliche Schulräte (preußisches Schulaufsichtsgesetz vom März 1872), Anordnung staatlicher Aufsicht und Mitwirkung bei der Vor- und Ausbildung sowie Anstellung der Geistlichen (Maigesetze, 1873). Außerdem wurde der Taufzwang abgeschafft und die Führung der Geburts- und Sterberegister von staatlichen Standesämtern übernommen.

Wie reagierte der Papst auf den Kulturkampf?

Papst Pius IX. (Reg. 1846–1878) erklärte 1875 alle preußischen Kirchengesetze für ungültig und drohte jedem Katholiken, der die preußischen Gesetze befolgte, mit dem Kirchenbann. Als der Kulturkampf nicht nur die Zentrumspartei stärkte (zwischen 1871 und 1877 Zugewinn von 30 Reichstagsmandaten, 1881 Reichstagsmehrheit mit 100 Sitzen), sondern auch strenggläubige protestantische und konservative Kreise zu Gegnern machte, nahm Bismarck einzelne Gesetze zwischen 1881–1886 wieder zurück. Kanzelparagraf, staatliche Schulaufsicht, Zivilehe und Verbot des Jesuitenordens blieben aber unangetastet. Als Vermittler zwischen Reichskanzler und Zentrumspartei trat der neue Papst, Leo XIII. (Reg. 1878–1903), auf.

Warum wurde das Sozialistengesetz erlassen?

Die Vereinigung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) machte die Linke 1875 – aus Bismarcks und des Kaisers Sicht – zur neuen Gefahr für das Reich. Zwei innerhalb von drei Wochen auf den Kaiser verübte Attentate bildeten im Sommer 1878 daher einen willkommenen Vorwand, um eine Sozialistenangst zu schüren, den Reichstag aufzulösen und vom neuen Reichstag mit den Stimmen der Konservativen und der Mehrheit der Nationalliberalen das »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie«, das Sozialistengesetz, durchzubringen. Darin wurden die SAP und alle sozialistischen Vereine, Versammlungen und Druckschriften zunächst für die Dauer von zweieinhalb Jahren (dann bis 1890 verlängert) verboten. In einer Doppelstrategie wurde parallel dazu ab 1883 versucht, den sozialistischen Parteien durch die staatliche Sozialgesetzgebung ihre Existenzgrundlage zu nehmen und die Industriearbeiterschaft in den Staat einzugliedern.

Sozialistengesetz und Sozialgesetzgebung verfehlten ihren Zweck, sie erzielten einen gegenteiligen Effekt: Die Wählerschaft der Sozialisten nahm sprunghaft zu (von über 700000 im Jahr 1887 auf 1,4 Mio. 1890), außerdem führte das Verbot zur Radikalisierung der Partei (Erfurter Programm von 1891).

Übrigens: Wilhelm II. verlangte 1889, der »Ausbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen« bereits in der Schule entgegenzuwirken: »In erster Linie wird die Schule durch die Pflege der Gottesfurcht und der Liebe zum Vaterland die Grundlage für eine gesunde Auffassung auch der staatlichen Verhältnisse zu legen haben ... Sie muss bestrebt sein, schon der Jugend die Überzeugung zu verschaffen, dass die Lehren der Sozialdemokratie nicht nur den göttlichen Geboten widersprechen, sondern in Wirklichkeit unausführbar und in ihren Konsequenzen dem Einzelnen und dem Ganzen gleich verderblich sind ...«

Warum wanderten viele Menschen aus?

Viele Menschen verließen aus politischen und wirtschaftlichen Gründen das Deutsche Reich. Nicht nur politische Gruppen, sondern auch gesellschaftliche und nationale Minderheiten wurden als »Reichsfeinde« ausgegrenzt. Das betraf die in Deutschland lebenden Dänen, Polen und Franzosen, aber auch die in der Industrie, im Bankwesen und in den Künsten erfolgreichen Juden. In der Regel wurde die Judenfeindschaft allerdings nicht wirtschaftlich, sondern »rassisch« begründet (Antisemitismus). Vereine und Organisationen schlossen Juden aus. Viele »Reichsfeinde« kehrten Deutschland den Rücken und wanderten aus.

