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Keine Schonung bei Rückenschmerzen
90% aller Rückenschmerzpatienten sind nach vier Wochen auch ohne Behandlung schmerzfrei, etwa die Hälfte aller Bandscheibenoperationen überflüssig. Warum zu viel Rückenschule uns krank gemacht hat und warum man sich mit Rückenschmerzen auf keinen Fall ins Bett legen sollte, erklärt Experte Dr. Marnitz im Interview.
ARTE : Was ist neu an der "neuen" Rückenschule?
Dr. Marnitz : Die klassische skandinavische Rückenschule empfahl Ende der 60er Jahre, den Rücken möglichst wenig zu belasten. Man befürchtete, dass eine zu starke (Ab)nutzung des Rückens letztendlich zu Bandscheibenvorfällen führen könnte. Diese sehr technikorientierten Vorstellungen sind in der Folge sehr stark verschult worden, alle kennen die Empfehlung, die Wasserkiste mit geradem Rücken zu heben. Diese dogmatischen Vorgaben sind mittlerweile durch biomechanische Untersuchungen widerlegt und haben mehr Leid gebracht als Nutzen. Rückenschmerzen haben sich von Anfang der 70er Jahre bis heute verdreißigfacht, und Menschen, die den Rücken beim Sitzen oder Heben krumm machen, haben wesentlich weniger Rückenschmerzen als diejenigen, die sehr auf den geraden Rücken achten. Die neue Rückenschule ermutigt die Menschen, ihre natürlichen Bewegungsabläufe wiederzufinden und zu nutzen, die sich aus einer Kombination aus Bein-und Rückenarbeit ergeben.
Den Rücken also möglichst wenig schonen – auch bei einem Bandscheibenvorfall?
Bei dem einfachen Bandscheibenvorfall handelt es sich sehr häufig um einen natürlichen altersbedingten Verschleiß. Vereinfacht ausgedrückt : So wie wir Falten im Gesicht bekommen, bekommen wir auch Falten in den Bandscheiben - ohne dass der Patient unter Rückenschmerzen leiden muss. Auch heute noch sind schätzungsweise 50 % der Operationen überflüssig. Ein schwerer Bandscheibenvorfall mit Lähmungen, Problemen beim Wasserlassen oder beim Stuhlgang muss natürlich operiert werden, aber auch und gerade bereits Betroffene sollten sich möglichst wenig schonen, selbst nach einer Operation.
Sport treiben, auch wenn’s weh tut?
Auf jeden Fall. Früher hat man niemals "in den Schmerz hinein" trainiert. Heute trainiert man trotz Schmerzen noch etwas weiter, natürlich nicht bis zum bitteren Ende. In der Anfangszeit wird der Patient in der Regel mehr Schmerzen haben als vorher, aber letztendlich hat noch jeder von den neu erlernten Bewegungsabläufen profitiert.