Lexikon
Neomarxịsmus
Sammelbegriff für die theoretischen Ansätze von Wissenschaftlern und Philosophen, die auf der Grundlage und mit den Denkansätzen des Marxismus, jedoch in kritischer Distanz zu den offiziellen Auffassungen der kommunistischen Parteien, nach dem 2. Weltkrieg eine Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Fragen der Gegenwart versuchten. Hierzu gehörten insbesondere: aus Deutschland W. Abendroth, E. Bloch, R. Havemann, L. Kofler, O. Negt sowie die Frankfurter Schule (T. W. Adorno, J. Habermas, M. Horkheimer, H. Marcuse), aus England M. Dobb, aus den USA P. A. Baran und P. M. Sweezy, aus Frankreich L. Althusser, A. Gorz, H. F. Lefèbvre, N. Poulantzas und J.-P. Sartre, aus Belgien E. Mandel, aus Italien L. Basso, G. Della Volpe, aus Österreich E. Fischer und J. Hindels, aus Polen L. Kolakowski, aus der Tschechoslowakei K. Kosík, aus Jugoslawien die sog. Praxis-Gruppe.
In unterschiedlicher Ausprägung konzentrierten sich die neomarxistischen Theorien auf folgende Elemente: 1. die Kritik an den als gleichermaßen repressiv angesehenen Systemen des kapitalistischen Westens und des kommunistischen Ostens, 2. die Analyse des sog. „Spätkapitalismus“, 3. die Feststellung des fehlenden Willens der Arbeiterklasse zur Revolution, bedingt durch relativen Wohlstand und Integration, 4. die Kritik an der Ausbeutung der „Dritten Welt“, 5. die dialektische Methode, 6. das Ziel, die „Selbstentfremdung“ des Menschen zu beseitigen und ihm die Selbstverwirklichung zu ermöglichen, 7. die Kritik an privater und monopolistischer Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel. In Frankreich beeinflussten Existenzialismus und Strukturalismus den Neomarxismus. Das neomarxistische Gedankengut inspirierte die neue Linke.
Neuere Varianten der marxistischen Theorie sind der „analytische Marxismus“, der seit den 1980er Jahren vor allem im angelsächsischen Sprachraum neue Akzente setzte (G. A. Cohen, J. Elster, A. Przeworski, J. E. Roemer u. a.), und die französische Regulationstheorie (M. Aglietta, R. Boyer). Zentrale Aussage des analytischen Marxismus ist, dass die Organisationsform des Sozialismus für die rationale Kosten-Nutzen-Maximierung aller Gesellschaftsmitglieder und deren Freiheit und Gleichheit dem Kapitalismus überlegen sei. Die Regulationstheorie legt ihr Augenmerk auf die problematische und krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus und fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit von relativ stabilen Phasen kapitalistischer Akkumulation. Deren Existenz wird damit erklärt, dass die Widersprüche kapitalistischer Vergesellschaftung bisher in unterschiedlichen institutionellen Formen reguliert worden sind. Daraus folgt, dass die unterschiedlichen historischen Phasen kapitalistischer Vergesellschaftung sich nicht aus den von Marx zur Verfügung gestellten abstrakten Kategorien der Politischen Ökonomie herleiten lassen, sondern das Ergebnis unterschiedlicher historischer Kämpfe der beteiligten Akteure und deren jeweiliger institutioneller Rahmenbedingungen sind.
Aus all diesen Ansätzen gingen wichtige Weiterentwicklungen und Modifikationen der Methodik, der Kapitalismus- und Klassenanalyse und der Staatstheorie ebenso hervor wie weitreichende Angriffe auf „maskulines und patriarchalisches Denken“ bei Marx und dessen unkritische Technik- und Fortschrittsgläubigkeit, weshalb heute eher von der „Krise des Marxismus“ oder von Postmarxismus die Rede ist, wenn auch marxistische Denkansätze in modifizerter Form durch die Globalisierungsdebatte in jüngster Zeit teilweise neu belebt wurden.
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