Die Entwicklung des Deutschen Reichs vom Agrar- zum Industriestaat hatte in den 1890er Jahren auf der einen Seite eine große Landflucht, Binnenwanderungen von ländlich geprägten Landesteilen im Osten in die Industrieregionen (sächsisch-oberschlesisches Revier, Ruhrgebiet) und auf der anderen Seite Auswanderungen nach Übersee zur Folge. Zwischen 1820 und 1920 suchten ca. 5 Mio. Deutsche ihr Glück in den USA.

Wie sah die Innenpolitik unter Kanzler Caprivi aus?

Sie orientierte sich an der Linie Bismarcks. Nachdem Wilhelm II. (Reg. 1888–1918) 1890 den in seinen Augen übermächtigen »Eisernen Kanzler« entlassen hatte, fand er in Leo Graf von Caprivi (Reg. 1890–1894) einen Nachfolger für Bismarck. Caprivi machte sich um die Handelspolitik verdient: Er arbeitete Verträge zur Ermäßigung der 1879 eingeführten Schutzzölle auf Getreide, Rohstoffe und Halbfabrikate aus, die zum Aufschwung der Industrie beitrugen, und förderte die deutsche Handelsflotte, die zu einer der mächtigsten der Welt aufstieg. Sozialpolitisch setzte er sich für die Industriearbeiterschaft ein und regelte Frauen- und Kinderarbeit sowie Sonntags- und Nachtarbeit neu.

Wie wurde Bismarck bewertet?

Es gibt sehr unterschiedliche Wertungen. Der bayerische Sozialdemokrat Georg von Vollmar kritisierte 1891 den mangelnden Erneuerungswillen Bismarcks: »Das hauptsächlichste Merkmal der Bismarck'schen Herrschaft war die völlige Erstarrung, die eiserne Unbeweglichkeit unserer öffentlichen Verhältnisse. Die Reichspolitik blieb auch dem geringsten modernen Gedanken (…) hartnäckig verschlossen ...«

Das große und unbestrittene Verdienst des »Eisernen Kanzlers« ist die Einigung Deutschlands und die Verankerung der neuen Macht in einem über viele Jahrzehnte hinweg stabilen europäischen Mächtesystem. Die »Gründerzeit«, die Deutschland Frieden und Wohlstand brachte, fällt in die Ära Bismarck.

Wann wurde die SPD gegründet?

Der Ursprung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) liegt in dem 1863 gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV), der unter Ferdinand Lassalle für das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht eintrat. Diesem stellte sich 1869 die von August Bebel und Wilhelm Liebknecht angeführte Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) zur Seite. Die Frage der Kriegskredite spaltete 1870 die Linke, die sich jedoch 1875 zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) vereinigte, 1890 in Sozialdemokratische Partei Deutschlands umbenannt. Noch das Erfurter Grundsatzprogramm von 1891 bekräftigte die Überzeugung vom zwangsläufigen Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellschaft und dem naturgesetzlichen Sieg des Sozialismus. Bereits 1891 stärkste Wählerpartei in Deutschland, stellte die SPD wegen der Wahlkreiseinteilung erst 1912 auch die stärkste Reichstagsfraktion (110 Mandate).

Wussten Sie, dass …

der Sozialdemokrat Wilhelm Liebknecht schon 1887 die Marschrichtung des Kaiserreichs in einer düsteren Vision voraussah? »Der dressierende Schulmeister und der drillende Unteroffizier sind die beiden Hauptpfeiler des heutigen Staates!«, meinte Liebknecht.

der linke Arm des Kaisers verkrüppelt war? Er versuchte diesen Makel u. a. dadurch zu kaschieren, dass er sich auf einer Waffe abstützte.

Welche Ziele verfolgte die katholische Zentrumspartei?

Katholische Fraktionen in der Paulskirche bildeten 1870 zur Abwehr des protestantischen Übergewichts die antipreußisch eingestellte Deutsche Zentrumspartei. Hauptforderungen der Zentrumspartei waren die Wiederherstellung des 1870 aufgelösten (mit Italien vereinten) Kirchenstaates und die Übernahme der die Unabhängigkeit der Religionsgemeinschaften garantierenden Artikel aus der preußischen Verfassung in die Reichsverfassung. Beides wurde von Bismarck abgelehnt. Aus dem antikatholischen Kulturkampf ging das Zentrum gestärkt hervor. 1871 noch mit 63 Sitzen im Reichstag vertreten, wuchs die Zahl ihrer Mandate 1874 auf 91 und stieg bis 1881 auf 100, im Jahr 1890 auf 106.

