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Die USA und der Vietnam-Krieg (Podcast 217)

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Als am 27. Januar 1973 nach monatelangem Tauziehen der US-Außenminister William P. Rogers das Waffenstillstandsabkommen mit Nordvietnam unterschrieb, war für die USA nach acht Jahren ein Krieg zu Ende, der je länger er dauerte, immer mehr zum Alptraum wurde und schließlich in einem moralischen, militärischen und politischen Desaster endete. Ohne die Unterstützung durch die USA war das prowestliche Regime Südvietnams dem kommunistischen Bruderstaat im Norden hoffnungslos unterlegen. Als Vietnam 1975 unter kommunistischen Vorzeichen gewaltsam vereint wurde, war das Debakel perfekt. Eine Nation stand unter Schock: Die führende Weltmacht hatte in den Dschungeln einer drittklassigen Regionalmacht den ersten Krieg überhaupt verloren. Vor allem aber hatten die USA ihren Glauben daran verloren, auf der moralisch richtigen Seite zu stehen. Völlig sinnlos schien der Tod von rund 60.000 US-Soldaten. Das viel zitierte „Vietnam-Trauma“ bestimmte unbewusst oder bewusst Außenpolitik und Kultur der USA über Jahrzehnte. „Dieser Krieg wird uns immer verfolgen“, prophezeite einmal ein Veteran. wissen.de-Autor Christoph Marx zeichnet die wesentlichen Schritte nach, die das militärische Engagement in Vietnam zu einer Katastrophe für die USA werden ließen. Des Weiteren beleuchtet er die sozialen, politischen und kulturellen Folgen für das Selbstverständnis einer Gesellschaft, die sich zum ersten Mal mit einem weltpolitischen Scheitern auseinandersetzen musste. Sein Beitrag trägt den Titel: Die USA und das Trauma des Vietnam-Krieges.

Nach dem Zweiten Weltkrieg stand auch die regionale Außenpolitik im Schatten der großen ideologischen Systemauseinandersetzung zwischen Ost und West. Auf der praktisch komplett unter französischer Kolonialherrschaft stehenden südostasiatischen Halbinsel waren nach 1945 starke nationale Autonomiebestrebungen entstanden, die von kommunistischer Seite unterstützt wurden. Dagegen versuchte Frankreich gewaltsam, seine Kolonialherrschaft in Vietnam aufrechtzuerhalten. Finanziell unterstützt wurde das Land von den USA, die gegen den sich ausbreitenden Kommunismus in Südostasien vorgehen wollten. Nachdem sich die Franzosen 1954 aus der Region zurückzogen, stützten die USA weiter das im Süden des Landes etablierte prowestliche, bei der Bevölkerung wegen Korruption unbeliebte Regime. Nur ein starkes Südvietnam könne den Vormarsch des Kommunismus in Südostasien stoppen, lautete die von Eisenhower bis Nixon von allen US-Präsidenten vertretene Argumentationslinie. Als die kommunistischen Guerillakämpfer des Vietcongs im Süden immer mehr Anhänger fanden, verknüpften die USA ihr Profil als westliche Führungsmacht offen mit dem Schicksal Südvietnams und griffen massiv in den Konflikt ein.

