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Besorgniserregender Trend: Autokratische Staaten in der Mehrheit

Schon länger beobachten Wissenschaftler einen schleichenden Verfall der Demokratie in vielen Ländern und eine Zunahme von Machtmissbrauch und Einschränkung der Meinungsfreiheit. Aber nun gibt es zum ersten Mal seit Beginn der Beobachtungen im Jahr 2004 mehr Autokratien als Demokratien auf der Welt. Wo trat die Vernachlässigung demokratischer Werte besonders zu Tage? Und inwiefern wirkte sich die Pandemie auf diese Entwicklung aus?
JFR, 23.03.2022
Weißrussische Miliztruppen

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An der am 24. Februar 2022 auf Geheiß von Wladimir Putin gestarteten Invasion Russlands in der Ukraine und dem seither anhaltenden Krieg zeigt sich deutlich die Gefahr, die Autokratien für unsere Gesellschaft darstellen können. Daher ist es heute umso wichtiger, die Entwicklung von Autokratien auf der Welt im Blick zu behalten. Seit 2004 analysiert und bewertet dafür der Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung (BTI) regelmäßig die Qualität von Demokratie, Marktwirtschaft und Regierungsführung in Entwicklungs- und Transformationsländern.

Mehr Autokratien als Demokratien

Von den insgesamt 137 untersuchten Ländern werden aktuell nur noch 67 als Demokratie eingestuft, während die Zahl der Autokratien auf 70 stieg. Denn der aktuelle Bericht klassifiziert sieben Länder neu als Autokratien. Die Länder, zu denen unter anderem Madagaskar, Nigeria und Mali gehören, befinden sich alle in Afrika südlich der Sahara. Doch auch andere Staaten haben sich weiter von demokratischen Werten weg entwickelt. Die Länder Brasilien, Bulgarien, Ungarn, Indien, Serbien und Polen wurden im Jahr 2012 noch als stabile Demokratien eingestuft und fallen heute in die Kategorie der defekten Demokratie – sozusagen eine Vorstufe der Autokratie.

Die Autoren des Berichts beobachten außerdem ein deutlich erhöhtes Konfliktpotential in vielen Ländern. Als Grund dafür sehen sie auf der einen Seite ein sinkendes Vertrauen der Menschen in ihre Regierung. Auf der anderen Seite haben viele Regierungen eine Spaltung der Gesellschaft aufgrund von Identität und Religion gefördert, um ihre Macht zu legitimieren. "Insbesondere die Regierungen in Ungarn, Indien und der Türkei haben Identitätspolitik genutzt, um zu polarisieren", schreiben die Autoren. Beispielsweise richtet sich der autoritäre Islamismus des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gegen die Anhänger der Gülen-Bewegung, die zu Staatsfeinden erklärt wurden, sowie gegen die kurdische Minderheit.

Pandemie als Autokratie-Treiber

Die prekäre Situation der demokratischen Grundwerte hat sich durch die Pandemie in vielen Ländern meist noch verschlechtert. Für die Durchsetzung der Hygiene-Maßnahmen haben fast alle Staaten die fundamentalen und demokratischen Grundrechte ihrer Bürger einschränken müssen. Doch diese Maßnahmen, die eigentlich der Virus-Eindämmung dienen sollten, haben in manchen Fällen auch Autokratien gefördert. Denn sie wurden als Vorwand verwendet, um die bürgerlichen Freiheiten mehr als nötig zu beschneiden und die Macht der Polizei und anderer Ordnungshüter zu stärken.

Sabine Donner, Demokratieexpertin der Bertelsmann Stiftung, sieht darin langfristige Schäden: "Autoritäre Taktiken anzuwenden, statt Probleme zu lösen, ist in demokratischen Gesellschaften besonders verheerend. Das leichtfertig verspielte Vertrauen kann nur schwer wieder hergestellt werden". Stabile Demokratien hingegen konnten meist aufgrund ihrer Rechtsstaatlichkeit, sozial integrativer Marktwirtschaft und guter bis sehr guter Regierungsführung am erfolgreichsten mit der Gesundheitskrise umgehen, heißt es im aktuellen BTI Bericht.

Demokratie geht von der Gesellschaft aus

Eine hoffnungsvolle Nachricht hält der BTI-Bericht jedoch auch bereit. Oft zeigte sich gerade dort, wo Regierungen in der Pandemie versagten, eine bemerkenswerte Stärke von bürgerschaftlichem Engagement und gesellschaftlicher Solidarität. "Zivilgesellschaften stellen oft die letzte und zäheste Bastion des Widerstands gegen die Autokratie dar, manchmal unter großen Opfern, wie in Belarus, Myanmar und im Sudan zu beobachten war", heißt es im Bericht.

Die Menschen fordern überfällige gesellschaftliche Reformen ein, wie beispielsweise größere soziale Inklusion in Chile, oder stemmten sich erfolgreich gegen Korruption und Amtsmissbrauch wie in Bulgarien, Rumänien oder Tschechien. Die größten Impulse für demokratische Innovation und Erneuerung gehen derzeit also weitaus seltener von Regierungen als von kritischen Zivilgesellschaften aus.

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