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Völkerwanderung und Germanenreiche: Neubeginn in Europa

Wo lagen die Ursprünge der Germanen?

Als Germanen werden zahlreiche ursprünglich in Mitteleuropa und Skandinavien beheimatete Stämme bezeichnet, die sich durch ihre Kultur, Sprache und Religion von den benachbarten Kelten und Slawen unterschieden. Zum Ende des 1. Jahrtausends v.Chr. hatten germanische Stämme die Kelten aus ihren Siedlungsgebieten, unter anderem im heutigen Deutschland, verdrängt. Die Germanen bildeten keine politische Einheit, auch wenn sich einzelne Stämme im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. zu Großstämmen zusammenschlossen.

Erste Vorstöße auf römisches Reichsgebiet nördlich des Po hatten schon Teutonen und Kimbern ab etwa 120 v. Chr. unternommen, bis sie von den Römern unter Gaius Marius vernichtend geschlagen wurden (102 bzw. 101 v. Chr.). Zu Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr. bewohnten die germanischen Stämme Gebiete zwischen Rhein und Weichsel sowie im Süden Skandinaviens.

Welche Stämme lösten die Völkerwanderung aus?

Es waren die aus Südschweden stammenden Goten. Sie lösten die erste Wanderungsbewegung um die Mitte des 2. Jahrhunderts aus. Von ihrer Heimat am Unterlauf der Weichsel zogen sie nach Südosten bis an die Küste des Schwarzen Meeres. Dabei verdrängten sie mit Wandalen, Burgundern und Markomannen andere germanische Stämme. Die Markomannen drangen daraufhin über die Donau ins Römische Reich ein, wurden aber nach zwei Kriegen (166 bis 180) von Rom abhängig und auf dem nordwestlichen Balkan angesiedelt. Auch die Chatten aus dem heutigen Hessen, die zu dieser Zeit mehrmals auf römisches Gebiet vorstießen, konnten Rom nicht ernsthaft gefährden.

War die Völkerwanderung ein unaufhaltsamer Vormarsch?

Nein. Um die Mitte des 3. Jahrhunderts fielen Germanen zwar in römisches Gebiet ein, danach ließen die germanischen Vorstöße allerdings nach. Einige Stämme wurden als Bündnispartner im Grenzgebiet angesiedelt und dienten so dem Schutz des Reiches. Germanische Soldaten hatten in der römischen Armee gute Aufstiegsmöglichkeiten, wie das Beispiel des wandalischen Heermeisters Flavius Stilicho (um 365–408) zeigt. Er führte sogar nach dem Tod Theodosius' I. (347 bis 395, reg. seit 379) für dessen Sohn Honorius die Regierungsgeschäfte im Weströmischen Reich. Auch als Landpächter waren Germanen gern gesehen.

Welche Rolle spielten die Hunnen?

Sie lösten die zweite Phase der Völkerwanderung aus. Die aus Zentralasien stammenden Hunnen drangen nach Westen vor und besiegten 370 die Alanen, ein aus Iran stammendes Volk, an der Wolga. Über 70 Jahre lang verbreiteten sie in Europa Angst und Schrecken. Von ihren Feinden als angriffslustiges Nomadenvolk von niedrigem kulturellen Niveau beschrieben, waren die hunnischen Reiterheere Meister der Kriegskunst.

Ihre nächsten Opfer waren die Ost- und Westgoten; ihre Reiche wurden zerstört (375). Mit Unterstützung eines Teils der Ostgoten lösten die Hunnen auf ihrem Zug nach Westeuropa große Fluchtbewegungen unter den germanischen Stämmen aus. Die unterworfenen Völker nahmen sie teils auf und verschmolzen mit ihnen.

Was war das erste große germanische Reich?

Es war das Westgotische Reich. Um Schutz vor den Hunnen zu finden, baten die Westgoten Ostrom um Aufnahme. Kaiser Valens (328–378, reg. seit 364) gestattete ihnen die Ansiedlung südlich der Donau. Doch wenig später erhoben sie sich und besiegten die Römer in der Schlacht bei Adrianopel. 382 schlossen die Westgoten mit Rom einen Friedensvertrag, der ihre Ansiedlung als Bundesgenossen zwischen unterer Donau und Balkangebirge vorsah.

