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Die Himmelfahrt Mariens von Tizian: Ein Fest von Form und Farbe

Warum gilt Mariens Himmelfahrt in der Kunst als schwieriges Thema?

Bilder, die die Himmelfahrt Mariens zeigen, sollen, über den bloßen Flug der Gottesmutter hinaus, die Einmaligkeit des göttlichen Wunders illustrieren. Eine authentische und überzeugende Darstellung ist für den Künstler eine echte Herausforderung. Mit seinem ersten großformatigen Bild, dem ersten Hochaltar der Neuzeit, schaffte Tizian diese Gratwanderung.

Was war problematisch an Tizians Altarbild?

Die Arbeit, die Tizian 1518 präsentierte, begeisterte den Auftraggeber zunächst gar nicht. Als der Franziskanerkonvent dem Maler 1516 den Auftrag erteilte, für das geräumige Gotteshaus Santa Maria Gloriosa dei Frari ein Altarbild zu malen, ging er von einem Werk mit relativ bescheidenen Maßen aus. Tizians Großbild entsprach kaum diesen Erwartungen. Erst als die Kunstagenten des Kaisers großes Interesse an dem Gemälde bekundeten und eine stolze Kaufsumme für das Werk boten, erkannten die Franziskaner den wahren Wert des Bildes und entschieden sich für seine sofortige Aufstellung. Von 1877 bis 1921 hing die »Assunta« in Venedigs prominenter Gemäldegalerie der Accademia, kehrte dann jedoch an ihren angestammten Platz im Chor der Frari-Kirche zurück.

Wie erzielt der Künstler die Raumwirkung?

Dazu tragen die schiere Größe des Bildes und seine Positionierung im Kirchenraum bei. Alle Kleinteiligkeit und harmlose Fabulierkunst war einer zeitlosen Monumentalität und Dramatik gewichen. Das 6,90x3,60 Meter große Bild am Hauptaltar beanspruchte den Chor als Gehäuse und ließ sich am besten aus der Distanz im Kirchenraum bewundern. Auch aus großer Distanz hebt sich die Gestalt der Muttergottes hervor. Von einem bestimmten Punkt im Mittelschiff aus kann man das Altarbild durch das Portal des spätmittelalterlichen Lettners betrachten, als sei es mitsamt seinem halbkreisförmigen Abschluss exakt in die Laibung des steinernen Triumphbogens vor dem Mönchschor eingepasst.

Welche Funktion haben Form und Farbe?

Sie bestimmen entscheidend die Wirkung des Bildes. So erzeugt das dominierende kräftige Karminrot große Leuchtkraft. Dieser Farbwert erscheint sehr klar, fast übernatürlich. Im Zusammenspiel mit Blau und der Lichtfarbe Gelb sind die drei Grundfarben in vollkommener Reinheit vertreten. Die Farben stehen dabei nicht unvermittelt nebeneinander, sondern sind aufeinander bezogen.

Auch die Komposition reduziert sich auf ihre geometrischen Grundformen: Die Apostelschar bildet in der Fläche ein Rechteck; die überirdische Sphäre der Wolkenglorie ergibt einen Kreis. Zwei Jünger und Maria sind durch leuchtendes Rot hervorgehoben und bilden ein Dreieck, das irdische und überirdische Welt, Rechteck und Kreis, verbindet.

Was bedeuten die verschiedenen Bildelemente?

Mit ihnen verdeutlicht der Maler die Begegnung zweier Welten, deren Akteure in die vorderste Bildebene gerückt sind. Die Schar der Jünger, die eben noch um die verstorbene Maria in ihrer Mitte trauert, reagiert teils heftig, teils pathetisch, verzweifelt und erschüttert auf das plötzliche Wunder. Die Apostel blicken Maria sehnsüchtig oder angstvoll nach, wollen sie festhalten oder ihr folgen. Während Maria bereits im Himmel von Engeln umgeben ist, bleiben die Männer auf der Erde zurück. Zwischen Himmel und Erde schwebt Maria, die ewig Vermittelnde. Sie bildet das Zentrum des Bildes, frei und unverstellt strebt sie, von Engeln getragen, dem göttlichen Licht entgegen. Während ihr Körper aus Scheu noch leicht zurückweicht, sind ihre Arme bereits erhoben, als wollte sie Gott ganz in sich aufnehmen. In ihrer Gottessehnsucht schaut sie verzückt, als wäre ihre Seele bereits beim Herrgott angelangt. Dieser kommt ihr aus der Tiefe des Raumes und des Lichtes entgegen und breitet seine Arme aus. Seine dienstbaren Geister tummeln sich auf dichten Wolkenbänken und bilden unterhalb Marias ein Halbrund, das sich oberhalb Gottes zu einem Vollkreis schließt. Im grellen göttlichen Licht verlieren sich die Konturen der Engel, geht das leuchtende Gelb in den Goldglanz eines endlosen Himmelsraumes über.

War Tizian ein Wunderkind?

Wenn man das von einem Zehnjährigen, der schon beeindruckend malen kann, sagen will, dann ja. In diesem Alter kam Tiziano Vecellio, geboren 1477 bei Belluno, nach Venedig, um Maler zu werden. Gelernt hat er beim Meister Giovanni Bellini, später wohl auch beim großen Giorgione, neben dem er 1508/09 die nicht überlieferten Fresken am Fondaco dei Tedeschi in Venedig ausführte. Die Himmelfahrt Mariens, die so genannte Assunta, schuf er 1516–1518. Mit Portäts Karls V. zog er die Aufmerksamkeit des Kaisers auf sich, der ihn 1533 zum Hofmaler ernannte. Schon lange hatte der Papst um Tizian geworben, 1545 schließlich zog der Maler tatsächlich nach Rom, porträtierte den Papst und malte die berühmten »Danae«. 1550 porträtierte Tizian Kaiser Karls Sohn und Nachfolger, Philipp II. von Spanien. Nach einem schaffensreichen Leben starb er am 27. August 1576 in Venedig an der Pest.

Wussten Sie, dass …

Kaiser Karl V. seinen Hofmaler Tizian in den prestigeträchtigen Orden der Ritter vom Goldenen Sporn aufnahm?

die Barockmalerei des 17. Jahrhunderts, namentlich die Bilderwelt von Rubens, entscheidend auf Tizians Gestaltungsprinzipien aufbauen sollte? Diese waren einfach und genial zugleich.

Venedig in seiner Blütezeit, dem frühen 16. Jahrhundert, die führende Kunststadt war? Maler wie Tizian, Tintoretto und Veronese zauberten Farben von unvergleichlicher Intensität und Leuchtkraft auf Holz und Leinwand und wagten sich an neue Darstellungsformen heran, welche die Pracht der Barockmalerei vorwegnahmen.

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