Wissensbibliothek

Dostojewskijs Schuld und Sühne: Läuterung eines Mörders

Um wen geht es in »Schuld und Sühne«?

Im Mittelpunkt des Romans »Schuld und Sühne« (1866) steht der verarmte St. Petersburger Ex-Jurastudent Rodion Raskolnikow. Wie schon öfter bei Dostojewskij handelt es sich auch bei dieser Figur um jemanden, der vom Volk und seinen Werten losgelöst ist (russisch raskol, »Abspaltung«). Brutal ermordet Raskolnikow eine »lebensunwerte« Pfandleiherin (eine »Laus«) und deren Schwester mit dem Beil.

Wie begründet Raskolnikow seine Tat?

Er sieht sich als Ausnahme- und Übermenschen, als eine Art »Napoleon«. Seine Grundlage ist die zuvor entwickelte Idee, zum Nutzen der Gesellschaft über die gültige Moral aller zu triumphieren. So versucht Raskolnikow, seiner kriminellen Idee eine philosophische Legitimation zu geben.

Fühlt sich der Held in seiner Idee bestärkt?

Nein, statt Genugtuung stellt sich bei Raskolnikow nach vollbrachter Tat schnell das Gefühl völliger Vereinsamung ein. Fieberanfälle, Ekel vor sich selbst und Wahnvorstellungen suchen den Verzweifelten in seinem sargähnlichen Zimmer heim, ebenso wie der Untersuchungsrichter Porfiri, der Raskolnikows Schuld in psychologisch geschickten Verhören durchschaut und ihm rät, sich zu stellen.

Findet der Mörder Vergebung?

Ja, durch sein Geständnis und die aufopfernde Liebe der Prostituierten Sonja gelingt dem »philosophischen Verbrecher« schließlich die Läuterung. Die Abkehr vom materialistischen Denken lässt Raskolnikow im sibirischen Gefangenenlager – wie Lazarus im Johannes-Evangelium – zu neuem Leben auferstehen: Als die engelsgleiche Prostituierte im Epilog nach Jahren der Strafe in Sibirien erscheint, erkennen beide plötzlich, dass er sie liebt. Raskolnikow umfasst ihre Knie und beginnt zu weinen: »Sie wollten einander wohl etwas sagen, aber sie konnten es beide nicht.«

Was wollte der Autor?

Dostojewskij wollte vor allem Kritik am großstädtischen, westlichen Geist des Materialismus und Utilitarismus üben. Dazu erzählt er die Geschichte der Heilung und Läuterung eines verblendeten Individuums, das sich außerhalb der moralischen Ordnung stellen möchte. Wie der russische Schriftsteller das macht, zeugt von großer psychologischer Durchdringungskraft, aber auch von einem tiefen Glauben an die Kreatürlichkeit des Menschen, an sein Erlösungsbedürfnis und an die biblische Idee der christlichen Liebe.

Am 24. Dezember 1849 wurde Fjodor M. Dostojewskij ins westsibirische Straflager Omsk deportiert. Man hatte ihn wegen »staatsfeindlicher Aktivitäten« verurteilt und mit einer Scheinhinrichtung terrorisiert. In Omsk bekam Dostojewskij von einer Mitgefangenen eine Bibel geschenkt – ein einsamer Akt der Menschenliebe im harten Lageralltag. In seiner Todesstunde sollte er das Buch in seinen Händen halten. Die Bedeutung von Bibel und Lager hat Dostojewskij in »Schuld und Sühne« (1866) illustriert, dem ersten großen Ideenroman der Weltliteratur.

Bewunderung und Kritik

Wegen seiner außerordentlich dramatischen Darstellungsweise – »Schuld und Sühne« ist voller Theatralik, die zum Teil schwer zu ertragen ist – hat Vladimir Nabokov Dostojewskij jegliches Talent abgesprochen: Besser hätte der Landsmann Bühnenstücke verfasst. Besonders verächtlich sei der Trick der Romanfiguren, »sich ihren Weg zu Jesus zu ersündigen«. Dennoch hatten Dostojewskijs Romane gewaltigen Einfluss auf die Literatur der Moderne. In Deutschland wurde »Schuld und Sühne« begeistert aufgenommen. Vor allem die realistische Schilderung menschlicher Pathologie und die Ideenwelt der Figuren prägten Naturalismus und Expressionismus nachhaltig. Auch Surrealismus und Existenzialismus, namentlich Jean-Paul Sartre, standen unter Dostojewskijs Einfluss. Einer der größten (und kritischsten) Bewunderer war Friedrich Nietzsche, der in »Schuld und Sühne« seine Idee des Übermenschen anklingen sah und Dostojewskijs unaufhörliches Schwanken zwischen Traditionalismus und Modernität pointierte: Der Russe sei ein »grandioser Psychologe – und ein erbärmlicher Christenmensch«.

Wussten Sie, dass …

Vladimir Nabokov, der Verfasser von »Lolita«, Dostojewskij jedes Talent abgesprochen hat? Er hätte besser Bühnenstücke geschrieben, meinte er. Er spielt damit auf die Tatsache an, dass die Romane Dostojewskijs stark von Dialog und wörtlicher Rede dominiert werden, in denen die Figuren ihre Ideen und ihr Innenleben ausdrücken.

War Fjodor M. Dostojewskij der Spielsucht verfallen?

Ja, zeitweise war Fjodor M. Dostojewskij (1821–1881) dem Spiel ergeben, sogar so sehr, dass er sich dabei finanziell komplett ruinierte. Zeugnis dieser Phase seines Lebens legt der in nur einem Monat in Wiesbaden verfasste Kurzroman »Der Spieler« (1866) ab. Danach begann die Zeit der großen »philosophischen Romane« wie »Die Dämonen« (1871/72) oder »Die Brüder Karamasow« (1879/80). Dostojewskij, der einer der bedeutendsten Realisten der Weltliteratur ist, verbrachte die Jahre von 1849 bis 1854 im Arbeitslager im westsibirischen Omsk, bevor man ihn zum Militärdienst nahe der mongolischen Grenze »begnadigte«. Erst 1859 durfte er nach Sankt Petersburg zurückkehren. Die Strafe wurde dem Schriftsteller auferlegt, weil er 1847 einer revolutionären Geheimorganisation beigetreten war und einen utopischen Sozialismus propagierte. Später wandelte er sich zu einem christlichen Konservativen.

Mehr Artikel zu diesem Thema

Weitere Lexikon Artikel

Weitere Artikel aus dem Wahrig Synonymwörterbuch

Weitere Artikel aus dem Wahrig Fremdwörterlexikon

Weitere Artikel aus dem Wahrig Herkunftswörterbuch

Weitere Artikel aus dem Vornamenlexikon