Wir finden, es ist an der Zeit, sich über einen bestimmten Wesenszug des Menschen Gedanken zu machen: über die Gier. Unter ihrem lateinischen Namen Avaritia taucht die Gier oder Habsucht bereits im katholischen Katalog der sieben Todsünden auf. Aus freiem Willen und in vollem Bewusstsein verstoße der Gierige gegen die göttlichen Gebote und gebe sich damit der Verdammnis preis. Doch ist der Mensch wirklich aus freien Stücken gierig? Oder ist die Gier ebenso wie unsere Fähigkeit zu moralischem Handeln konstitutiver Bestandteil der menschlichen Natur? Liegt uns die Gier in den Genen? Oder sind die Hormone schuld daran, dass wir gierig sind? Susanne Böllert ist der Frage nach dem Ursprung der Gier auf den Grund gegangen.
Besonders gierige Zeitgenossen
Beispiele für besonders gierige Zeitgenossen hat die jüngste Vergangenheit mehr als genug geliefert. Angefangen beim ehemaligen Post-Chef Klaus Zumwinkel, der Steuern in schwindelerregender Höhe hinterzogen hat, über Milliarden-Betrüger Bernhard L. Madoff bis zum früheren BayernLB-Vorstand Gerhard Gribkowsky, der 50 Millionen Dollar aus undurchsichtigen Formel 1-Geschäften kassiert haben soll – die Maßlosigkeit und Habgier dieser Manager haben die Menschen über alle Maßen empört. Die Verdammnis, die diesen Gierigen ebenso wie den Hochmütigen und Selbstsüchtigen, laut katholischer Lehre droht, gönnt ihnen der kleine Mann von Herzen und vergisst derweil, dass auch auf Neid und Zorn dieselbe göttliche Strafe steht.
In diesem Zusammenhang lässt sich wohl auch der Fall des Karl-Theodor zu Guttenberg betrachten: War es die Gier nach Anerkennung, die Sucht nach Prestige, gepaart mit einem guten Schuss Stolz und Eitelkeit, die den von Geburt an Privilegierten dazu trieb, sich einen Doktortitel zu erschummeln? Einen Titel, der für die politische Karriere völlig ohne Nutzen und am Ende nur zu ihrem Schaden gewesen ist? Immerhin strebt wer gierig ist oft nur vordergründig nach Vermehrung oder Sicherung des Reichtums.
Gierig und unersättlich
Umso mehr Geld eine Person angehäuft hat, desto mächtiger wird sie. Sie gewinnt an Ansehen, Einfluss und Attraktivität. Mit wachsendem Bankkonto steigt am Ende auch das Gefühl, unantastbar, ja unfehlbar zu sein. Nur eins steigt leider nicht: das Glück. Denn das Fatale an der Gier ist: Sie ist unersättlich. Wer gierig ist, bleibt es. Schon Epikur wusste: "Nichts genügt demjenigen, dem das, was genügt, zu wenig ist."
Neuere Untersuchungen haben indes gezeigt, dass selbst ein Lottogewinn, also ein gänzlich unverdienter Geldsegen, die Menschen auf die Dauer nicht glücklich macht. Nur ein Jahr nach dem Gewinn sind die meisten Lottomillionäre genauso glücklich oder unglücklich, wie sie es immer schon waren.
Umso unerklärlicher scheint es, dass nicht wenige der Jackpot-Knacker schon nach kurzer Zeit damit beginnen, ihr Geld in neue Lottoscheine zu investieren. Nur Matthias Sutter findet das nicht weiter erstaunlich.
Wer gierig ist, sucht den Kick
Der Theologe und Wirtschaftswissenschaftler vergleicht das Verhalten von Aktien-Zockern mit dem von Spielern oder Süchtigen. Am Beispiel des amerikanischen Hedgefondsgründers Raj Rajaratnam, der trotz eines Privatvermögens von 1,3 Milliarden Dollar mit Insider-Geschäften im Wert von höchstens 20 Millionen alles aufs Spiel gesetzt hat, erklärt Matthias Sutter, Professor für Finanzwissenschaft: "Menschen, die an einer Spielsucht leiden, sind auch ständig auf der Suche nach einer neuen Belohnung. Ihr Belohnungszentrum im Gehirn schlägt nicht ausreichend aus. Deshalb brauchen sie immer neue Kicks."
Kicks, die unser Hirn in Form von Glückshormonen austeilt. Und zwar immer dann, wenn ein menschlicher Grundtrieb befriedigt wurde. So setzt der Nucleus accumbens im neuronalen Belohnungszentrum unseres Gehirns eine gute Portion des glücklich machenden Botenstoffs Dopamin frei, sobald wir uns satt gegessen oder einen Orgasmus erlebt haben. Menschen, die besonders gierig sind, brauchen häufiger als andere eine solche hormonelle Belohnung.
Die Hirnstrukturen und Aktivierungen im Gehirn dieser Personen sind tatsächlich leicht verändert. Sind die Gierigen also wirklich von Natur aus gierig?