Industrielle Revolution: Technischer Fortschritt und Ausbeutung

Warum begann die industrielle Revolution in England?

England bot einfach die günstigsten Voraussetzungen: Bei der Zahl der Erfindungen von Maschinen lag England im 18. Jahrhundert unschlagbar vorne. Die Tüftler und Bastler wurden – im Gegensatz zu Deutschland – nicht durch Standesgrenzen oder Zunftgebote in ihrem Erfindungsdrang beschränkt. Im Gegenteil: Sie erhielten durch liberale Eigentumsgesetzgebung und ein effektives Patentrecht Unterstützung.

Der ausgedehnte Kolonialhandel brachte England großes Kapitalvermögen ein. So wurden wagemutige Unternehmer zum eigentlichen Motor der Industrialisierung. Als erste moderne Kapitalisten investierten sie, um Gewinne anzuhäufen. In ihrem puritanischen Glauben davon überzeugt, dass wirtschaftliche Erfolge Zeichen der von Gott gewährten Gnade seien (Erwerbsethik), waren sie rastlos tätig. Außerdem hatte die britische Krone schon früh einen einheitlichen Binnenmarkt und eine günstige Infrastruktur geschaffen.

Die der industriellen Revolution vorangegangene Agrarrevolution hatte größere und intensiver bewirtschaftete Nutzflächen gebracht und dafür gesorgt, dass kleinere und mittlere Betriebe aufgeben mussten. So waren zahlreiche ehemalige Landarbeiter als Industriearbeiter verfügbar. Bessere Ernährung und medizinische Versorgung sorgten daneben für einen rapiden Bevölkerungsanstieg (von 10,9 Mio. im Jahr 1800 auf 21 Mio. im Jahr 1851) und damit für fortwährend steigenden Bedarf an industriell gefertigten Gütern.

Wo fasste die Industralisierung in Deutschland Fuß?

Vorreiter wurde im 19. Jahrhundert Preußen. Preußische Unternehmer eigneten sich durch Import englischer Maschinen oder durch Übernahme englischer Innovationen die Technik an, Ingenieurnachwuchs wurde an technischen Schulen herangebildet. Weitere soziale und politische Voraussetzungen wurden in den Jahren 1807– 1814 durch eine Agrarreform nach englischem Vorbild und die Einführung der Gewerbefreiheit geschaffen.

War in Großbritannien die Textilbranche der Pioniersektor der Industrialisierung, so kam diese Rolle in Deutschland der Schwerindustrie, dem Eisenbahnbau (erste Strecke zwischen Nürnberg und Fürth, 1835) und dem Maschinenbau zu. Wichtige Stahlfabrikanten wurden Friedrich Krupp (1787–1826) in Mülheim an der Ruhr sowie August Thyssen (1842 bis 1926) in Essen.

Wie wollte Marx soziale Ungleichheit überwinden?

Durch die industrielle Produktionsweise entstand eine große soziale Kluft zwischen wenigen Fabrikbesitzern und der Masse der Industriearbeiter. Für die marxistische Ideologie (»Kommunistisches Manifest«, 1847) bewirkte der Gegensatz zwischen der Bourgeoisie als Besitzer der Produktionsmittel und dem besitz- und schutzlosen Proletariat im kapitalistischen System die zunehmende Verelendung letzterer. Ihr Ziel war darum der Zusammenschluss der Proletarier und die Übernahme der Macht über Staat und Produktionsmittel mit revolutionären Mitteln. Die Beseitigung des Privateigentums und die Planwirtschaft sollten im folgenden Schritt den materiellen Wohlstand aller steigern.

Wie wurde die Lage der Arbeiter verbessert?

In England wurde den Arbeitern ab 1824 das Recht auf Koalitionsfreiheit und Streik gewährt. Seitdem setzten Organisationen wie die Gewerkschaften soziale Reformen durch. Das englische Fabrikgesetz von 1833 legte die Arbeitszeit von 10 bis 13 Jahre alten Kindern auf acht, für Jugendliche auf zwölf Stunden fest. 1850 wurde der durch Fabrikinspektoren überwachte Zehnstundentag verfügt.

