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3. wissen.de-Literaturwettbewerb - die Siegergeschichte (Podcast 64)

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wissen.de und das Magazin BÜCHER hatten zum 3. wissen.de-Literaturwettbewerb aufgerufen. Das Thema: Unterwegs. Mehr als 150 Kurzgeschichten wurden eingereicht, die Jury hatte jede Menge zu tun. Und nun stehen die Sieger fest. Heute hören Sie in Ohrensausen die Siegergeschichte "Unterwegs".

 

Sie fuhr langsam, obwohl ihr kalt war. Sie hatte nur eine Viertelstunde zu fahren. In so kurzer Zeit bekommt man den Wagen nicht warm. Sie sehnte sich nach ihrem Bett, entspannt liegen, Georg anrufen und ihm Gute Nacht sagen, langsam warm werden, einschlafen.
Sie bewegte die Zehen in ihren Schuhen.
Morgen war schon Mittwoch, Donnerstag würde Georg zurück sein.
Sie war müde.
Das Radio war tot, vermutlich die Sendepause kurz vor Mitternacht. Genau um Mitternacht wurden in ihrer Straße die Straßenlaternen abgeschaltet. Auch das noch, dachte sie und schaltete das Radio aus.
Man kann im Dunkeln immer so schlecht das Schlüsselloch am Garagentor finden. Sie fuhr schneller. Vielleicht schaffte sie es noch. Sie hätte den Umweg über die Überführung fahren sollen.
Die Schranken waren heruntergegangen. Da stand sie nun. Sie schaltete den Motor aus und lockerte sich zum Warten.
Niemand war unterwegs. Die Straße war wie ausgestorben. Auch auf der anderen Seite der Schranken war niemand.
Sie dachte an Georg, sehnsüchtig. Seit einer Woche war er unterwegs, im Ausland diesmal. Das war zu lange.

 

Auf der anderen Seite der Gleise fuhr jetzt jemand mit dem Rad, langsam, schwankend, vielleicht ein Betrunkener. Die Fahrradlampe flackerte. Er bog vor den Schranken ab und fuhr an den Gleisen entlang.
Sie bewegte wieder die Zehen in den Schuhen. Sie fühlte sich schlapp. Wann kam der Zug endlich?
In dem Moment gingen die Lichter aus. Sie entspannte sich. Kein Grund mehr zur Eile.
Die Nacht war dunkel, aber nicht völlig undurchdringlich, der Himmel schwarz, aber leicht glänzend wie gelackt. Kein Mond.
Welcher Zug kommt hier um Mitternacht durch? überlegte sie und lauschte.
Es war nichts zu hören, kein Zug.
Sie richtete sich auf.
Sie konnte jetzt noch zu der Überführung fahren, sie konnte hier nicht ewig stehen.
Sie sah auf ihre beleuchtete Armbanduhr.
23:47 Uhr.
Vielleicht erkannte sie es nicht richtig im Dunkeln.
23:47 Uhr?
Um Punkt 00:00 Uhr gingen die Lampen aus, nicht eher und nicht später.
In der Ferne setzte eine Sirene ein, erstarb sogleich wieder.
Sie widerstand der Versuchung, das Fenster herunter zu kurbeln.
Ihre Uhr war stehen geblieben.
Bestimmt war ihre Uhr stehen geblieben – die Gleise entlang kam endlich ein leichtes Dröhnen, nahm zu, ein Schnellzug stob vorbei. Sie spürte den Sog sogar im Auto, die Antenne draußen bog sich.
Alles in Ordnung.
Sie schaltete den Motor an und kuppelte ein.
Sie fühlte sich völlig fertig, zum Umfallen müde.
Der Motor lief stetig.
Die Schranken gingen nicht hoch.

 

Ungehalten zögerte sie noch einen Augenblick, dann löste sie die Handbremse und bog in die Straße am Bahndamm ein, um zur Überführung zu fahren.
Es war niemand sonst unterwegs.
Es war nirgends Licht.
Das Glänzen am Himmel hatte zugenommen. Er spiegelte wie stilles schwarzes Wasser.
Langsam wuchs in ihr das Gefühl, dass etwas nicht stimmte.
Sie sah wieder auf die Uhr.
23:52 Uhr.
Die Uhr stand also nicht.
Sie fuhr schneller. Bis zur Überführung waren es knapp zwei Kilometer.

