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TV macht schlau: Ist Fernsehen etwa besser als sein Ruf?

Glotz nicht so viel Fernsehen, sonst wirst du noch blöde! Diesen Satz haben vermutlich viele von uns schon als Kinder zu Ohren bekommen. Dass Fernsehen nicht unbedingt intelligenter macht und gerade die geistige Entwicklung von Kindern eher hemmt als fördert, ist eine weit verbreitete Überzeugung. Aber was macht TV-Marathons eigentlich so schädlich? Was sind die Folgen von regelmäßigem Fernsehen? Und birgt das Zappen durch die Kanäle eventuell sogar Vorteile?
THE, 27.05.2024
Fernsehendes Kleinkind mit dem Rücken zum Betrachter

© Aron M, iStock

Glotze aus! Wer intelligent und erfolgreich sein möchte, sollte besser lesen oder wenigstens Sport treiben, statt vor dem Fernseher zu hängen – so die gängige Annahme. Elon Musk hat sein Tech-Imperium schließlich auch mit harter Arbeit und stetiger Weiterbildung aufgebaut und nicht, indem er zum siebten Mal Love Island geschaut hat. Trotzdem gehört Fernsehen zur liebsten Freizeitbeschäftigung der Europäer. Etwa 210 Minuten TV pro Tag schauen wir im Durchschnitt, vermutlich sogar mehr. „Meistens unterschätzen die Menschen, wie viel Fernsehen sie tatsächlich konsumieren“, erklärt Matthias Nürnberger, Neurologe am Universitätsklinikum Jena.

Dass stundenlanges Vor-der-Glotze-sitzen besonders für Kleinkinder schädlich ist, belegen auch zahlreiche wissenschaftlichen Studien: Beispielsweise untersuchten kanadische Forschende über mehrere Jahre das Fernsehverhalten von über tausend Kindern. „Wir haben festgestellt, dass jede zusätzliche Stunde des Fernsehkonsums bei Kleinkindern mit einer Verschlechterung des späteren Engagements in der Schule einhergeht“, berichtet Linda Pagani, Professorin für Psychologie an der Universität Montreal. „Sie sind später häufiger Opfer von Mobbing in der Schule, haben einen inaktiveren Lebensstil, essen mehr Junkfood und haben dadurch auch einen höheren Body-Mass-Index.“

Dumme Kinder werden vom fernsehen dümmer, intelligente Kinder auch

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch ein Forschungsteam, das über 26 Jahre hinweg den Zusammenhang zwischen dem persönlichen Werdegang und dem TV-Konsum zahlreicher Testpersonen verfolgte. Das Ergebnis: „Junge Erwachsene, die als Kinder und Jugendliche mehr Zeit mit Fernsehschauen verbracht haben, hatten häufiger eine antisoziale Persönlichkeitsstörung, waren aggressiver und mit höherer Wahrscheinlichkeit schon mindestens einmal wegen einer Straftat verurteilt worden als Personen, die als Kind weniger lange vor dem TV-Gerät saßen“, berichten Robertson und ihre Kollegen. Die Wahrscheinlichkeit für eine kriminelle Karriere sei sogar mit jeder Stunde Fernsehkonsum mehr um 30 weitere Prozent angestiegen.

Aber was, wenn TV-Konsum gar nicht der Grund für die mangelnde Intelligenz der fernsehschauenden Kinder ist? Möglicherweise sitzen weniger intelligente und aktive Kinder von Vornherein schon häufiger vor der Glotze als ihre pfiffigeren, sozialkompetenten Altersgenossen. Dann würden die dummen, fernsehbegeisterten Kinder die Ergebnisse verfälschen. Um diese Möglichkeit auszuschließen, haben Robertson und ihre Kollegen untersucht, ob die individuelle Intelligenz, die Fürsorge der Eltern, das Einkommen oder der soziale Status der Familie möglicherweise einen Einfluss auf die Forschungsergebnisse hatten.

Das Ergebnis: Leider nein. Selbst als die Forschenden nur Teilnehmende mit ähnlichen Voraussetzungen verglichen, blieb der Effekt bestehen. Ein erhöhter TV-Konsum führte in fast allen Gruppen zu mehr Kriminalität und antisozialerem Verhalten. Robertsons Team testete auch, ob eventuell Kinder, die häufiger vor dem Fernsehen saßen, einfach von Natur aus weniger sozialkompetent sind. „Stattdessen ist es umgekehrt: Kinder, die viel Fernsehen geschaut haben, entwickeln später eher antisoziale Persönlichkeitszüge und Verhaltensweisen“, sagt Robertson. Es scheint bewiesen: Fernsehen ist schädlich, besonders für junge Leute.

Neue Forschungsergebnisse: Fernsehen mach klug und flink

Doch kürzlich veröffentlichte Forschungsergebnisse des Universitätsklinikums Jena stellen diese scheinbar wasserdichte Beweislage für die Schädlichkeit des Fernsehens nun infrage: Um herauszufinden, ob Fernsehen wirklich so schlimm ist, wie sein Ruf, ließen die Wissenschaftler junge Erwachsene fünf Tage lang entweder acht Stunden am Tag oder überhaupt nicht fernsehen. In der Zwischenzeit absolvierten beide Gruppen kognitive Tests: Zum einen lernten alle Teilnehmenden das Zehn-Finger-System für das Tastaturschreiben und testeten täglich ihren Lernfortschritt. Zum anderen mussten sie in visuellen Reaktionstests möglichst schnell rote von blauen Buchstaben unterscheiden. Zudem wurden mitttels Magnetresonanztomografie (MRT) Gehirnaufnahmen aller Teilnehmenden gemacht.

Das Ergebnis der Studie überraschte selbst das Forschungsteam. Anscheinend wirkte sich der exzessive Fernsehkonsum sogar positiv auf die motorische Lernfähigkeit und die visuelle Informationsverarbeitung der Teilnehmenden aus: Die TV-Gruppe erlernte nicht nur schneller das Zehn-Finger-System, sie reagierte auch signifikant schneller auf die Farbtests. Die Wissenschaftler sehen sich in ihrer Annahme bestätigt. „Wir hatten schon die Vermutung, dass Fernsehen für unser Gehirn besser ist als sein Ruf“, kommentieren sie. „Es existierten aber keine prospektiven Studien.“

Ist Fernsehen besser als sein Ruf?

Aber was bedeutet dies nun für unseren Alltag? Kann ich demnach doch ohne negative Konsequenzen stundenlang Serien schauen? Ganz so einfach ist das nicht. Bisherige Studien deuten fast einstimmig darauf hin, dass Fernsehen den kognitiven und sozialen Fähigkeiten vor allem von jüngeren Kindern schadet. Diese drückende Beweislast kann eine einzelne Studie nicht zunichtemachen. Außerdem ist es möglich, dass die Studien sich gar nicht widersprechen und Fernsehen zwar die getesteten motorischen und visuellen Fähigkeiten verbessert, aber trotzdem aggressiver, unkonzentrierter und weniger sozial macht.

Auch die Forschenden sprechen trotz ihrer verblüffenden Ergebnisse keine Empfehlung fürs Dauerfernsehen aus: „Fernsehen hat eben nicht nur Auswirkungen auf das Gehirn. Wer nur vor dem Fernseher sitzt, bewegt sich in aller Regel nicht viel und schränkt auch sein Sozialleben ein. Insofern: Fernsehen ist zwar besser als sein Ruf, aber man sollte es trotzdem damit nicht übertreiben.“

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