wissen.de Artikel

Müssen die Deutschen mehr arbeiten?

Wie faul sind die Deutschen wirklich? Nach einem Bericht des Instituts der deutschen Wirtschaft liegt die Gesamtarbeitszeit in unserem Land deutlich unter der unserer Nachbarländer. Dies nahm Bundeskanzler Friedrich Merz zum Anlass, mehr Arbeitseinsatz und weniger „Work-Life-Balance“ von uns allen zu fordern. Aber was steckt wirklich hinter den angeblich „faulen“ Deutschen? Hat Merz womöglich Recht – oder doch nicht?
SSC/NPO, 02.06.2025
Symbolbild Arbeitszeit

© kieferpix, iStock

„Wir müssen in diesem Land wieder mehr und vor allem effizienter arbeiten“, erklärte Bundeskanzler Friedrich Merz unlängst. „Mit Viertagewoche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht erhalten können.“ Hat Merz recht? Eine kürzlich veröffentlichte Auswertung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) scheint ihm auf den ersten Blick Recht zu geben: „In Deutschland wird deutlich weniger gearbeitet als in den meisten anderen Ländern.“

Das sagen die Zahlen

Aber was sagen die Zahlen konkret? In besagter Auswertung vergleicht das IW Zahlen zur durchschnittlichen jährlichen Arbeitszeit in verschiedenen Industrieländern aus dem Jahr 2023. Als Quelle für die Zahlen dient eine Statistik der OECD. Sie zeigt: Während der OECD-Durchschnitt 1.742 Stunden pro Jahr pro Person beträgt, arbeiten Menschen in Deutschland im Schnitt 1.343 Stunden jährlich. Damit liegen wir auf den ersten Blick deutlich unter dem Durschnitt auch unserer Nachbarländer. Mit 1.897 Stunden pro Kopf und Jahr ist Griechenland das europäische Land mit den meisten Arbeitsstunden. Das IW berichtet zudem, dass die Zahl der Arbeitsstunden je Einwohner im Erwerbsalter in Ländern wie Tschechien, Polen oder Griechenland stark gestiegen ist. In Deutschland hingegen stagniert sie.

Unter der Grafik der OECD findet sich allerdings ein wichtiger Hinweis: „Die Daten sind für Vergleiche von Trends im Zeitverlauf gedacht; für Vergleiche des Niveaus der durchschnittlichen Jahresarbeitszeit für ein bestimmtes Jahr sind sie wegen der unterschiedlichen Quellen und Berechnungsmethoden nicht geeignet.“ Konkret bedeutet dies beispielsweise, dass die Arbeitszeiterfassung nicht überall gleich zuverlässig und nach den gleichen Kriterien erfolgt. Zudem wird in der Statistik nicht differenziert, ob es sich um Minijobs, Vollzeitstellen oder Teilzeit handelt.

Balkendrigramm; Durchschnittliche Jahresarbeitsstunden ausgewählter Länder (2023)
Durchschnittliche Jahresarbeitsstunden je Einwohner im Erwerbsalter für ausgewählte Länder (2023)

© OECD

Die Produktivität ist entscheidend

Genau diese Einschränkungen werden jedoch im Bericht des Instituts der deutschen Wirtschaft nicht berücksichtigt und nicht erwähnt. Das kritisieren auch Experten vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung: Sie haben dem IW-Bericht deshalb ihre „Unstatistik des Monats“ gewidmet.

Einer der Kritikpunkte:  „Die bloße Zahl der Arbeitsstunden je Einwohner im Erwerbsalter ist nicht aussagekräftig in Bezug auf die Frage, ob in Deutschland ausreichend und effizient genug gearbeitet wird“, erklären die Experten. Was das IW nicht berücksichtigt hat, ist beispielsweise die Produktivität der geleisteten Arbeitsstunden. „Im europäischen Vergleich schafft eine in Deutschland geleistete Arbeitsstunde einen überdurchschnittlich hohen Wert“, so das Leibniz-Institut. „Wir arbeiten seit vielen Jahren sehr effizient.“

Hinzu kommt ein weiterer Punkt: Es ist ganz normal, dass die Zahl der Arbeitsstunden pro Kopf in einem hochproduktiven Land wie Deutschland weniger stark steigt als in weniger produktiven, erst langsam in ihrer Wirtschaftskraft aufholenden Ländern. So zeigen Vergleichsstatistiken, dass die Arbeitsproduktivität in solchen Ländern stärker wächst als in Ländern, die schon lange ein höheres Produktivitätsniveau haben.