In der Folge kündigten sie jedoch den Vertrag und riefen ihren Heerführer Alarich (um 370–410) zum König aus. Sie überfielen Griechenland. Zweimal von Westrom besiegt, schlossen sie ein Bündnis mit diesem gegen Ostrom, das jedoch zerbrach. Daraufhin plünderten die Westgoten Rom (410). Nach dem Tod Alarichs verbündeten sich die Westgoten mit Westrom, das ihnen Land in Südwestfrankreich zuwies (416). Dort errichteten sie das Westgotische Reich, das sich dann nach Spanien verlagerte und dort bis zur Zerschlagung durch die muslimischen Mauren 711 bestand.

Warum ging das Reich der Hunnen unter?

Das Reich zerfiel mangels zentraler Führung, zudem gingen die Hunnen in anderen Völkern auf. Unter König Attila (um 406 bis 453, reg. seit 434) waren die Hunnen allerdings noch sehr mächtig, beide römische Reichsteile mussten ihnen Tribute zahlen. 436 zerstörte Attila das Burgunderreich. In den folgenden Streifzügen verwüstete er weite Landstriche zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer.

Seinen Angriff auf Nordgallien wehrte ein weströmisches Heer, das von Germanen unterstützt wurde, auf den Katalaunischen Feldern ab. Attila wandte sich daraufhin nach Italien. Durch seinen Rückzug entging Rom noch einmal der Eroberung (452). Nach dem Tod Attilas im folgenden Jahr zerfiel das Hunnenreich. Einst unterworfene Völker wie die Ostgoten machten sich wieder selbständig, und die Hunnen zogen sich bis zur Wolga zurück.

Welche Bedeutung hatte das Jahr 455?

455 wurde Rom für kurze Zeit von den Wandalen eingenommen. Die Wandalen hatten 406/407 gemeinsam mit Sueben und Alanen den Rhein überschritten, der Weg nach Gallien und Spanien war frei. 429 setzten etwa 80000 Wandalen von Spanien aus nach Nordafrika über. Nach einem Sieg über Westrom und der Eroberung Karthagos (439) errichteten sie dort ein eigenes Reich. Die zeitweilige Beherrschung des westlichen Mittelmeeres nutzten sie zu Beutezügen an der Küste Italiens und zur Eroberung Roms.

Warum ging Rom unter?

Die Gründe lagen in der Schwäche Roms und dem äußeren Druck durch die Völkerwanderung. Die Macht der weströmischen Kaiser befand sich auf einem Tiefpunkt. Weder hatten sie auf geistig-religiösem Gebiet die Autorität der oströmischen Monarchen, noch konnten sie auf einen straffen Machtapparat zurückgreifen. So lag die Führung Westroms faktisch schon seit längerem bei den Feldherren. 476 setzte der germanische Heermeister Odoaker (um 430–493) den letzten römischen Kaiser Romulus Augustulus (um 461–nach 476) ab und erklärte sich zum König. Das war das Ende des weströmischen Kaisertums.

Wer übernahm die Herrschaft in Rom?

Die Ostgoten. Nach dem Untergang der Hunnen waren die Ostgoten zu Verbündeten Ostroms geworden. Nachdem sie Italien von Odoaker erobert hatten, übernahm dort 493 der ostgotische König Theoderich der Großen (um 454–526, reg. seit 474) als Stellvertreter des oströmischen Kaisers die Herrschaft. Die Ostgoten ließen sich in Italien nieder und erhielten ein Drittel des römischen Besitzes. Als Gegenleistung schützten sie Städte, Siedlungen und Verkehrswege vor den bewaffneten Banden, die über Jahrzehnte das Land terrorisiert hatten. So konnten sich Wirtschaft und Handel erholen.

Warum blieben sich Römer und Goten fremd?