Für Preußen galt ab 1839 eine Verordnung mit folgenden Punkten: Verbot der Kinderarbeit vor dem neunten Lebensjahr, Verpflichtung zu dreijährigem Schulbesuch vor dem Eintritt in eine Fabrik, Beschränkung der Arbeitszeit für Jugendliche auf zehn Stunden am Tag, Verbot der Sonn- und Feiertags- sowie Nachtarbeit für Minderjährige. Das Mindestalter für Fabrikarbeit wurde 1853 auf zwölf Jahre hinaufgesetzt.

Wie lehnten sich die Arbeiter gegen die Ausbeutung auf?

Während der Industrialisierung gab es zahlreiche Aufstände der Arbeiter. Die erste proletarische Erhebung in Deutschland von überregionaler Bedeutung war die Revolte schlesischer Weber im Juni 1844 in Peterswaldau und Langenbielau, bei der Maschinen und Bücher der Fabrikanten und Verleger zerstört wurden. Der Weberaufstand wurde von preußischen Truppen blutig niedergeschlagen.

Wussten Sie, dass …

der wichtigste Theoretiker des Wirtschaftsliberalismus der Engländer Adam Smith (1723–1790) war? In seinen »Untersuchungen über die Natur und den Ursprung des Nationalreichtums« (1776) forderte er ein von gesetzlichen Regelungen freies Wirtschaftssystem, da dieses den Wohlstand einer Nation fördere.

Deutsche Außenpolitik: Vom Ausgleich zur Konfrontation

Auf welchem Fundament ruhte Bismarcks Politik?

Aus Furcht vor einem Zweifrontenkrieg gegen Deutschland errichtete Otto von Bismarck in den Jahren 1873–1887 ein umfangreiches, defensiv angelegtes Bündnissystem, das die europäischen Mächte mit Ausnahme Frankreichs im Krisenfall als Partner binden sollte. Österreich-Ungarn, Russland und Italien wurden in wechselseitigen Verträgen einbezogen, nur mit Großbritannien kam kein Defensivbündnis zustande. Ein wesentliches Ziel der Entspannungspolitik war die außenpolitische Isolierung Frankreichs.

Der Dreikaiserbund (1873–1881, erneuert im Dreikaiservertrag, 1881–1887) war ein Konsultativpakt mit Österreich-Ungarn und Russland zur gegenseitigen Verständigung im Krisenfall und verpflichtete die drei Mächte zur Neutralität beim Krieg eines Bündnispartners mit einer vierten Macht. Der Zweibund mit Österreich-Ungarn (1879–1918) bestand in einem Beistandspakt zur Absicherung gegen kriegerische Angriffe Russlands oder Frankreichs. Der Dreibund mit Österreich-Ungarn und Italien (1882–1914) sah Hilfszusagen bei einem Angriff auf eines der drei Länder vor. Der wegen der allgemein russlandfeindlichen Stimmung geheim geschlossene Rückversicherungsvertrag mit dem Zarenreich (1887–1890) legte die gegenseitige Neutralität im Defensivfall fest.

Wie entschärfte Bismarck den Balkankonflikt?

Bismarck vermittelte auch nach dem russisch-türkischen Krieg (1877/78) als Vorsitzender des Berliner Kongresses (1878) im Interessenkonflikt zwischen Russland, dem Osmanischen Reich und Österreich-Ungarn auf dem Balkan. Rumänien (ohne das südöstliche Bessarabien), Serbien und Montenegro wurden zu unabhängigen Staaten, Bulgarien ein den Türken tributpflichtiges Fürstentum. Bosnien und die Herzegowina kamen unter österreichisch-ungarische Verwaltung. Die Kompromisslösung, die die beteiligten Großmächte befriedigen und gleichzeitig den Spannungszustand unter ihnen erhalten sollte, hatte letztlich negative Wirkung für Deutschland und vor allem Russland zeigte sich verstimmt.

Blieb die Lage auf dem Balkan stabil?

Nein, die Region entwickelte sich zum Pulverfass. Der 1885 zwischen Bulgarien und Serbien ausbrechende Krieg stellte Europa vor eine neuerliche Belastungsprobe, zumal erst Russland, dann Österreich-Ungarn in den Konflikt eingriffen. Wiederum überwanden die diplomatischen Bemühungen Bismarcks die Krise: Er warnte Österreich vor zu großen Gebietsansprüchen auf dem Balkan und schloss mit Russland den drei Jahre geltenden und danach nicht mehr erneuerten Rückversicherungsvertrag (1887), der Russlands historische Rechte auf dem Balkan anerkannte und auf diese Weise ein Bündnis zwischen Russland und Frankreich verhinderte.

