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Von der Ars antiqua zur Ars nova: Neue Musik für das Abendland

Was sind Ars antiqua und Ars nova?

Das Jahr 1325 stellt den Scheitelpunkt zwischen zwei aufeinanderfolgenden mittelalterlichen Musikrichtungen dar, der Ars antiqua und der Ars nova, der »alten« und der »neuen Kunst«. Diese musikhistorischen Begriffe deuten auf einen grundlegenden Gegensatz hin, in Wirklichkeit aber waren beides Entwicklungsschritte, die traditionelle Mehrstimmigkeit allmählich aus ihrer liturgischen Abhängigkeit zu lösen.

Mit dem Wandel von der Einstimmigkeit des gregorianischen Chorals zur Polyphonie machte die mittelalterliche Musik einen ganz entscheidenden Schritt. Dabei bildete die vor allem in der Pariser Schule von Notre-Dame gepflegte »Organum-Technik« eine Zwischenstufe. Zunächst wurde die zweite Stimme parallel zur ersten geführt, dann als selbständige Gegenstimme im Diskant eingesetzt und verziert, bis schließlich Perotinus Magnus (ca. 1165–1220) aus dem Organum die Drei- und Vierstimmigkeit ableitete.

Warum musste eine neue Notenschrift her?

Weil die musikalischen Strukturen immer komplexer geworden waren – eine verbesserte Notenschrift war unumgänglich, weil die Neumen zur grafischen Fixierung nicht mehr ausreichten. Schon um die Jahrtausendwende hatte der Benediktinermönch Guido von Arezzo die Notationstechnik mit der Einführung eines Systems von vier Linien im Abstand einer Terz revolutioniert und die Benennung der Töne nach Buchstaben erweitert.

Mit römischen Quadratnoten oder gotischen Hufnagelnoten, die die Neumen ersetzten, war die Tonhöhe jetzt eindeutig zu bezeichnen. So wurden in der Choralnotation die Quadratnoten rhythmisch frei eingesetzt, während die im 13. Jahrhundert folgende Modalnotation Ligaturen (Notenverbindungen) einführte, die sechs rhythmische Modi fixieren konnte.

In welcher Stadt schlug das musikalische Herz des Mittelalters?

In der französischen Hauptstadt Paris. In der Nachfolge der Notre-Dame-Schule prägte die Ars antiqua ab 1260 das Musikleben,bis sie um 1325 von der Ars nova – ein Begriff, den der Musiktheoretiker und Komponist Philippe de Vitry 1325 in einem Traktat prägte – abgelöst wurde. »Alte Kunst«, das hieß: die Organum-Technik zu vervollkommnen und die Motette als wichtigste Gattung der mehrstimmigen Vokalmusik auszubauen, und zwar sowohl in ihrer geistlichen wie in ihrer weltlichen Form; nicht zuletzt aber gab sie erste Anstöße für die Mensuralnotation, die eine weitere Differenzierung des Rhythmus ermöglichte.

Zu den wenigen Komponisten der Ars antiqua, die nicht nur namentlich bekannt sind, zählt Adam de la Halle (ca. 1240–1287), der nach seiner klerikalen und musikalischen Ausbildung in Paris an den Hof Karls von Anjou, König von Sizilien, nach Neapel kam. Hier entstand sein bedeutendstes Werk, das »Jeu de Robin et de Marion«, ein erstes weltliches Singspiel, das neben fünf dreistimmigen Motetten und 16 Rondeaux überdauert hat.

Was zeichnete die Ars nova aus?

Ein ganz neues rhythmisches System. Mit der Ars nova entfaltete die Musik Frankreichs im 14. Jahrhundert ihre große Blüte. Jetzt ermöglichte die verbesserte Mensuralnotation nicht nur eine eindeutige und mehrfach abgestufte Festlegung der Tonlänge, sondern ein ausgebautes rhythmisches System. Die Erfindung von Mensurzeichen und kleineren Notenwerten ging mit der Möglichkeit einher, Synkopen zu notieren; die Rhythmik gewann zunehmend an Struktur, weil die Länge frei wechselnder Notenwerte einem festen Grundmaß zugeordnet wurde.

Isorhythmische Gestaltungsmittel kamen vor allem der Motette zugute; hier wurde eine Vokalstimme durch eine mehrfach wiederholte rhythmische Phrase gegliedert, die sich wiederum mit melodischen Abschnitten verknüpfen ließ. Balladen, Rondeaus, Chants royaux und Chansons in den Formen des Lai und Virelai zählten zu den künstlerischen Schwerpunkten der Ars nova.

Wer war der erste bedeutende Komponist des Abendlandes?

Guillaume de Machaut (um 1300–1377). Er war ein führender Vertreter der Ars nova, Hofmann Johanns von Luxemburg, Kanoniker und Universalgelehrter in Reims sowie ein Erneuerer der höfischen Dichtung. Mit 142 Werken tritt er aus dem Dunkel der Anonymität. Seine mehrstimmige Notre-Dame-Messe aus dem Jahr 1364 zählt nicht nur zu den frühesten ihrer Art, sondern auch zu den ersten, die von einem einzelnen Komponisten überliefert sind. Auch seine 23 Motetten sind meist isorhythmisch aufgebaut; seine 40 Balladen, die zwei- bis vierstimmig angelegt sind, kombinieren in allerlei Varianten Vokal- und Instrumentalstimme. Von den 20 Rondeaus dürfte das mit der Anfangszeile »Ma fin est mon commencement« den kompositorischen Erfindungsreichtum gut dokumentieren; so wird die Melodie der Oberstimme auch von der Unterstimme vorgetragen, aber – wie es der Text nahelegt – rückläufig, im Krebs.

Auch wenn die Sakralmusik ihre machtvolle Stellung natürlich weiterhin behaupten sollte, ihr Ausschließlichkeitsanspruch war gebrochen. Guillaume de Machauts Werk beförderte die Emanzipation der weltlichen Musik. Und die Ars nova öffnete das Tor zur Renaissance.

Wussten Sie, dass …

die Ars nova im 14. Jahrhundert anfangs auf heftigen Widerstand stieß, so auch bei Papst Johannes XXII., der die Aufführung der neuen Musik in Gotteshäusern sogar per Bulle untersagen ließ?

dieses Verbot Guillaume de Machaut aber wenig kümmern musste, da er sein Auskommen durch weltliche Musik sicherte, die er an Fürstenhöfen darbot?

die guidonische Hand, eine Merkhilfe für den Tonartenwechsel, bei der jedes Fingerglied der linken Hand eine Tonstufe repräsentiert, auf Guido von Arezzo zurückgeht?

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