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Lippenbekenntnisse – warum wir uns küssen (Podcast 141)

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Den dicken, meist feuchten Schmatz der Großmutter sparen wir erstmal aus. Nur soviel: Als Kind mag man nicht jeden Knutsch. Dennoch hat der Kuss eine hohe Relevanz. Sogar Wissenschaftler beschäftigen sich mit dem Phänomen des Küssens. Und es gibt einen Tag des Kusses. Warum beschäftigt der Kuss uns so? Wenn wir küssen, denken wir doch auch nicht: Erst Oberlippen- und Jochbeinmuskel aktivieren, Unterlippen- und Mundwinkelsenker nach unten ziehen und die Lippen auf die des Gegenübers pressen! Zum Tag des Kusses am 6. Juli wollen wir den Kuss trotzdem einmal denkend erkunden. Immerhin ist ein Kuss Forschern zufolge manchmal entscheidend bei der Partnerwahl. Er kann sogar wie eine Impfung wirken oder - im Gegenteil - gefährlich werden. Und er wirft viele Fragen auf …

 

Wissenschaftler, die sich mit dem Küssen beschäftigen, nennt man Philematologen. Die sagen, dass der Mensch im Schnitt während 70 Lebensjahren 110.000 Minuten küsst. Das sind 1822,33 Stunden und 76,4 Tage! Diese Zahl lässt den Schluss zu, Küssen gefalle dem Menschen – auch wenn Küssende Hunderte von Bakterien und Millionen Viren austauschen. Dazu kommen 0,7 Gramm Fett, 0,45 mg Salz, 9mg Wasser und Eiweiße – zumindest wenn es sich um einen leidenschaftlichen Zungenkuss handelt. Und sportlich ist Küssen auch noch: Die Küssenden bewegen zwischen 30 und 40 Muskeln – die Angaben variieren je nach Quelle – und verbrennen dabei rund 12 Kalorien in drei Minuten.

 

Vorsicht: Allergiegefahr!

Problematisch kann dieser Stoffaustausch allerdings für Allergiker werden. Vor allem, wenn’s um Erdnussbutter geht. Zwar hat sich die Geschichte vom tödlichen Erdnussbutterkuss nicht bewahrheitet, aber der Partner eines Allergikers sollte sich am besten erst einige Stunden nach Erdnussbutterverzehr den Lippenbekenntnissen hingeben. Das ist Forschern zufolge besser als Zähneputzen. Bei sensiblen Allergikern genügt eine winzige Menge des unverträglichen Stoffes aus, um Reaktionen auszulösen – schlimmstenfalls einen allergischen Schock wie zunächst im Fall des tödlichen Erdnussbutterkusses angenommen worden war. Eine Obduktion im Jahr 2005 ergab dann aber, dass die kanadische Schülerin, die an Erdnussallergie litt, nicht infolge des Allergenaustausches durch Küssen, sondern infolge eines Asthmaanfalls verstorben war.

 

Küssen als Impfschutz

In anderen Fällen kann Küssen Krankheiten vorbeugen. Beim Austausch von reichlich Speichel sprechen Wissenschaftler von University of Leeds von einer Impfung. Besonders Männer gäben viel Speichel ab und verabreichen der Frau so den Impfstoff mit einem Virus, gegen den die künftige Mutter dann immun ist. So wird das Ungeborene vor Schäden durch eine Infektion geschützt. Allerdings müssten die Partner mindestens sechs Monate vor der Empfängnis mit dem Küssen beginnen.

Daneben hat der Speichel noch eine andere Funktion. Die hormonelle Zusammensetzung des männlichen Speichels gibt der Frau Hinweise, ob es sich bei ihm um einen Casanova-Typen handelt oder einen Mann, der bereit ist, verantwortungsbewusst für eine Familie zu sorgen. Das vermutet die Anthropologin Helen Fisher von der Rutger University in New Jersey. Auf jeden Fall gilt der Kuss als Wegweiser dafür, ob es sich beim Gegenüber um den Partner fürs Leben handeln könnte. Verhaltensforscher sprechen von Informationsaustausch: Man riecht, schmeckt und spürt den anderen. Passt der Geschmack, harmonieren offenbar die Immunsysteme von Mann und Frau. Der Speichel spielt also – wie der Schweiß - eine entscheidende Rolle bei der Partnerwahl. Man erkennt einander. "Die Lippen einer Frau sind das schönste Tor zu ihrer Seele", sagt auch ein Sprichwort.