Unschuldig gierig
Davon, dass viele Menschen gar nicht anders als gierig sein können, gehen zumindest der israelische Verhaltensgenetiker Richard Ebstein und der Biologe David Rand von der Harvard Universität aus. Sie haben zwei Gene identifiziert, die angeblich dafür verantwortlich sind, wie geizig oder großzügig, beziehungsweise wie risikobereit oder gierig ein Mensch ist. So soll das Gen AVPR1a ausschlaggebend dafür sein, wie bereitwillig jemand seinen Besitz mit anderen teilt. Kommt das Gen nur in seiner verkürzten Variante vor, ist es, so die Wissenschaftler, um die Fairness seines Trägers schlecht bestellt. Wer in seinem Erbgut jedoch eine bestimmte Variante des DRD4-Gens besitze, der neige zu einer erhöhten Risikobereitschaft, da sein Belohnungssystem nur auf besonders starke Reize reagiere.
Allerdings darf nicht Mutter Natur allein dafür verantwortlich gemacht werden, wie geizig, gierig oder maßlos ein Mensch ist. Denn gierig machen können auch die Umstände. In der Psychologie geht man davon aus, dass, wer von Verlustängsten geplagt wird, versuchen könne, diese zu kompensieren, indem er immer mehr materielle Güter anhäufe. Die Angst, diese wieder zu verlieren, treibt ihn erneut an, seinen Reichtum zu vermehren. Ein Teufelskreis. Auch der große Konkurrenzdruck in einer durch und durch kapitalistischen Gesellschaft kann zu einer unverantwortlichen Risikobereitschaft beitragen, wie sie Investmentbanker und Großaktionäre, selbst, nachdem sie große volkswirtschaftliche Schäden verursacht haben, immer wieder an den Tag legen.
Gierig sind nicht nur die Superreichen
Doch sei die Gier kein Wesensmerkmal der Superreichen, die ihren Hals eben einfach nicht vollkriegten, mahnen Experten, sondern ein Charakterzug vieler Menschen, ganz gleich aus welcher sozialen Schicht sie stammten.
Ökonom Matthias Sutter erklärt: "Relativ gesehen gibt es kaum Unterschiede im Verhalten von Armen und Reichen. […] Menschen vergleichen sich immer mit ihrer Umgebung. Das heißt, Rajaratnam misst sich mit anderen Milliardären und der Pförtner an Menschen, die irgendwie durchkommen müssen. Und wenn Rajaratnam dann einen anderen Hedgefondsmanager trifft, der zwei Yachten hat – und er nur eine-, dann kann ihn das unglücklich machen."
So müssen wir wohl akzeptieren, dass in jedem von uns ein König Midas steckt. Dieser bat einst Dionysos, den Gott der Ekstase, alles was er berühre, möge sich in Gold verwandeln. Doch nachdem ihm sein Wunsch gewährt wurde, drohte der König zu verhungern. Denn auch alle Nahrung, die Midas gierig berührte, wurde zu Gold.
Dass Reichtum auf die Dauer nicht glücklich macht, ist also ein alter Hut. Die junge Wissenschaft der Neuroökonomie erklärt nun endlich, weshalb der Mensch, wenn es ums liebe Geld geht, einfach nichts dazu lernt. Ganz nebenbei hat die aus den Neuro- und den Wirtschaftswissenschaften hervorgegangene Disziplin das Ideal des Homo oeconomicus, des durch und durch logischen und rational entscheidenden und wirtschaftenden Typen, zu Grabe getragen. Brian Knutson, Psychologe und Neurowissenschaftler an der Stanford University, hat festgestellt, dass das Belohnungszentrum unseres Hirns auf einen erhaltenen Geldbetrag zwar reagiert, jedoch deutlich geringer als auf die Aussicht darauf. Und je höher der mögliche Gewinn ist, desto stärker feuern die Neuronen im Nucleus accumbens die Risikobereitschaft der Gierigen an. Die Vernunft jedoch setzt erst wieder ein, wenn das Geschäft unter Dach und Fach ist und das Geld im Portemonnaie steckt. Gierig auf eine Gewinnchance bleiben wir dennoch.
Gierig sein ist gar nicht so schlecht
Am Ende sei es uns erlaubt, eine Lanze zu brechen für den Menschen und seine Gier. In ihrer sexuellen Ausprägung, der Begierde, aber auch als Wissbegier oder Neugier mag man ihr durchaus Positives abgewinnen. Denn dann dient sie einerseits dem Erhalt der menschlichen Rasse und andererseits der Entwicklung der Menschheit, zumal der Erfindungsgeist ohne Wissbegier und Neugier gar nicht denkbar wäre.
Zu guter Letzt möchten wir auf eine Studie der University of Michigan verweisen, die belegt, dass die Gier, die im deutschen Strafrecht übrigens zu den niedrigen Beweggründen zählt und aus einem Totschlag Mord macht, nicht nur typisch menschlich ist. Ja, auch Tiere sind gierig. So fanden die Affenforscher heraus, dass die aggressiven Ngogo-Schimpansen im Kibale-Nationalpark in Uganda ihre Nachbarstämme einzig und allein aus einem Grund vertrieben oder sogar töteten: Sie gierten nach neuem Land sowie den Früchten und Nachbarn, die einst die Rivalen ernährten.
Susanne Böllert, wissen.de-Redaktion