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Arzneimittel mit KI entwickeln

Von Long Covid bis zu Arthrose – jegliche Erkrankung schränkt das eigene Leben enorm ein. Neue Medikamente können die Beschwerden der Betroffenen jedoch immer weiter mindern und eventuell sogar heilen. Künstliche Intelligenz kann die Forschung und Entwicklung neuer Medikamente unterstützen und dadurch schneller und kosteneffizienter gestalten. Doch wie funktioniert KI gestützte Arzneimittelforschung? Wie verbreitet ist die Methode bereits? Und was steht der Nutzung von KI im Medizinbereich noch im Wege?
THE, 18.04.2024
Frau und humanoider Roboter bei der Arbeit im Labor

© demaerre, iStock

Ein klitzekleiner Papierschnitt und schon läuft das Blut stundenlang in Strömen – den Betroffenen der Hämophilie fehlt ein für die Blutgerinnung erforderliches Protein. Als Folge verzögert sich die Wundheilung, Blutungen dauern länger und blaue Flecken werden größer und zahlreicher. Im schlimmsten Fall kann eine gehemmte Blutgerinnung auch zum Tod führen. Die verbreitete Krankheit ist zwar nicht heilbar, doch es gibt Medikamente, die sie in Schach halten: Für schwere Fälle existiert mittlerweile sogar eine Gentherapie, die das Protein dauerhaft ersetzen soll. Doch die Entwicklung des Präparates Hemgenix war teuer und hat viele Jahre gedauert.

Arzneimittelforschung ist langwierige und teuer

Wie Hämophilie lassen sich auch andere unheilbare Krankheiten, wie beispielsweise Asthma, mit den richtigen Medikamenten in Schach halten. Neue, wirkungsstärkere Medikamente können das Leiden der Betroffenen immer weiter abmildern, wie das Beispiel des Präparates Hemgenix deutlich zeigt. Doch ein neues Medikament zu entdecken, ist nicht nur sehr kostenintensiv, der Prozess ist auch sehr langwierig: Im Schnitt dauert es von der Patentanmeldung bis zur Zulassung 12 Jahre.

Als Ursache für den aufwendigen Zulassungsprozess von neuen Medikamenten nennt Dagmar Krefting, Professorin für Medizinische Informatik der Universität Göttingen das Aufeinandertreffen von komplexen biochemische Stoffkombinationen mit den hochkomplexen Prozessen des menschlichen Körpers. Zudem müssten neue Medikamente zahlreiche Ansprüche erfüllen. „Ein Medikament muss nicht nur eine gewünschte Wirkung entfalten, sondern sollte keine unerwünschten Nebenwirkungen verursachen, möglichst wenig Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten haben, gut verträglich sowie kosteneffizient herstellbar, lagerfähig und leicht zu verabreichen sein“, erläutert die Forscherin.

KI als vielseitiger Helfer der Medizinentwicklung

Künstliche Intelligenz könnte einige dieser Probleme lösen, indem sie Forschende in allen Phasen der Entwicklung neuer Medikamente unterstützt. „Der Einsatz von KI ändert am grundlegenden Ablauf der Wirkstoff-Entwicklung nichts, aber dieser kann Prozesse beschleunigen und die Chance auf eine erfolgreiche Entwicklung steigern“, erklären Klemens Budde und sein Forschungsteam in einem Whitepaper zum Thema. Beispielsweise könnte sie klinischen Prüfungen durch neue datengestützte Studiendesigns und virtuelle Studiengruppen verbessern. Auch ließen sich mit KI wichtige Eigenschaften der eingesetzten Wirkstoffe wie deren Toxizität und Herstellbarkeit schnell abschätzen.

Konkret könnte der Einsatz beispielsweise so aussehen: Chatbots helfen bei der Auswahl der Medikament-Wirkstoffe im Arzneimittel, indem sie genetische Daten mit wissenschaftlicher Literatur verknüpfen. Basierend auf dem gesammelten Wissen erstellt die KI eine netz­artige Darstellung aller Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge und Wechselwirkungen im Körper im Zusammenhang mit der Krankheit. „Das ist vor allem bei komplexen Krankheitsbildern wie Krebs und neurodegenerativen Krankheiten relevant“, erklären Budde und seine Kollegen. Diese betreffen laut den Forschenden oft eine Vielzahl biologischer Prozesse im Körper und sind nur mit Kombinationstherapien mehrerer Wirkstoffe effektiv behandelbar. Diese komplexen Zusammenhänge und die schiere Menge an verfüg­barem medizinischem Wissen sind für die menschliche Kognition sonst kaum zu verarbeiten.