Nach einem bis heute ungeklärten, möglicherweise fingierten nordvietnamesischen Angriff auf US-Truppen in der Bucht von Tonkin am 2. August 1964 flogen erstmals US-Bomber Ziele in Nordvietnam an. Im fatalen Glauben, so Moral und Lebensbasis der vorwiegend in den Dschungeln des Landes operierenden Vietcong-Kämpfer brechen zu können, kam es systematisch zu einer Eskalation der Gewalt: Kontinuierlich wurden die Bodentruppen verstärkt, ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung Städte und Versorgungswege bombardiert, Napalm und hochgiftige Chemikalien eingesetzt, um das Land zu „entlauben“ – mit langfristig verheerenden Gesundheitsschäden für US-Soldaten wie für Millionen Vietnamesen. Doch trotz der großen materiellen Überlegenheit gelang kein entscheidender Durchbruch. Der hoch motivierte Gegner wurde unterschätzt. Ein klares Kriegsziel fehlte. Vor allem aber stärkten nicht länger zu verheimlichende US-Gewaltexzesse in der Heimat immer mehr die Zweifel an der Legitimität des eigenen Tuns und demoralisierten die eigenen Truppen. Seitdem den nordvietnamesischen Guerillakämpfern 1968 eine überraschende Gegenoffensive gelungen war, stand bei den US-Entscheidungsträgern zunehmend die Frage im Vordergrund, wie ein militärischer Rückzug aus dem nicht mehr zu gewinnenden Krieg ohne allzu großen politischen Gesichtsverlust möglich war. Doch der wachsende innenpolitische Druck und der desolate Zustand der eigenen Leute spielten dem Vietcong in die Hände.

 

Die Folgen der Niederlage

Der verlorene Krieg traf die amerikanische Gesellschaft ins Mark und beeinflusste langfristig die Politik und die kulturelle Selbstwahrnehmung der Nation. Der Vietnam-Krieg hatte das Land tief in Kriegsgegner und Kriegsbefürworter gespalten. Die antiautoritäre Studenten- und Bürgerrechtsbewegung, die für mehr gesellschaftliche Teilhaberechte und Reformen stritt, konnte von den Folgen des Krieges profitieren und gewann immer mehr an Einfluss. Dazu kam das Schicksal der Veteranen, die in ein Land zurückkamen, das von dem Krieg nichts mehr wissen wollte. Fast eine Million Kriegsheimkehrer musste psychologisch behandelt werden. Angeblich sollen mehr Veteranen Selbstmord begangen haben, als Soldaten in Vietnam gefallen sind.

 

Politik nach Vietnam

Die Politik nach Vietnam war für die USA eine andere geworden. Der Krieg hatte dem Land einen riesigen Schuldenberg hinterlassen. Auf 150 Milliarden Dollar beliefen sich die Kosten. Angeblich warf die US-Luftwaffe in Vietnam insgesamt vier Mal so viele Bomben ab, wie während des Zweiten Weltkriegs in ganz Europa von allen Kriegsparteien abgeworfen wurden. Unter ihren Partnern verloren die USA durch die Katastrophe in Südostasien die unumstrittene Autorität als westliche Führungsmacht. Keine unüberlegten außenpolitischen Abenteuer mehr, lautete lange Zeit das Credo für die US-Präsidenten nach Vietnam. Auch in der innenpolitischen Auseinandersetzung wurde Vietnam zu einem Kampfbegriff. Ob Anhänger oder Gegner, ob Teilnehmer oder Wehrdienstverweigerer – die Haltung zu dem Konflikt konnte auch Jahrzehnte später Wahlen mitentscheiden. So spielte 2004 im Präsidentschaftswahlkampf zwischen dem Vietnam-Veteranen John Kerry und dem „Drückeberger“ an der Heimatfront George W. Bush der Krieg eine nicht unerhebliche Rolle. Bis heute wird mit Vietnam versucht, Politik zu machen. Anfang Januar 2013 verwies Präsident Obama bei der Nominierung seines neuen Verteidigungsministers Chuck Hagel ausdrücklich auf dessen militärischen Dienst in Vietnam. Noch immer bewegt dieser Krieg die Gemüter der Amerikaner.

Dabei ist jenseits der parteipolitischen Instrumentalisierung der Krieg von Historikern längst in den größeren Zusammenhang des Kalten Krieges gestellt und damit relativiert worden. Der Vietnam-Krieg gilt im Rückblick als einer von vielen Stellvertreterkriegen im Rahmen der großen Systemauseinandersetzung. Und den Kalten Krieg haben die USA bekanntlich für sich entschieden. In diesem Sinn war Vietnam nur eine verlorene Schlacht in einem letztlich gewonnenen Krieg. Eigentlich.

 

von wissen.de-Autor Christoph Marx, Januar 2013

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