 

Unter der Überführung stand der Schnellzug. Schwach schimmerten seine Konturen, als sie auf die Brücke einbog und die Scheinwerfer ihn streiften.
Er stand völlig still.
Es konnte ein anderer sein.
Sie war jetzt auf der anderen Seite der Gleise. Sie fuhr sehr schnell. Sie hatte aufgeblendet, und die Straße lag in hellem Licht.
Die Straße war leer.
Die Häuser rechts an der Straße waren dunkel und schienen sich von der Straße weg zu ducken.
Wenn es ein Stromausfall ist, dachte sie, müsste aber doch trotzdem jemand zu sehen sein. Wenn es bei Gewitter irgendwo einschlägt, und sei es mitten in der Nacht, kommen immer die Unermüdlichen aus den Häusern, um zu sehen, wen es getroffen hat.
Ganz sicher schlafen noch nicht alle, dachte sie, es müsste jemand am Fenster stehen. Leute müssten Kerzen angezündet haben oder mit Taschenlampen herumleuchten.
Die Häuser waren alle still und dunkel.

 

Sie sah wieder auf die Straße.
Die Straße war nicht mehr leer. Sie stand auf der Bremse, der Wagen hielt mit scharrenden Reifen.
Auf der Straße lagen ein Mann und ein Fahrrad.
Das Fahrrad sah ganz heil aus, gleißend im Fernlicht, neu.
Sie blendete ab.
Der Mann rührte sich nicht.
Es musste der Betrunkene sein, den sie vorhin gesehen hatte.
Er war gefallen.
Das Fahrrad und der Mann lagen gut einen Meter auseinander. Stark war der Impuls, auf den Gehweg auszuweichen und einfach weiterzufahren. Sie wusste aber, man muss in solchen Fällen helfen.
Wenn es keine Falle ist, dachte sie.
Vielleicht rappelt er sich, dachte sie und hupte.
Die unwirkliche Stille zersprang. Das Hupen war wie ein Schmerzschrei. Sie erschrak selbst. Ihre Handflächen wurden feucht.
Der Mann rührte sich nicht.
Die Häuser blieben still.
Sie schaltete die Zündung aus und horchte. Kein Laut.
Sie musste aussteigen. Sie verriegelte die Fahrertür von innen.
Im Leben steige ich nicht aus, dachte sie.
Es war 00:02 Uhr.

 

Sie fühlte sich kraftlos, erledigt. Sie dachte an ihr Bett, an Liegen, Schlafen, Warmwerden. Alles schien unerreichbar.
Irgendetwas musste geschehen sein.
Sie schaltete noch einmal das Radio an.
Nichts. Keine Nachrichten mit Wetterbericht zur vollen Stunde.
Der Mann lag unverändert.
Alles an ihm wirkte einheitlich grau im Scheinwerferlicht. Sein Kopf lag mit dem Gesicht nach unten in seinem angewinkelten Arm.
Der hat sich da so hingelegt, dachte sie.
Oder er hat im Fallen seinen Kopf geschützt.
Er trug einen Mantel, der ihn zu zwei Dritteln verbarg.
Um Gottes Willen nicht aussteigen, durchfuhr es sie.
Es ist eine kalte Nacht, dachte sie, ich darf ihn nicht liegen lassen. Wieso ist es heute Nacht bloß so kalt?
Sie rieb ihre kalten feuchten Handinnenflächen an ihrem Rock trocken.
Ein Betrunkener, dachte sie bitter, bestimmt nur ein Betrunkener.
Sie war überfordert. Sie war müde. Sie wollte nach Hause. Sie hatte Angst.
00:06 Uhr.