Wie sah die deutsche Kolonialpolitik aus?

Im Gegensatz zu anderen europäischen Nationen, wie vor allem Großbritannien und Frankreich, aber auch Spanien und Holland, besaß Deutschland keine Kolonien. Und Bismarck lehnte lange Zeit den Erwerb überseeischer Gebiete ab. Anfang der 1880er Jahre änderte sich diese Position: Zum Schutz der heimischen Wirtschaft, die sich in der Großen Depression befand, befürwortete der Reichskanzler die Errichtung von Handelsniederlassungen, um günstig an industrielle Rohstoffe und Nahrungsmittel zu gelangen. Der Erwerb der Kolonien sollte in der Hand von Handelsunternehmen oder Gesellschaften liegen. Der Staat sollte lediglich die überseeischen Besitzungen schützen (Bildung von so genannten Protektoraten).

Wie veränderte sich die Politik unter Wilhelm II.?

Unter Kaiser Wilhelm II. (reg. 1888 bis 1918) trat eine generelle Trendwende in der deutschen Außenpolitik ein: Von nun an ging es um imperialistische Ausdehnung. Für Bismarck war da kein Platz, er musste 1890 gehen. In den Jahren danach kam es zu folgenschweren außenpolitischen Entscheidungen, mit der die kunstvolle, aber auch unübersichtliche Balancepolitik Bismarcks ihr Ende fand:

Was waren die Fehler in der Außenpolitik in der Zeit nach Bismarck?

1. Bismarcks Nachfolger, General Leo Graf von Caprivi (reg. 1890–1894), war von der Unvermeidbarkeit eines Zweifrontenkriegs gegen Russland und Frankreich überzeugt. Durch Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrags mit Russland (1890) zerstörte er die deutsche Balancepolitik und trieb Russland in ein Bündnis mit Frankreich (französisch-russischer Zweibund, 1894).

2. Großbritannien, das wegen kolonialer Streitigkeiten mit Russland und Frankreich in den 1890er Jahren an einem Bündnis mit Deutschland interessiert war, wurde mehrfach verprellt: Wilhelm II. suchte seit 1894 den Konflikt mit den Briten in der Kolonialpolitik und sorgte für große Missstimmung, als er 1896 nach einem britischen Überfall auf Transvaal (Südafrika) offen seine Sympathie für die Buren erklärte (»Krüger-Depesche« an den Politiker Paulus »Ohm« Krüger).

3. Endgültig manövrierte sich das Deutsche Reich ab 1898 in die internationale Isolation, und zwar durch seine Flottenaufrüstung, in der die Briten einen Angriff auf ihre Seeherrschaft sehen mussten. England unterstützte dann 1904 Frankreichs Zugriff auf Marokko mit der Entente cordiale (französisch »Herzliches Einverständnis«), Deutschland scheiterte in seinem Bemühen, die neuen Bündnispartner auseinander zu bringen. Großbritannien erweiterte den französisch-russischen Zweibund zur Tripelentente (1907).

Wussten Sie, dass …

schon bald nach Bismarcks Entlassung am 20. März 1890 durch Wilhelm II. eine Welle der Verehrung des Reichskanzlers einsetzte? Die Zahl der Bismarckdenkmäler und -straßen ist noch heute kaum überschaubar. Eine Büste steht unter anderem in der Walhalla, der Ruhmeshalle der Deutschen.

Das Zeitalter des Imperialismus: Rassistischer Herrschaftsanspruch

Wo liegen die Anfänge des Imperialismus?

Vorboten der Kolonialisierung waren die großen Handelsorganisationen wie die seit dem 17. Jahrhundert im asiatischen Raum aktive britische Ostindische Kompanie, die sich in Übersee Niederlassungen als Stützpunkte für den internationalen Warenaustausch schufen. Während des 19. Jahrhunderts übernahmen Missionare wie David Livingstone (1813 bis 1873) die Erkundung fremder Erdteile.

Die imperialistische Kolonialpolitik des späten 19. Jahrhunderts machte sich die Aktivitäten von Mission und Handel zunutze. Geleitet von der übersteigerten Wertschätzung der jeweils eigenen Nation, ging es den Großmächten allerdings vor allem um wirtschaftliche Interessen (Rohstoffe, Absatzmärkte) und politische Macht. Die Industrialisierung und die wachsende Bevölkerung waren dabei die maßgeblichen wirtschaftlichen Beweggründe.