 

Männer wollen Sex, Frauen wollen Nähe

Betrachtet man den romantischen Aspekt des Küssens, stellt man fest, dass Mann und Frau das Küssen jeweils anders wahrnehmen und auch nicht gleich wichtig finden: Küsst der Mann, dann mit dem Wunsch nach mehr. Für die Frau ist der Kuss gewissermaßen Voraussetzung für den Sex, wie US-Forscher in einer Studie nachgewiesen haben. Für Frauen sei Küssen etwas, das zwei Menschen aneinander bindet. Sie würden ungern mit einem Mann schlafen, ohne ihn zu küssen. Die Hälfte der in der Studie befragten Männer könnten beim Geschlechtsverkehr aufs Küssen verzichten.

Natürlich hat Küssen nicht bloß einen erotischen Charakter. In vielen Ländern küsst man sich zur Begrüßung auf die Wange. In Bayern gibt’s das Busserl, in Frankreich den bisou, in Spanien den beso. Von wegen also, nur die Franzosen busseln sich zur Begrüßung! Auch die Polen, Niederländer, Belgier, Luxemburger und in Deutschland vor allem die Bayern sind gut dabei. Im Karneval gesellen sich noch die Kölner dazu, sie verteilen dann die so genannten Bützchen. Stellt sich nur manchmal die Frage: Beginnt man rechts oder links? Gibt man zwei oder drei Bussis? Ganz auf die Wange oder mehr Richtung Mund – auch wenn man’s gar nicht möchte?

 

Küssen verboten!

Übrigens sind die Franzosen wohl gar nicht die größten europäischen Küsser. Zwar scheinen nur dort Küssen zwischen Männern normal. Aber der Kussforscher Christopher Nyrop notierte schon 1600 in seinem Buch übers Küssen, dass die Deutschen über 30 Kussarten beherrschten, die Franzosen bloß 20. Japanern und Chinesen war der Bussi lange nicht geheuer. Chinesen waren früher entsetzt, wenn sich Europäer in aller Öffentlichkeit mit einem Kuss begrüßten. Wer in Japan küsst, gilt als verlobt. Öffentliches Küssen ist dort verboten.

 

Politische und kirchliche Küsse

Neben dem sozialen Begrüßungskuss gibt es eine Reihe weiterer Küsse: politische, kirchliche, und zum Beispiel den Adorationskuss. Während zwei Personen meist auf Augenhöhe küssen, werden beim Adorationskuss Saum eines Gewandes oder die Füße geküsst. Je weiter der Kuss vom Kopf entfernt ist, desto größer der soziale Unterschied der Küssenden wie zwischen Diener und König.

Bei politischen Küssen kennen wir den Bruderkuss. Beispielhaft dafür ging das Bild um die Welt, das Leonid Breschnew und Erich Honecker zeigt. Die beiden geben sich 1979 einen sozialistischen Bruderkuss auf den Mund. Aus der Kirche kennt man den Oster- und den Friedenskuss. Osterküsse sind Küsse mit geschlossenen Lippen. Der Jerusalemer Bischof Cyrill sagte im 4. Jahrhundert, dieser Kuss verbinde die Seelen miteinander und stelle sicher, dass sie einander nichts nachtragen würden. Die katholische Kirche schaffte den Osterkuss 1512 ab, die Orthodoxie pflegte ihn weiter. Der Friedenskuss war vielen Kirchenvätern zuviel des Guten. Von Athenagoras von Athen stammt die Bemerkung, wenn jemand zweimal küsse, habe es ihm offenbar gefallen …

 

Küssen macht glücklich

Bleibt einzuwenden, dass man oft nichts dafür kann, wenn’s schön ist: Beim Küssen werden Endorphine, also Glückshormone ausgeschüttet. Außerdem entsteht zwischen den Küssenden eine seelische Bindung, die der Wissenschaft zufolge zwar nicht so stark ist wie beim Geschlechtsverkehr, aber laut Verhaltensforscherin Elisabeth Oberzaucher glücklich macht. Außerdem werden Pheromone übertragen, die die sexuelle Lust steigern können.

Unklar bleibt nur ein Phänomen: Zwei Drittel der Menschen drehen beim Küssen den Kopf nach rechts. Warum das so ist, haben Wissenschaftler noch nicht herausgefunden. Macht nichts: Hauptsache, es passt und ist schön. Nach groben Schätzungen küssen 90 Prozent aller Menschen, eingenommen die Inuit, die nur Nasenküsse kennen. Küssen ist wie Musik: Küsse sagen mehr als Worte. Küssen ist eine Sprache, die jeder versteht.

Susanne Böllert, wissen.de-Redaktion

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