 

Sie schaltete die Scheinwerfer aus. Sie wollte den Mann und das Fahrrad nicht mehr sehen. Sie wollte auch nicht gesehen werden.
Konnte sie überhaupt von jemandem gesehen werden?
Der Himmel schimmerte, als werfe er das Licht einer großen Stadt zurück.
Ja, dachte sie, wie der Himmel über einer großen hell erleuchteten Stadt.
Nur, dachte sie, dass hier alles stockdunkel ist.
Sie durfte hier nicht bleiben.
Sie spürte es vage: Etwas lullte sie ein.
Müde, dachte sie, müde, müde –

Sie bewegte die Zehen in den Schuhen. Ihr linker Fuß war eingeschlafen.
Ihre Augen gewöhnten sich an das unwirkliche Licht. Der Himmel war übersät mit unendlich vielen glänzenden Punkten wie mit Pailletten.
Sie kniff die Augen zusammen, und die Punkte verbanden sich zu einem schimmernden Netz.
Schön, dachte sie.
Sie spürte, wie sie sich selbst entglitt. 

In dem Moment war da ein Geräusch neben ihr an der Fahrertür.
Eine schattenhafte Hand presste sich gegen die Scheibe, fand keinen Halt und glitt langsam an der Scheibe herunter, verschwand.
Sie schrie.
Sie war wieder wach.
Sie tat alles ganz automatisch.
Licht an.
Das Fahrrad und der Mann waren noch da.
Radio an.
Unverändert still.
00:15 Uhr.

 

Ich fahre ihn über, dachte sie grimmig, ich fahre über den Fußweg, ich fahre weg –
Sie blendete auf.
Da lag nur der Mantel. Das Fahrrad und der Mantel.
Sie versuchte, ihren Kopf klar zu kriegen.
Ein Betrunkener kommt wieder zu sich. Soll er sein Rad nehmen und verschwinden, dachte sie.
Sie blendete ab. Sie sah nicht zur Seite. Sie sah starr nach vorn.
Ihr linker Fuß kribbelte.
Ich will nach Hause, dachte sie, ich will ins Bett, unter die Decke.
Ihr Bedürfnis nach Geborgenheit wurde überwältigend. Für einen Moment sah sie Georgs Gesicht. Es verschwamm. Sie hatte plötzlich ein starkes Verlustgefühl.

 

Ich verliere den Verstand, dachte sie, warum fahre ich nicht nach Hause?
Der Trotz gewann die Oberhand über die Angst.
Sie rieb ihre feuchten Handflächen trocken, entriegelte die Tür und öffnete den Schlag weit. Sie schwang ein Bein herum, sie sah geradeaus, als sie ausstieg.
Ihr Fuß berührte etwas Weiches. Sie zuckte zurück, als erwarte sie, gebissen zu werden.
Tastend setzte sie den Fuß weiter vor auf festen Boden, als überbrückte sie eine Pfütze.
Die Luft war kalt, schneidend und schmerzte in der Nase.
Sie tat ein paar wackelige Schritte vom Wagen weg.
Dann sah sie sich um.
Die Innenbeleuchtung hatte sich eingeschaltet, als sie die Tür öffnete. Das Licht fiel aus der Tür auf den Mann. Er lag auf dem Rücken.
Sein Gesicht war ihr zugewandt, es war maskenhaft bleich, die Augen waren geschlossen, es war ausdruckslos.

Er schläft. Er ist tot, dachte sie.
Sie bezwang einen Schüttelfrost.
Er ist betrunken, entschied sie.
Die schneidende Luft reizte ihre Nasenschleimhäute. Sie trat auf ihn zu, resolut.
"Nun wollen wir nach Hause", sagte sie laut, "nun wollen wir mal aufstehen."
Keine Reaktion.
Sie verspürte das Bedürfnis, ihn in die Seite zu treten.
Sie wünschte ihn möglichst weit fort.
Sie beugte sich über ihn.
"Hallo. Aufwachen."
Eine Hand schloss sich um ihren linken Fußknöchel. Erschrocken wich sie zurück, die Hand gab willenlos nach.
Sie taxierte ihn. Er sah schmächtig aus, nicht viel größer als sie.