Wie begann die Kolonialisierung Afrikas?

An der Südspitze gründeten die Briten 1806 die Kapkolonie, Nachkommen deutscher und holländischer Siedler, Buren genannt, bildeten nördlich davon den Oranje- (1842) und den Transvaal-Freistaat (1853, ab 1884 Südafrikanische Republik). Angola und Moçambique wurden von den Portugiesen gehalten. Im Norden gerieten Tunesien und Algerien unter französische Kontrolle, während Libyen und Ägypten seit dem 16. Jahrhundert türkischer Einflussbereich waren.

Ein Aufteilungskampf um Afrika begann, als die Franzosen Tunesien (1881) und die Briten Ägypten (1882) besetzten. Militärische Konflikte unter den Großmächten drohten, als 1898 französische und britische Truppen am oberen Nil aufeinander trafen (Faschoda-Konflikt) und als Deutschland 1896 die Buren auf diplomatischem Wege gegen die Briten verteidigte (so genannte Krüger-Depesche an den südafrikanischen Politiker Paulus Krüger) sowie 1905/06 und 1911 das Engagement seines Rivalen Frankreich in Marokko zu unterbinden suchte (zwei Marokkokrisen).

Wie geriet China unter Fremdherrschaft?

China verlor im 19. Jahrhundert Stück für Stück seine Souveränität und geriet in halbkoloniale Abhängigkeit. Im Süden wurde es vor allem von den Briten, im Norden von den Russen bedrängt. Auch Japaner und Franzosen hatten Interessen in China. Das Hauptproblem der Europäer in China waren zunächst die einseitigen Handelsbeziehungen. Die traditionsbewussten, gegen fremden Einfluss weit gehend abgeschotteten Chinesen zeigten sich wenig interessiert, die als minderwertig betrachteten industriell gefertigten ausländischen Güter zu erwerben. Zudem erschienen ihnen die fortschrittsgläubigen Europäer in vielerlei Hinsicht als Barbaren. So konnten Handelsorganisationen wie die britische Ostindische Kompanie lange Zeit zwar Tee, Seide und Porzellan ausführen, aber kaum etwas nach China einführen. Das änderte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch den illegalen Import von bengalischem Opium.

Welche Folgen hatte der Opiumhandel?

Für die Briten ein Geschäft von gigantischen Ausmaßen, hatte der Opiumhandel katastrophale Folgen für die Volksgesundheit und die Wirtschaft vor Ort: Fast 90 % der chinesischen Bevölkerung verfiel dem Rauschgift. Doch dieses unmoralische Vorgehen steigerte sich noch: Maßnahmen der chinesischen Regierung gegen den Opiumhandel wurden von den Briten auf militärischem Weg zunichte gemacht. Im Opiumkrieg (1840–1842) demütigten sie aufgrund ihrer militärisch-technischen Überlegenheit das »Reich der Mitte«. China musste hohe Kriegsentschädigungen zahlen, Hongkong an die Briten abtreten und den Europäern die Märkte öffnen.

Wie wehrte sich China?

Der Taiping-Aufstand gegen den Opiumhandel und die Fremdherrschaft stürzten China 1850–1864 in einen Bürgerkrieg, dem mehr als 20 Mio. Menschen zum Opfer fielen. Nur mithilfe ausländischer Truppen gelang es der chinesischen Regierung, der Lage Herr zu werden. Weitere imperialistische Zugriffe waren die Folge: die Japaner besetzten Taiwan und Korea, die Russen Sinkiang (Xinjiang), die Mongolei und Kasachstan, die Franzosen Indochina, die Briten Burma. Nationalchinesische Bewegungen gegen die Fremdherrschaft gipfelten 1900/01 im so genannten Boxeraufstand. Die Bewegung »Fäuste für Rechtlichkeit und Eintracht« belagerte Ausländerviertel und ermordete Missionare. Sie wurde von den Kolonialmächten blutig niedergeschlagen.

Wie erweiterte das britische Empire sein Kolonialreich?