Mehr Teilzeit, aber auch mehr Arbeitende insgesamt

Einen weiteren entscheiden Kritikpunkt nennt der Wirtschaftswissenschaftler Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Er weist darauf hin, dass im Bericht des Instituts für Deutsche Wirtschaft nicht zwischen Vollzeit- und Teilzeitarbeit unterschieden wird. Doch genau hier unterschiedet sich Deutschland deutlich von vielen seiner Nachbarländer:  Hierzulande sind die Arbeitsstunden in Vollzeit in den letzten Jahren konstant hoch geblieben. Aber anders als bei vielen unserer Nachbarn hat der Anteil der Menschen zugenommen, die in Teilzeit arbeiten. Dies betrifft vor allem Frauen, die beispielsweise wegen mangelnder Kitaplätze zusätzlich zum, Job Kinder betreuen müssen und deshalb gar nicht mehr arbeiten können – selbst, wenn sie wollten.

Betrachtet man zudem, wie viele Menschen in Deutschland insgesamt arbeiten, fällt ein weiterer Fakt auf, den Merz und das IW nicht nennen: Die sogenannte Erwerbsbeteiligung hat auch in Deutschland weiter zugenommen. Das bedeutet, dass immer mehr Menschen in den Arbeitsmarkt einsteigen. Laut Enzo Weber hat die Generation Z sogar „die höchste Erwerbsbeteiligung von jungen Leuten seit Jahrzehnten“. Demnach arbeiten heute mehr Menschen in Deutschland als früher – aber eben nicht immer in Vollzeit.

Ebenso zugenommen hat der Krankenstand: „Aber das meiste davon dürfte auf eine bessere Erfassung zurückgehen, seit durch die elektronische Krankschreibung Zettel nicht mehr ‚unter den Tisch fallen‘“, so Weber.

Müssen wir mehr in die Hände spucken?

Nach Ansicht vieler Experten ist das Problem demnach nicht die „Faulheit“ der Deutschen oder eine mangelnde Arbeitsmoral. Stattdessen können viele Menschen schlicht nicht mehr arbeiten – beispielsweise, weil es bei Angeboten zur Kinderbetreuung oder der Pflege älterer Angehöriger hapert. „Die wahre ‚gewaltige Kraftanstrengung‘ besteht also nicht darin, den Deutschen einzureden, sie seien zu faul – sondern darin, endlich die seit Jahrzehnten bekannten strukturellen Probleme anzugehen“, so das Leibniz Institut für Wirtschaftsforschung.

Hinzu kommt, dass der demografische Wandel bereits heute die Lage am Arbeitsmarkt verschärft: Die älteren Angestellten, Arbeiter und Beamten aus den geburtenstarken Jahrgängen der „Boomer“ gehen zunehmend in Rente. Die Lücken in den Jobs können  aber nur zum Teil durch die weniger zahlreichen jüngeren Generationen gefüllt werden.

Trotzdem fehlen tiefgreifende Reformen – etwa beim Renteneintrittsalter oder bei der gezielten Förderung von Arbeitsmigration und der Erwerbstätigkeit bereits hier lebender Ausländer, so die Kritik der Leibniz-Instituts. Zusätzlich sei die sogenannte „Minijob-Falle“ ein Problem: „Viele Frauen, die nach der Geburt eines Kindes in einen Minijob einsteigen, arbeiten selbst nach zehn Jahren noch in geringfügiger Beschäftigung. [...] Hier geht viel Potenzial für mehr Arbeit verloren.“

Weitere Artikel aus dem Vornamenlexikon