 

Sie ging vor den Wagen und hob im Licht der Scheinwerfer das Rad auf. Unschlüssig stand sie da, den Lenker in der Hand.
Ihr war kalt. Das Atmen tat weh.
Sie schob das Rad auf den Gehweg und stellte es gegen einen Zaun.
Das Haus hinter dem Zaun war dunkel und still.
Sie ging zum Wagen zurück und trat breitbeinig über den Mann.
Sie überwand sich. Sie mochte ihn nicht anfassen, aber sie überwand sich.
Sie fasste unter seine Achselhöhlen und zog ihn hoch.
Er war nicht warm unter den Achselhöhlen und vielleicht etwas verschwitzt, wie sie gedacht hatte. Er war kalt und schwer.
Sie schob ihn auf den Fahrersitz und hielt inne, um sich aufzurichten.
Sein Kopf kippte hintenüber. Seine Kehle wirkte weiß und eckig. Sein Kinn war unrasiert.
Er riecht nach nichts, dachte sie, er ist synthetisch.
Sie rang nach Luft.
Was für eine kalte Nacht, dachte sie, viel zu kalt –

 

Sie trat mit dem linken Bein in den Fußraum vor dem Fahrersitz, um Halt zu finden, und schob den Mann über den Hebel der Gangschaltung hinweg halb auf den Beifahrersitz.
Er regte sich nicht.
Er ist tot, dachte sie wieder.
Sie langte über ihn hinweg und öffnete die Beifahrertür. Sie ging um den Wagen herum. Die leere Straße wirkte unheimlich. Sie beeilte sich.
Durch die Beifahrertür gebeugt, zerrte sie ihn auf den Sitz.
Er fiel vornüber. Sie richtete ihn auf, gurtete ihn an. Sie hatte Angst. Ihr Rücken war ungeschützt.
Was geschah in all den dunklen Häusern?
Es war zu still.
Sie atmete unregelmäßig.
Das Fahrrad fiel um.
Sie schlug die Beifahrertür zu, lief um den Wagen herum, fiel auf den Fahrersitz, zog die Beine nach, die Tür zu und startete den Motor.
Schon im Fahren dachte sie, vielleicht habe ich es schlecht angelehnt.

 

Sie sah nicht in den Rückspiegel.
Hinter mir ist sowieso alles dunkel, dachte sie. Und wenn nicht, dachte sie, will ich es nicht wissen.
Sie fuhr langsamer als zuvor und sah geradeaus. Die Straße war leer, die Fahrbahnmarkierungen waren gerade eben auszumachen im Dunkel der Nacht.
Sie sah zum Himmel hoch.
Hatte der Himmel so ausgesehen, wenn die alten Leute sagten, es sieht nach Frost aus?
Sie konnte sich nicht erinnern.
Sie hatte eigentlich nie auf den Himmel geachtet.

 

Ihre Knie zitterten leicht.
Ihr war kalt bis auf die Knochen.
Ihre Augen brannten, sie war müde.
Sie sah nicht zu dem Mann hin, sie sah geradeaus.
Wie werde ich ihn wieder los, dachte sie, ich hätte ihn liegen lassen sollen.
Sie kam zum Bahnübergang, jetzt auf der anderen Seite der Gleise.
Die Schranken waren immer noch unten.
00:41 Uhr.

 

Einen Moment zögerte sie. Dann reckte sie den Hals, sie saß jetzt sehr gerade, wie kampfbereit.
Etwas, dachte sie, stimmt hier nicht. Die Schranken gehen nicht hoch. Etwas ist hier ganz und gar verkehrt.
Langsam bog sie in die Hauptstraße ein, in der Kurve stand ein verlassener Wagen, die Scheinwerfer dunkel, die Tür zum Gehweg eine Handbreit offen. Sie fuhr daran vorbei.
Nach Hause, dachte sie, kann ich nicht. Ich muss hier weg.
Sie stellte die Heizung an und schaltete in einen höheren Gang.
"Wo bin ich", sagte der Mann neben ihr, "wer", sagte er, die Stimme heiser, "sind Sie? Und wohin fahren wir?" Er sah aus dem Fenster, "wo sind wir?"

"Unterwegs", sagte sie.

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