"Fleisch ist ein Stück Lebenskraft.“ Wer mit diesem Werbeslogan aufgewachsen ist, mag kaum glauben, dass Fleisch durchaus seine problematischen Seiten haben kann. Tatsächlich bringt der hohe Fleischkonsum der westlichen Welt eine ganze Reihe von Problemen mit sich – Massentierhaltung, Gammelfleischskandale und übergewichtige Verbraucher sind nur einige davon. Wie sieht es also mit der Alternative Vegetarismus aus? Eine vegetarische Ernährungsweise wird von immer mehr Menschen praktiziert. Welche Argumente sprechen dafür, welche Formen fleischloser Ernährung gibt es, und welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen?
Die gekippte Nahrungspyramide
Über Essen zu sprechen, ist gar nicht so einfach. Essen muss jeder, Essen geht daher auch jeden an. Die Frage, wer was isst, kann daher bei Tisch durchaus Thema sein. Das gilt umso mehr, da letzte Gewissheiten fehlen. Im Wettstreit der Meinungen, im Austausch der Argumente für oder gegen eine fleischreiche, fleischarme oder sogar fleischlose Kost geht die Übersicht schnell verloren. Oft führt die Debatte auch in den Bereich der Ideologie, wenn mit einer bestimmten Ernährungsweise auch eine bestimmte Heilsvorstellung verbunden ist. Der dann bisweilen an den Tag gelegte missionarische Eifer wird schnell langweilig. Letztlich bleibt es jedem freigestellt, was er essen möchte.
Allerdings: Während sich für eine fleischarme oder sogar fleischlose Ernährung sehr treffliche Argumente finden lassen, gibt es für intensiven Fleischverzehr kaum nachvollziehbare Gründe. Dabei ist Fleisch zunächst überhaupt nichts Schlechtes. Im Gegenteil: Aufgrund seines hohen Proteinanteils ist es ausgesprochen nahrhaft. Es besitzt nicht nur Mineralstoffe wie Selen, Zink, Mangan und Eisen, sondern auch wertvolle Vitamine wie B6 und B12. Aber auch hier gilt: Die Dosis macht das Gift. Die momentan gültige Ernährungspyramide der Deutschen Gesellschaft für Ernährung empfiehlt, Getreideprodukte sowie Obst und Gemüse in den Mittelpunkt der Ernährung zu rücken – Fleisch hingegen soll nur zwei- bis dreimal pro Woche zu sich genommen werden. Die Realität sieht deutlich anders aus: In Deutschland wurden 2010 pro Kopf 83 Kilo Fleisch verzehrt.
Fleisch ist in großen Mengen verfügbar. Die Zeiten, in denen es nur die Wohlhabenden aßen, sind vorbei. Von der Kantine bis zum Schnellrestaurant, von der Bratwurstbude bis zum Gourmettempel biegen sich die Tafeln unter zubereitetem rotem und weißem Fleisch. Die Folgen sind beträchtlich. Zum einen für das Individuum, weil Fleisch Cholesterin wie Fett enthält und somit Herzkreislauferkrankungen und Übergewicht begünstigen kann. Auch steht es immer noch im Verdacht, Darmkrebs zu begünstigen. Zum anderen sind weder die Massentierhaltung noch die Transporte den Tieren zuträglich, und von der Schlachtung kann man dies schon gar nicht behaupten. Wer gesehen hat, wie mit Tieren umgegangen wird, dem vergeht bisweilen der Appetit. Und: Tiere benötigen Futter. Die hierzu verwendete Nahrungsmittel – wie Getreide oder Hülsenfrüchte – könnten mehr Menschen ernähren, wenn sie direkt an diese gingen.
