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Traumsuse und Träumerchen – ADHS ohne Hyperaktivität

Impulsiv, hyperaktiv und kaum fähig, sich zu konzentrieren – das sind bei Kindern die typischen Symptome der Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung ADHS. Aber es gibt auch Fälle von ADHS, die sich weit weniger typisch manifestieren. Diese Kinder fallen eher dadurch auf, dass sie oft abwesend und verträumt sind. Das hinter diesem Verhalten eine Störung stecken kann, wird daher oft nicht erkannt.
NPO / Stiftung Kindergesundheit, 01.07.2020

Die typischen Symptome der ADHS – Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität – sind von Kind zu Kind unterschiedlich ausgeprägt und müssen auch nicht alle gleichzeitig vorliegen.

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Als typisch für ADHS gelten drei Kernsymptome: beeinträchtigte Aufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Betroffene Kinder zeigen sich häufig unkonzentriert, lassen sich leicht ablenken, wirken rastlos und müssen immer in Bewegung sein. Darüber hinaus folgen sie stets ungebremst ihren spontanen Ideen und Wünschen und können nicht gut abwarten. Dabei fallen sie zum Beispiel anderen ins Wort oder platzen in das Spiel anderer Kinder hinein.

In Deutschland sind laut Stiftung Kindergesundheit etwa 2,3 Prozent der Mädchen und 6,5 Prozent der Jungen im Alter von drei bis 17 Jahren von der Diagnose ADHS betroffen. "Mit einer Häufigkeit von rund vier Prozent liegt die Häufigkeit der ADHS-Diagnosen bei uns im internationalen Mittelbereich", berichtet Kinder- und Jugendarzt Berthold Koletzko von der Stiftung Kindergesundheit. "Die Existenz dieser Störung ist auch längst nicht mehr umstritten. Durch die volkstümliche Bezeichnung ‚Zappelphilipp’ wird das Problem lediglich verniedlicht." Denn ohne angemessene und gezielte Behandlung besteht das Risiko lebenslanger Konsequenzen.

ADHS gibt es auch ohne Hyperaktivität

Doch es gibt auch einen Typ von ADHS, der bislang oft übersehen wurde, wie der Experte erklärt. Denn gerade bei Mädchen scheint sich diese Störung häufiger auf untypische Weise zu manifestieren. Diese Kinder verhalten sich oft anders als der sprichwörtliche „Zappelphilipp“, sondern fallen eher als "Traumsusen" auf: Statt eine übersteigerten motorischen Unruhe zu zeigen, sind sie eher still und verträumt.

Bei Kindern mit dieser ADS ohne Hyperaktivität stehen die Konzentrationsschwäche und die gestörte Aufmerksamkeit im Vordergrund. Schon im Vorschulalter wechseln sie ihre Spiele schnell, wissen oft nicht, was sie machen sollen und haben dann schlechte Laune. Sie reagieren häufig überempfindlich, leicht gekränkt und werden schnell zu Außenseitern. Das Zusammenspiel mit anderen Kindern ist dadurch oft gestört. Zudem träumen diese Kinder auffallend oft vor sich hin, starren Löcher in die Luft, sind unaufmerksam, zerstreut und „schusselig“. Laute Situationen in der Kindergruppe empfinden sie eher als unangenehm und halten sich lieber in der Kuschelecke auf.

Im Schulalter kann sich diese "stille" Form der Aufmerksamkeitsstörung darin zeigen, dass die Kinder sich leicht ablenken lassen, dem Unterricht nicht folgen können und oft stundenlang über ihren Hausaufgaben sitzen. Trotz guter oder sehr guter Intelligenz haben sie schlechte Noten und bleiben so hinter ihren eigentlichen Möglichkeiten. Betroffene Kinder übersehen oft Details, machen Flüchtigkeitsfehler, haben Probleme beim Organisieren und Planen von Aufgaben, sind ablenkbar und vergesslich. Gleichzeitig sind solche "Träumer" jedoch meist intelligent, phantasievoll, kreativ und oft sogar hochbegabt.

Bei Kindern mit dieser ADS ohne Hyperaktivität stehen die Konzentrationsschwäche und die gestörte Aufmerksamkeit im Vordergrund.

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Helfen kann eine Therapie aus mehreren Bausteinen

Wie aber kann man Kindern mit dieser stillen ADHS helfen? Voraussetzung ist in jedem Fall eine sorgfältige Diagnostik, durchgeführt von einem erfahrenen Kinder- und Jugendarzt, Kinder- und Jugendpsychiater oder Kinder- und Jugendpsychotherapeuten. Denn nicht jedes Kind, das häufiger mal vor sich hinträumt, hat deswegen gleich ADHS. Ähnlich wie bei der klassischen Form ist es daher wichtig genau zu ermitteln, ob das Verhalten des Kindes ganz normal und einfach nur eine Phase ist oder ob eine Störung dahinter steckt.

Wichtig auch: Zwar gibt es inzwischen einige Medikamente, mit denen eine ADHS behandelt werden kann. Doch solche Stimulantien wie Methylphenidat oder Atomoxetin greifen in den Hirnstoffwechsel ein und können daher langfristige Nebenwirkungen haben. Fachleute sind sich daher einig, dass eine ausschließlich medikamentöse Behandlung von ADHS ungenügend ist.

Stattdessen empfehlen Experten eine sogenannte multimodale Therapie, bei der verschiedene Formen der Behandlung individuell nach den Bedürfnissen des Kindes zusammengestellt werden. Bausteine sind vor alle Psychotherapie und Verhaltenstraining, aber auch spezielle Hilfen in der Schule. Die jungen Patienten lernen dabei zum Beispiel, mit welchen Techniken sie sich besser konzentrieren und Handlungen besser planen können. In Rollenspielen üben sie neue Verhaltensweisen für den Alltag ein – und Bewegungsangebote sollen ihnen helfen, ihre Impulsivität spielerisch zu steuern.

„Manchmal sind es schon einfache Maßnahmen wie die Einführung einer klaren Alltagsstruktur, Reizreduktion oder ein Wechsel des Sitzplatzes im Klassenraum, die eine deutliche Verbesserung bewirken“, erklärt ADHS-Expertin und Pädagogin Marie-Luise Ludewig. Spezielle Elterntrainings oder Eltern-Kind-Therapien können zudem dabei, dass Eltern ihr Kind besser verstehen und sich ihm gegenüber angemessen zu verhalten. Angeboten werden solche Therapien zum Beispiel von sozialpädagogischen Zentren, spezialisierten Ambulanzen sowie Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und -psychiatern.

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