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Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: Erinnerung retten

Von welchem Impuls getrieben, machte sich der Autor auf die »Suche nach der verlorenen Zeit«?

In seinem breit angelegten Panorama verfallender Aristokratie und dekadenter Bourgeoisie kämpft Marcel Proust um seine Erinnerung und damit um den Zusammenhalt seiner Persönlichkeit – im Wettlauf mit einer immer schneller verrinnenden Lebenszeit.

1907, als er bereits an schwerem Asthma litt, kehrte Proust an eine Stätte seiner Kindheit zurück: in den Küstenkurort Cabourg. Dort hatte er als Zehnjähriger eine glückliche Zeit verbracht. Von dort aus berichtete er zwei Jahre später nach Hause, er habe gerade ein »ganzes langes Buch begonnen – und beendet«. Eine der größten Übertreibungen der Weltliteratur: Proust wird noch 13 Jahre an dem Zyklus »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« schreiben, ohne es jemals abzuschließen. Danach verlässt Proust sein schalldichtes Pariser Zimmer kaum mehr und schreibt, sogar noch auf dem Totenbett, wie manisch gegen die vergehende Zeit an seinem umfangreichen Meisterwerk, das auf sieben Teile anwächst und zwischen 1913 und 1927 erscheint.

Wonach sucht der Ich-Erzähler in dem Roman?

Nach seiner Vergangenheit. In seinem Zyklus versuchte Proust, sein »Vorleben« als Repräsentant der Pariser High Society wieder gegenwärtig zu machen: Seinem zu Beginn dieser »Suche« zehn Jahre alten und später durch Krankheit empfindsam gemachten Ich-Erzähler sind autobiografische Züge eingeschrieben. Auch die eigene Außenseiterposition als jüdischer Homosexueller wird thematisiert. Als Gesellschaftspanorama um die Familien Swann und Guermantes beleuchtet der Roman das Salondasein der Pariser Oberschicht; ihrer Dekadenz stellt Proust die ästhetische Dauer des Kunstwerks entgegen.

Was macht den besonderen Reiz des Werks aus?

Da ist das komplexe Romangeschehen, das sich mit seinen zahlreichen Motiven und verzahnten Handlungssträngen, seinen verschiedenen zeitlichen und räumlichen Ebenen und epischen Reflexionen kaum nacherzählen lässt. Der eigentümliche Reiz des Romans liegt aber weniger in Wissenswertem zu Prousts Leben begründet, sondern verdankt sich der künstlerischen und philosophischen Bewältigung der Thematik: vor allem die komplexe, wenn auch weitgehend psychologische Erzählperspektive wirkt hier extrem modern.

Woher kommen die Erinnerungen?

Aus den Tiefen (und Untiefen) des sich erinnernden Bewusstseins: »Was wir Wirklichkeit nennen, ist eine bestimmte Beziehung zwischen Empfindungen und Erinnerungen, die der Schriftsteller wiederfinden muss.«

Oftmals wird diese Erinnerung im Roman bewusst provoziert. Manchmal aber kommt sie unwillkürlich als eine Art imaginäres Déjà-vu: Beim Anblick dreier Bäume bei Balbec etwa, dem Betasten einer Serviette oder dem Klang eines an Porzellan geschlagenen Löffels. Diese Passagen einer »mémoire involontaire« haben Prousts Meisterwerk berühmt gemacht.

Was bewirkt ein Keks?

Der bekannteste Auftritt einer solchen »unwillentlichen Erinnerung« stellt die »Madeleine-Episode« dar, in der der Geruch eines in Lindenblütentee getauchten Gebäckstücks plötzlich lange vergessen geglaubte Jugenderlebnisse heraufbeschwört. In dieser Erfahrung fließen Jetzt und Früher unentwirrbar ineinander. Bei seiner Zeitvorstellung griff Proust auf Gedanken des französischen Philosophen Henri Bergson zurück, dessen Schriften auch andere Darstellungen von »mémoire involontaire« in der Moderne prägten.

Warum zog sich der Dandy und Lebemann in seine Wohnung zurück?

1871, zur Zeit der Pariser Kommune, kam Marcel Proust als Sohn eines Arztes aus der französischen Provinz und einer Jüdin in Auteuil zur Welt. Seit seinem neunten Lebensjahr litt Proust an Asthma, weswegen er den Schulbesuch oft unterbrechen musste. Nach seinem Jurastudium arbeitete er kurze Zeit als Anwalt. Finanziell unabhängig widmete er sich aber bald nur noch dem Pariser Gesellschaftsleben.

Nach dem Tod seiner Eltern begann Proust eine Beziehung mit seinem Chauffeur und späteren Sekretär Alfred Agostinelli, der 1914 bei einem Flugzeugabsturz starb. Wegen seiner Krankheit musste sich der Autor aus dem Leben der mondänen Salons in seine mit Kork austapezierte Wohnung zurückziehen. Hier schrieb er an seinem mehrbändigen Monumentalwerk, das die Erlebnisse seiner frühen Jahre verarbeitete. 1919 erhielt er dafür den renommierten Prix Goncourt, im Jahr darauf wurde er zum Ritter der Ehrenlegion ernannt.

Wussten Sie, dass …

sich Proust mit einem Kritiker duellierte, der sein erstes Buch kritisiert hatte?

»Eine Liebe von Swann«, der Mittelteil des ersten Bandes, im Gegensatz zu allen anderen Teilen des Werkes in der Er-Form geschrieben ist?

Samuel Beckett in »Krapps letztes Band«, das im Jahr 1958 entstand, Marcel Prousts Vorstellung vom erinnernden Subjekt mit der Notiz des identitätslosen Titelhelden ad absurdum führte? »Hörte mir soeben den albernen Idioten an, für den ich mich vor dreißig Jahren hielt.«

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