Gestützt auf die größte Kriegs- und Handelsflotte der Welt, gründete Großbritannien seine Expansion auf ein schon vor dem 19. Jahrhundert aufgebautes ausgedehntes Kolonialreich. Der Übergang zur imperialistischen Politik erfolgte 1877 unter Premierminister Benjamin Disraeli (reg. 1868 und 1874–1880) mit der Erhebung Indiens zum Kaiserreich unter britischer Krone. Die Annexion von Burma (1886) und Nordborneo (1888) sollte das neue Herzstück des britischen Weltreiches festigen.

Zur Sicherung des Seewegs nach Indien engagierte sich Großbritannien im Mittelmeer (Erwerbung Zyperns, 1878) und in Nordafrika. Der 1869 eingeweihte Suezkanal, der den Seeweg nach Indien erheblich verkürzte, geriet 1875 durch Aktienkauf in britische Hand. 1882 sicherten sich die Briten durch Niederwerfung eines nationalägyptischen Aufstands die Herrschaft über Ägypten.

Nächste Ziele waren die Eroberung des gesamten Niltals sowie die Verbindung der Kolonien im Norden und Süden (Kapkolonie, seit 1806 britisch) des Kontinents (»Vom Kap bis nach Kairo«). Die Hoffnungen auf ein koloniales Monopol in Zentralafrika zerschlugen sich 1884/85 auf der Kongo-Konferenz in Berlin: Das Kongobecken wurde für neutral erklärt, der »Unabhängige Kongostaat« Belgien (statt dem mit Großbritannien verbündeten Portugal) zugesprochen. Im Burenkrieg drangen die Briten 1899–1902 von der Südspitze Afrikas nach Norden vor, indem sie in den Burenrepubliken Oranje-Freistaat und Südafrikanische Republik die Herrschaft an sich rissen.

Wie änderte England seine Außenpolitik?

Die britische Krone hatte bis 1898 allein auf ihre Überlegenheit auf den Weltmeeren vertraut. Nach dem Faschoda-Konflikt am oberen Nil mit den Franzosen gab sie jedoch ihre Politik der splendid isolation (»glanzvolles Alleinsein«) auf und suchte nach außenpolitischen Bündnispartnern. Nachdem das Inselreich mit Deutschland in den Jahren 1898–1901 zu keiner Einigung gekommen war, gelang 1904 mit der »Entente cordiale« die Absprache mit Frankreich, die u. a. Frankreichs Zugriff auf Marokko unterstützte.

Wer war Großbritanniens größter Rivale?

Frankreich – es sicherte sich im 19. Jahrhundert weite Teile Nord- und Zentralafrikas. Ab 1830 wurde Algerien vereinnahmt, 1870 stand es völlig unter französischer Kontrolle. 1881 erlangte Frankreich das Protektorat über Tunesien. Vom Senegal-Küstengebiet ins Landesinnere vordringende Truppen eroberten weite Teile des nordwestlichen Zentralafrika (Französisch-Westafrika, Französisch-Äquatorialafrika) – die genauen Grenzen wurden 1899 im Sudan-Vertrag mit Großbritannien festgelegt. Am Kampf um China beteiligte sich Frankreich durch Eroberung des Mekongdeltas, wo 1887 Französisch-Indochina gegründet wurde. 1893 wurde Laos hinzugewonnen.

Wann stieg Deutschland zur Kolonialmacht auf?

Die Kolonialgeschichte Deutschlands begann erst Mitte der 1880er Jahre. Das Ziel des Reichskanzlers Otto von Bismarcks war zunächst nur der Schutz deutscher Handelsgesellschaften. Schutzbriefe für deutsche Kaufleute gegen ausländische Konkurrenz waren der Anfang der außereuropäischen Gebietserwerbungen des Deutschen Reiches.

Zu den wichtigen Organisationen, die unter Kaiser Wilhelm II. (reg. 1888–1918) die Kolonialpolitik vorantrieben, wurden der 1882 gegründete Deutsche Kolonialverein und die 1884 gebildete Gesellschaft für Deutsche Kolonisation, die sich 1887 zur Deutschen Kolonialgesellschaft (DKG) vereinigten. 1891 wurde der Alldeutsche Verband ins Leben gerufen, eine nationalistisch geprägte Organisation mit antisemitischer und antisozialistischer Ausrichtung. Zum Schutz der Kolonien und zur Garantie der deutschen Weltmachtstellung gründete Marineadmiral Alfred von Tirpitz (1849–1930) 1898 den Deutschen Flottenverein (DFV). Die Erwartungen erfüllten sich allerdings nicht: Die Kolonien spielten weder für die Außenhandelswirtschaft noch als Auswanderungsgebiete eine nennenswerte Rolle.