Fleisch ist kein Gemüse
Die Alternative zum hohen Fleischverzehr liegt zunächst einmal darin, diesen zu reduzieren und eine andere Haltung in Ernährungsfragen einzunehmen. Doch wer mag, kann auch ganz auf Fleisch verzichten. Bei nicht wenigen Menschen ist das keine Frage eines bewusst gefassten Entschlusses. Ihnen schmeckt einfach kein Fleisch und dementsprechend bedeutet es für sie auch keinen Verlust, wenn sie auf darauf verzichten. Andere hingegen führen Vernunftgründe an, die sich aus den genannten Problemen herleiten. Manche möchten nicht, dass Tiere verletzt oder getötet werden, andere sind auf der Suche nach einer gesünderen Ernährungsweise. Isoliert braucht sich kein Vegetarier zu fühlen, denn menschheitsgeschichtlich ist der Verzicht auf Fleisch seit der Mitte des 1. Jahrtausends vor Christus belegt. Und: Im hinduistisch geprägten Indien ernähren sich breite Bevölkerungsschichten aus religiösen Gründen vegetarisch. Denn wer an die Wiedergeburt glaubt, möchte im nächsten Leben nicht auf dem Teller seines Nächsten enden. Konkrete Zahlen sind jedoch schwer zu ermitteln. Der Vegetarierbund Deutschland zählt hierzulande sieben bis acht Prozent der Bevölkerung zu den Vegetariern – das wären rund sechs Millionen Menschen.
Vegetarier ist allerdings nicht gleich Vegetarier. Wer statt Fleisch Fisch isst, wird dem Pescetarismus zugerechnet, von dem sich Vegetarier distanzieren. Dies auch, weil Pescetarier sonstige tierische Nahrungsmittel wie Milch, Eier und Honig zulassen. Strenge Vegetarier lehnen diese gleichfalls ab; Ovo-lacto-Vegetarier hingegen akzeptieren Milchprodukte und Eier. Bei vegan lebenden Menschen kann es aus ethischen Gründen auch zu einer Vermeidung von tierischen Nebenprodukten wie Wolle, Leder oder Daunenfedern kommen. Ihnen geht es darum, "alle Formen der Ausbeutung und Grausamkeiten an Tieren für Essen, Kleidung oder andere Zwecke zu vermeiden“. Hier wird nicht nur das "richtige“ Essen hinterfragt, hier kommen Aspekte einer Lebensphilosophie ins Spiel. Die gilt auch für die Splittergruppe der Frutarier, die nur Dinge verzehren, die die spendende Pflanze nicht schädigen.
Vegetarismus ist keine Mangelernährung. Wer sich fleischlos ernährt, nimmt zumeist mehr Kohlenhydrate, weniger Eiweiß und insbesondere weniger Fett zu sich als ein "Mischköstler“. Erheblich bessere Cholesterinwerte und ausbleibendes Übergewicht sind die Folge. Und auf Genuss braucht ebenfalls niemand zu verzichten, bloß weil er das Steak weglässt – auch die vegetarische Küche kennt ihre Delikatessen. Was sie vielleicht grundsätzlich von einer durchschnittlichen Ernährung unterscheidet, ist ihre gestiegene Aufmerksamkeit gegenüber dem, was auf den Tisch kommt. Eine sorgfältige Auswahl der Zutaten und die Frage, wo bestimmte Produkte eigentlich herkommen, finden sich bei Vegetariern überproportional häufig. Liegt hier vielleicht eine Botschaft?
Der Geist ist willig …
Es bleibt auch weiterhin jedem überlassen, wie er sich ernähren will – und in welchem Umfang Fleisch und Fisch dazugehören. Der Kopf, so der Künstler Farncis Picabia, ist ja nicht zuletzt deswegen rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann. Und auch wenn er Geist willig und das Fleisch dennoch bisweilen schwach ist, lassen sich vielfältige Alternativen zum unreflektierten Fleischkonsum finden. Carlo Petrini, Gründer und internationaler Präsident der Organisation Slow Food, meint: "Ich möchte die Geschichte einer Speise kennen. Ich möchte wissen, woher die Nahrung kommt. Ich stelle mir gerne die Hände derer vor, die das, was ich esse, angebaut, verarbeitet und gekocht haben.“ Mit anderen Worten: "Buono, pulito e giusto – gut, sauber und gerecht.“ Und natürlich besteht die Möglichkeit, ganz auf Fleisch und Fisch zu verzichten. Wer will, kann es ja einfach mal eine Woche oder einen Monat lang ausprobieren. Damit man sich nicht immer sagen muss: "Das Bessere sehe ich und heiße es gut, dem Schlechteren aber folge ich.“ So gesehen, liegt im Fleischverzicht eine Chance.