wissen.de Artikel
Das Tal der Unheimlichen – was steckt hinter dem Uncanny Valley?
Vor fast zwei Jahren sorgte das „Uncanny-Valley-Make-Up“ auf TikTok und anderen Social-Media-Plattformen für einen Trend. Nutzer schminkten sich auf eine Weise, die sie wie stark menschenähnliche Roboter aussehen ließ. Dabei lag ein schmaler Grat dazwischen, ob dieses Make-Up sie sympathisch oder unsympathisch aussehen ließ.
Woher kommt der Begriff „Uncanny Valley“?
Dieses Phänomen des „Uncanny Valley“ ist aber nicht erst seit 2023 bekannt: Der japanische Robotiker Masahiro Mori beschrieb das „bukimi no tani genshō“ (Phänomen des unheimlichen Tals) bereits im Jahr 1970. In seinem Aufsatz schrieb er, dass Menschen Roboter sympathischer finden, je menschenähnlicher sie werden. Ab einem bestimmten Punkt schlage diese Vertrautheit jedoch irgendwann in Unbehagen um – der Tiefpunkt des Uncanny Valley ist erreicht.
Zum Zeitpunkt von Moris Text gab es noch keine menschenähnlichen Roboter. Sein Aufsatz fand daher bis zum Anfang der 2000er Jahre eher wenig Beachtung. Dank Fortschritten in der künstlichen Intelligenz und Robotertechnik werden Roboter und Avatare inzwischen jedoch immer menschlicher und das Uncanny-Valley-Phänomen damit aktuell.
Schutz vor Krankheiten?
Woher unsere Abneigung gegen „zu reale“ Roboter kommt, ist nicht vollständig geklärt. „Bisher gibt es dazu verschiedene Theorien, die dafür entweder evolutionäre Ursachen oder verschiedene Aspekte der Wahrnehmung und Reizverarbeitung sehen“, erklären Esther Diekhof und ihre Kollegen von der Universität Hamburg. Einer dieser Theorien zufolge könnte unsere Abneigung gegen das Fast-Menschliche mit einem tiefverwurzelten Schutzinstinkt zusammenhängen, der uns vor potenziell ansteckenden Kranken schützen soll.
„Weil Menschen Krankheitserreger nicht direkt wahrnehmen können, müssen sie sich auf indirekte sensorische und soziale Anzeichen verlassen – auch wenn diese nicht immer verlässliche Indikatoren sind“, erklären Diekhof und ihre Kollegen. Sehen wir beispielsweise Hautekzeme, Geschwüre oder Fehlbildungen, reagieren wir unwillkürlich mit Abwehr oder Ekel.
Gleichzeitig reichen auch leichte Veränderungen im Teint, im Gang oder der Körperhaltung aus, um uns misstrauisch werden zu lassen. Genau deswegen rufen laut der Theorie auch menschenähnliche Roboter und Avatare solche Reaktionen hervor: Die Maschinen und Figuren kommen mit ihrem Aussehen Menschen zwar sehr nah, doch kommen ihnen nicht gleich. Außerdem ist uns klar, dass es sich bei ihnen nicht um einen echten Menschen handelt.
Bitte lächeln!
Ob diese Theorie zutrifft, haben Diekhof und ihr Team nun auf ungewöhnliche Weise überprüft: Sie wollten wissen, ob der Uncanny-Valley-Effekt auch eine messbare Reaktion unseres Immunsystems auslöst. Dazu sollten 66 Testpersonen Avatare mittels VR-Brille so lange ansehen, bis die Avatare begannen, zu lächeln. „Uns ging es darum, dass die Testpersonen sich in einer möglichst realistischen virtuellen Umgebung den ‚virtual agents‘ näherten und für längere Zeit direkten Augenkontakt aufnehmen mussten“, erklärt Seniorautor Frank Steinicke
Die Testpersonen trafen dabei auf drei verschiedene Arten von Avataren: stark stilisierte Cartoonfiguren, realistische Avatare und „Uncanny“-Avatare. Letztere hatten untypische Proportionen, bewegten sich unnatürlich und schielten oder lächelten ohne Beteiligung der Augenpartie.
Vor und nach dem Test nahmen die Forschenden Speichelproben und ermittelten darin die Konzentration an Immunglobulin A. Dieser Antikörper-Typ wird bekanntermaßen schon beim Anblick potenzieller Krankheitsquellen aktiviert. Unser Immunsystem produziert Immunglobulin A beispielsweise, wenn wir verdorbene Lebensmittel oder einen sichtlich kranken, niesenden Grippe-Patienten sehen.
Uncanny-Valley-Effekt im Immunsystem messbar
Tatsächlich zeigte sich dieser Effekt auch im Test mit den „Uncanny Valley“-Figuren: Beim Anblick dieser Avatare stieg die Konzentration des Immunoglobins A im Speichel der Probanden – beim Anblick der Cartoonfiguren oder der realistischen Avatare jedoch nicht.
„Das zeigt, dass die menschliche Wahrnehmung abweichende äußere Merkmale offenbar auch bei virtuellen Abbildern als potenzielle Bedrohung für die Gesundheit ansieht“, sagt Diekhof. „Das Gehirn leitet aus den optischen Informationen relativ automatisch eine potenzielle Gefahr ab und aktiviert vorsorglich das Immunsystem.“ Dieser Befund stütze die Annahme, dass der Uncanny-Valley-Effekt zumindest in Teilen darauf zurückgeht, dass wir uns so vor potenziell ansteckenden Kranken schützen wollen.
Auch interessant: Obwohl die unheimlichen Charaktere eine Immunreaktion auslösten und die Testpersonen sie signifikant häufiger „seltsam“ als die anderen Avatare fanden, empfanden sie beim Anblick der Avatare keine besonders starke Abneigung, keinen Ekel und keine Abwehr. „Wir vermuten, dass das Immunsystem zwar automatisch auf die potenzielle Ansteckungsgefahr durch die unheimlichen Avatare reagierte, das Gehirn die Bedrohung aber nicht so hoch einschätzte, dass eine bewusste Empfindung von Ablehnung oder Ekel ausgelöst wurde“, schließen Diekhof und ihre Kollegen.