Wie wurde der Herrschaftsanspruch theoretisch unterlegt?

Unter Verweis auf den britischen Naturforscher Charles Darwin (1809–1882) wurde die Kolonialpolitik wissenschaftlich gerechtfertigt. Darwins fürs Tierreich entwickelte Selektionstheorie kündete, aufs menschliche Zusammenleben übertragen, von der Überlegenheit der europäischen »Rasse« beim »Kampf ums Dasein« (Sozialdarwinismus). So betonte der britisch-südafrikanische Kolonialpolitiker Cecil Rhodes 1877: »Ich behaupte, dass wir die erste Rasse in der Welt sind und dass es umso besser für die menschliche Rasse ist, je mehr von der Welt wir bewohnen.«

Wussten Sie, dass …

der schottische Missionar und Forschungsreisende David Livingstone wesentlich das Bild prägte, das sich die Europäer seiner Zeit von Afrika machten? Sein Reisebericht »Missionsreisen und Forschungen in Südafrika« (1857, deutsch 1859) diente als Handbuch für künftige Kolonialisierungsbestrebungen.

Wie erforschte David Livingstone den afrikanischen Kontinent?

In Glasgow zum Arzt und Missionar ausgebildet, kam der am 19.3.1813 in Blantyre bei Glasgow geborene Livingstone 1841 im Auftrag der Londoner Missions-Gesellschaft nach Südafrika. Enttäuscht von der Arbeit in christlichen Missionsstationen, begann er 1849 seine Entdeckertätigkeit. 1851 erreichte er den Sambesi. 1853–1856 durchquerte er als Erster das südliche Afrika, wobei er 1855 die Victoriafälle entdeckte. Weniger erfolgreich waren seine beiden weiteren Expeditionen, 1858–1863 für die britische Regierung sowie 1866 bis 1873 für die Royal Geographical Society: Der Sambesi erwies sich als nicht schiffbar und die Erkundung der Nilquellen scheiterte schon daran, dass Livingstone sie südlich des Tanganjikasees vermutete. Er starb am 1.5.1873 in Chitambo (heute Sambia).

Wussten Sie, dass …

Russland und Japan 1904/05 einen Krieg um Besitzstände in China führten? Im durch amerikanische Vermittlung geschlossenen Frieden von Portsmouth musste Russland den erst 1898 erworbenen Flottenstützpunkt Port Arthur sowie den südlichen Teil Sachalins an Japan abtreten, die Mandschurei räumen und die japanischen Interessen an Korea anerkennen.

Deutschland seine Kolonialpolitik mit dem Anspruch auf einen »Platz an der Sonne« begründete? So sprach Kanzler von Bülow 1897 vor dem Reichstag: »Wir wollen niemanden in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.«

Welche Kolonien besaß Deutschland?

Bismarck sicherte sich 1884/85 Südwestafrika (heute Namibia), Togo, Kamerun und Deutsch-Ostafrika (Tansania); dazu Kaiser-Wilhelms-Land (Deutsch-Neuguinea) und das Bismarck-Archipel. Unter Wilhelm II. kamen das chinesische Kiautschou mit dem Hafen Tsingtau (1898), die Inselgruppe der Marianen und Karolinen, die Palau-Inseln und Teile der Samoa-Inseln (alle 1899) dazu. Durch den mit Großbritannien geschlossenen Helgoland-Sansibar-Vertrag (1890) gelangten Helgoland sowie der Caprivizipfel (Zugang von Deutsch-Südwestafrika zum Sambesi-Fluss) in deutschen Besitz. Dafür wurden Gebiete in Ostafrika sowie die Insel Sansibar abgetreten.

Wussten Sie, dass …

der fränkische Sozialpolitiker Friedrich Fabri (1824–1891) als Vater der deutschen Kolonialbewegung gilt? Er gründete 1869 die Missions-Handels-Gesellschaft und wurde später Vertrauensmann von Reichskanzler Bismarck in kolonialen Fragen. Fabri plädierte damals aufgrund des Bevölkerungswachstums für Massenauswanderung als sozialpolitische Notwendigkeit.

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