Wie verbreitet ist KI in der Entwicklung neuer Medikamente?

Doch trotz ihrer vielen Vorteile in zahlreichen Einsatzbereichen ist die Nutzung von KI-gestützten Lösungen in der Arzneimittelentwicklung noch eine Seltenheit: Weltweit existieren nur etwa 700 entsprechende Unternehmen. „Die großen Potenziale von KI in der Wirkstoffentwicklung, die teilweise bereits realisiert werden, betreffen vor allem die Reduktion der Zyklenzeiten sowie Entwicklungskosten für Arzneimittel, die Generierung neuer Hypothesen durch erweiterte Datennutzung und damit einhergehende Veränderungen in der Forschungs­kultur“, berichten Budde und sein Team.

Unter den Unternehmen, die bereits KI zur Entwicklung neuer Medikamente nutzen, sind das Google Unternehmen DeepMind, sowie das US-amerikanische Biotechnologieunternehmen Insilico Medicine. Letzteres arbeitete beispielsweise an einem Wirkstoff gegen Fibrose. Eine bislang unheilbare Krankheit, bei der sich das Bindegewebe beispielsweise in der Lunge verhärtet und so zu trockenem Husten, sowie zu Atemnot führt. Der Einsatz der KI war erfolgreich: Das Unternehmen konnte für weniger als 850.000 Dollar einen entsprechenden Wirkstoff entwickeln. Normalerweise liegen die durchschnittlichen Kosten bei etwa 664 Millionen Dollar.

Bei der Durchführung der klinischen Studien bis zur Zulassung eines Arzneimittels wird KI jedoch noch seltener eingesetzt. „Dabei machen diese zwischen der Hälfte und zwei Drittel der Gesamtentwicklungskosten aus und stellen zudem besonders kritische Phasen dar, da die Arzneimittel bei Menschen zum Einsatz kommen“, konstatiert Krefting. Auch die Potenziale von KI in der Evidenzgenerierung und der Prozessoptimierung bei klinischen Studien werden laut der Forscherin aktuell auch aufgrund mangelnder rechtlicher Vorgaben zum Einsatz von KI in diesem Bereich nicht genutzt.

Hürden der KI-gestützten Wirkstoffforschung

Denn eine Hürde auf dem Weg zur verbreiteten Anwendung von KI in der Arzneimittelentwicklung ist die mangelnde Vertrauenswürdigkeit der KI-erzeugten Vorhersagen. Die Einschätzungen der KI, beispielsweise zur Toxizität eines bestimmten Wirkstoffes, müssen aber zuverlässig und nachvollziehbar sein. „Insbesondere müssen die Grenzen, in denen die KI zuverlässige Ergebnisse liefern kann, klar gesetzt werden“, ergänzt Krefting.

Doch um möglichst zuverlässige Aussagen treffen zu können, benötigt eine KI vor allem eins: Daten. Derzeit existiert allerdings noch eine Datenlücke zur menschlichen Biologie, zum Beispiel in Bezug auf Krankheitsmechanismen und die Wirkung von Arzneimitteln. „Diese können durch mehr Daten von Patientinnen und Patienten und KI-unterstützte Auswertung potenziell geschlossen werden“, schlagen Budde und sein Forschungsteam vor. Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz, das im März 2024 in Kraft getreten ist, verbessert die Forschungsmöglichkeiten schon deutlich, denn es erlaubt Forschenden einen vereinfachten Zugang zu den anonymisierten Gesundheitsdaten der Bevölkerung.

Ein weiteres Problem: Die Entscheidungsfindung von KI nutzt häufig Algorithmen des Maschine-Learning. Diese Algorithmen basieren allerdings auf sogenannten selbstlernenden Prozessen. Sie verbessern sich also während der Ausführung des Programmes stetig selbst. Das bedeutet aber auch: Sie ändern sich ständig. Das macht ihre Vorhersagen auf Dauer intransparent und unplanbar. Obwohl KI in der Arzneimittelentwicklung von den meisten Experten als sinnvoll anerkannt wird, zögern deshalb einige Zulassungsbehörden, KI-gestützte Medizin als geeignetes Verfahren zu akzeptieren.

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