Es gab kulturelle, politische und religiöse Gegensätze. Die gotische Lebensweise wurde als barbarisch empfunden. Zwiespältig war auch das Verhältnis der ostgotischen Führungsschicht zur römischen Kultur: Einerseits stand man bewundernd vor dem Erbe Roms. Andererseits verfolgte man jede Hinwendung zu römischen Einflüssen skeptisch, da sie ihre Vorrangstellung bedroht sahen. So war auch die Heirat von Goten und Einheimischen von Theoderich nicht erwünscht.

Hinzu kam der Glaubensgegensatz: Die Goten bekannten sich seit dem 4. Jahrhundert zum arianischen Christentum, nach dem Jesus nicht wesensgleich mit Gott ist – eine Lehre, die das Konzil von Nicäa (325) als Häresie verurteilt hatte.

Dennoch gelang es Theoderich, die Balance zwischen Römern und Goten zu wahren und von beiden Bevölkerungen als Herrscher akzeptiert zu werden. Den Einheimischen, für die weiterhin das römische Recht galt, war er der Statthalter des oströmischen Kaisers. Unter den Beratern Theoderichs fanden sich zahlreiche vornehme Römer. Auch den Frieden zwischen Arianern, Katholiken und Juden wusste Theoderich zu wahren.

Hatte das Ostgotenreich Bestand?

Nein. Nach Theoderichs Tod (526) übernahm seine Tochter Amalasuntha für ihren unmündigen Sohn Athalarich die Regentschaft. Als Geheimverhandlungen mit dem oströmischen Kaiser Justinian I. (482–565, reg. seit 527) bekannt wurden, wurde sie von ihren Gegnern gefangen genommen und ermordet (535). Amalasuntha hatte Justinian das Ostgotenreich übergeben wollen.

Nach der Beseitigung Amalasunthas versuchte Justinian die Erneuerung des Römischen Reiches durch Wiedereroberung möglichst großer ehemals römischer Gebiete zu erreichen. Der Kampf um Italien dauerte fast zwei Jahrzehnte: 552 konnte Byzanz den ostgotischen Widerstand brechen.

Währte Ostroms Herrschaft in Italien lange?

Nein. Bereits drei Jahre nach Justinians Tod drangen die germanischen Langobarden in Italien ein und eroberten unter ihrem König Alboin (gest. 572) große Teile des Nordens. Sie begründeten das letzte germanische Königreich auf italienischem Boden, das erst von Karl dem Großen erobert wurde (774). Mit seiner Politik hatte Byzanz seine Kräfte überspannt.

Wussten Sie, dass …

die Völkerwanderung die letzte der sich über zweieinhalb Jahrtausende hinziehenden indoeuropäischen Wanderungen war?

die Franken das einzige dauerhafte Germanenreich errichteten? Alle anderen im Zuge der germanischen Völkerwanderung entstandenen Reiche gingen früher oder später wieder unter.

die alemannischen Sueben 411 im Westen der Iberischen Halbinsel ein Reich gründeten, das erst 585 von den Westgoten unterworfen wurde?

»England« »Land der Angeln« bedeutet? Im 5. Jahrhundert siedelten Stammesteile der Angeln, Sachsen und Jüten in Britannien und brachten große Teile der Insel unter ihre Herrschaft.

die von der Weichselmündung stammenden Burgunder nach der Zerstörung ihres ersten Reiches am Oberrhein durch die Hunnen (436) ein zweites Königreich in Savoyen gründeten? Dieses Reich wurde dann 534 von den Franken erobert.

Wussten Sie, dass …

der von den Hunnen 436 herbeigeführte Untergang des Burgunderreiches seinen literarischen Niederschlag im Nibelungenlied fand? Der Hunnenkönig Attila erscheint dort als König Etzel.

die Römer in Abgrenzung zu den römischen Provinzen Germania superior und inferior (Ober- und Untergermanien) das eigentliche germanische Siedlungsgebiet als »Germania libera« oder »Germania magna« (freies bzw. großes Germanien) bezeichneten?

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