wissen.de Artikel
Oktober – zwischen Herbstidylle und Flüchtlingselend
Oktober in Deutschland: die Blätter färben sich golden, die Weinlese beginnt, Dörfer und Gemeinden huldigen auf Erntedankumzügen ihren jungen, hübschen Ernteköniginnen – Idylle pur. Auch politischerseits stehen in Deutschland die Zeichen im Oktober traditionell auf Harmonie und Freude. Schließlich gedenken wir am 3. Oktober der Deutschen Wiedervereinigung, die nicht nur aus zwei halben Staaten wieder einen ganzen gemacht hat, sondern auch als Symbol für die Überwindung von Unterdrückung und Verfolgung gilt.
Knapp 2000 Kilometer weiter südlich trägt sich am 3. Oktober 2013 ein Ereignis zu, das mit Frieden und Freude aber auch gar nichts zu tun hat: Gerade einmal einen Kilometer vor der Küste der kleinen Mittelmeerinsel Lampedusa zünden 500 verzweifelte Flüchtlinge eine Decke an, um auf sich aufmerksam zu machen, nachdem an Bord der Motor ausgefallen ist. Tage vorher sind die Menschen im libyschen Misrata gestartet, sie sind von der beschwerlichen Überfahrt stark geschwächt. Feuer und Panik breiten sich an Deck aus, das Boot kentert und zieht zahlreiche Menschen mit in die Tiefe. Über 300 Menschen sterben, nur 155 Menschen überleben die Katastrophe. Aber Ruhe finden auch sie nicht: Die italienische Staatsanwaltschaft begrüßt Flüchtlinge standardmäßig mit einem Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Illegale Einreise.
Europäische Parallelwelten
Man stelle sich beide Ereignisse – die Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit und das Bootsunglück – im Splitscreen-Verfahren vor: Während auf der linken Bildschirmseite hunderte Leichen aus dem Meer gefischt und in schwarzen Säcken verstaut werden, fragt rechts Bundespräsident Joachim Gauck in Stuttgart in seiner Feiertagsrede: „Nimmt Deutschland seine Verantwortung ausreichend wahr etwa gegenüber den Nachbarn im Osten, im Nahen Osten oder am südlichen Mittelmeer?“ Und er fordert zum Handeln auf: „Unser Land ist keine Insel. Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, wir könnten verschont bleiben von den politischen und ökonomischen, den ökologischen und militärischen Konflikten, wenn wir uns an deren Lösung nicht beteiligen.“
Große Worte, kleine Wirkung
Wer möchte nicht gern dazu beitragen, dass die Welt ein besserer Ort wird? Und wer möchte angesichts der erschütternden Bilder aus Lampedusa ernsthaft bezweifeln, dass Flucht und Vertreibung auf der Agenda der Weltverbesserer ziemlich weit oben stehen sollten? Jeden Tag sehen sich 23.000 Menschen irgendwo auf der Welt gezwungen, ihren Heimatort zu verlassen und anderswo Schutz zu suchen, so UNHCR, das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen.
Keine Frage, dass es die Welt friedlicher und schöner machen würde, wenn man diesen Menschen Schutz bieten und zugleich die Gründe, die sie zur Flucht bewegt haben, ausräumen könnte. Zumindest zu Ersterem haben sich schon vor Jahren fast alle Staaten der Welt bekannt, als sie die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichneten. Innerhalb der Europäischen Union soll zudem eine Handvoll Richtlinien und Verordnungen für eine einheitliche und verantwortliche Flüchtlingspolitik sorgen.
Aber die Realität für Flüchtlinge, die in der EU Schutz suchen, sieht anders aus. Die EU-Agentur Frontex gerät regelmäßig in die Schlagzeilen, weil sie Flüchtlinge in so genannten Push-Back-Operationen gewaltsam davon abhält, Europa zu erreichen. Italienische Fischer müssen mit Strafen rechnen, wenn sie ertrinkende Flüchtlinge retten, auf Malta werden Flüchtlinge in gefängnisartige Einrichtungen gesperrt. Die innereuropäische Rückführung von Flüchtlingen nach Griechenland ist bereits seit 2011 durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte offiziell ausgesetzt – wegen des hohen Risikos, dass Flüchtlinge dort menschenunwürdigen Lebensbedingungen ausgesetzt werden. Die Mittelmeerländer sehen sich von der EU im Stich gelassen, denn die so genannte Dublin-II-Verordnung schreibt vor, dass Flüchtlinge in dem Land Asyl beantragen müssen, über das sie die EU betreten haben – und das trifft nun einmal das sonnige Italien viel häufiger Italien als den hohen Norden.
Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen werden nicht müde, auf diesen offenkundigen Missstand hinzuweisen und eine Reform der Flüchtlingspolitik zu fordern – aber allen hehren Reden über die Errungenschaften von Demokratie, Menschlichkeit und europäischer Einheit zum Trotz befällt EU-Politiker, deren Staaten nicht ans Mittelmeer grenzen, eine ungewohnte Zurückhaltung, wenn es um eine Reform der euroäischen Flüchtlingspolitik geht.
Eine Chance auf gute Taten
Dieses Beharren auf dem geltenden Recht ist gleich doppelt schade. Für die Flüchtlinge, die meist traumatisiert in Europa ankommen und hier noch immer nicht zur Ruhe kommen und sich eine Zukunft aufbauen können. Und für die Politiker, die die Gelegenheit verspielen, aus der grauen Bürokratenmasse herauszutreten und mit einem mutigen Engagement für eine für ganz Europa funktionierende Flüchtlingspolitik zu beweisen, dass es ihnen ernst ist mit ihren großen Worten über Gerechtigkeit und Frieden. Stattdessen müssen afrikanische Flüchtlinge auf dem Berliner Oranienplatz in einen Hunger- und Durststreik treten, um auf ihre Verzweiflung aufmerksam zu machen, in Hamburg schickt die Innenbehörde Polizisten los, um Menschen mit afrikanischem Aussehen Personenkontrollen zu unterziehen, man beruft sich auf geltendes Recht. Im Alltag verblassen die Werte, die Recht und Gesetz eigentlich prägen sollten.
Ein Blick zurück zum 3. Oktober 1990 – dem Tag der deutschen Wiedervereinigung: „Die Einheit Deutschlands ist vollendet“, verkündete Bundespräsident Richard von Weizsäcker damals kurz nach Mitternacht vor dem Reichstagsgebäude. „Wir sind uns unserer Verantwortung vor Gott und den Menschen bewusst. Wir wollen in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen.“ Jetzt wäre eine gute Gelegenheit dazu. Dann können wir im kommenden Herbst vielleicht auch wieder die herbstliche Idylle in Deutschland genießen, ohne Tragödien in der restlichen Welt ausblenden zu müssen.