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40 Jahre "Tatort" - wenn der Krimi zum Kult wird (Podcast 106)

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Der Vorspann ist ebenso legendär wie die Musik: Blaue Augen, ein fixierendes Fadenkreuz, schließlich der laufende Mann auf regennassem Asphalt: knapp dreißig Sekunden, die seit dem 29. November 1970 für ein Millionenpublikum zur festen Sonntagabendunterhaltung gehören. Heute, genau vierzig Jahre und beinahe 800 Folgen später ist der „Tatort“ ein festes Fernsehritual, für das sich jede Zuschauergeneration neu begeistern kann. Hören Sie dazu heute den Beitrag von Kai Jürgens „40 Jahre Tatort - wenn der Krimi zum Kult wird“.
Am Anfang war das „Stahlnetz“

Krimis hatten im Fernsehprogramm von Anfang an ihren festen Platz – und konnten sich auf eine treue Anhängerschaft verlassen. Bis heute ist die Serie „Stahlnetz“ berühmt, deren 22 Originalfolgen zwischen 1958 und 1968 entstanden und auf authentischen Fällen basierten. Die ARD suchte nach einem Konzept, um den außergewöhnlichen Erfolg von „Stahlnetz“ fortschreiben zu können, auch um der populären ZDF-Serie Der Kommissar Paroli zu bieten.

Der Dramaturg Gunther Witte entwickelte dann für den WDR das Tatort-Konzept, dessen Grundzüge bis heute gelten: Wechselnde Schauplätze, unterschiedliche Teams, nachvollziehbare und realitätsnahe Fälle. Die Verteilung auf mehrere Städte hatte nicht zuletzt handfeste Gründe: Die Produktionskosten ließen sich so auf die Landessender verteilen. Tatsächlich aber profitiert der Zuschauer bis heute davon, da unterschiedliche Orte für wechselndes Lokalkolorit sorgen. Und auch der regelmäßige Austausch der Ermittlerteams hat sich bewährt, schützt diese Regelung doch davor, einen Handlungsstrang „zu Tode zu reiten“, wie es in US-Fernsehserien so oft passiert.

Doch das ist nicht alles. Der „Tatort“ verjüngt sich auch regelmäßig in der Optik und in der Art, wie die Geschichten erzählt werden. So werden aktuelle Entwicklungen in Kameraführung, Schnitt und Montage eingesetzt. Auch die Themen haben sich über die Jahre stark gewandelt. Waren frühe Folgen vom klassischen „Wer hat’s getan?“ geprägt, geht es heute um aktuelle gesellschaftliche Problemfelder. Ob Kinderpornographie oder Ausländerfeindlichkeit, kein Eisen ist zu heiß.

 

Im Taxi nach Leipzig - und weiter: die frühen Folgen

 

Als am 29. November 1970 Taxi nach Leipzig ausgestrahlt wurde, konnte niemand ahnen, welche Erfolgsgeschichte damit angestoßen werden würde. Kurioserweise ist diese Folge aber gar nicht die erste, die gedreht wurde. Tatsächlich gab es die Figur des Kommissars Trimmel, die von Walter Richter gespielt wurde, bereits vorher. Schon 1969 wurde Exklusiv! ausgestrahlt, ein Film, der nachträglich als Folge Nr. 9 in die „Tatort“-Reihe integriert wurde. Auch Taxi nach Leipzig stand ursprünglich für sich. Und noch etwas war damals anders als heute: Paul Trimmel war zuerst eine Romanfigur. Sie wurde von Friedhelm Werremeier erfunden und löste weit mehr Fälle als die elf, die bis 1982 innerhalb der Reihe „Tatort“ verfilmt wurden. Der spätere Versuch, Trimmel durch einen anderen Darsteller zu einer eigenständigen Serie zu verhelfen, scheiterte jedoch – Walter Richters Spiel blieb unerreicht.

Bis heute bekannt ist auch die Figur des Heinz Haferkamp, der von Hansjörg Felmy verkörpert wurde. Von 1974 bis 1980 ermittelte er zwanzigmal in Essen. Der passionierte Frikadellenliebhaber, der gern Jazzplatten hört, ist vom Typ her eher Einzelgänger mit charismatischer und ungebrochener Persönlichkeit – trotz der Scheidung, die irgendwann in seiner Biographie stattgefunden hat. Kommissar Haferkamp gehörte auf Anhieb zu den beliebtesten „Tatort“-Ermittlern und verteidigt diese Position bei Umfragen bis heute – obwohl sein letzter Fall Jahrzehnte zurückliegt.

Einen völlig anderen Ermittlertyp verkörperte Götz George als Horst Schimanski. Lässig gekleidet und mit rauen Sprüchen zog mit Schimanski eine neue Type in die deutsche Fernsehunterhaltung ein – unkonventionell, antibürokratisch, fast anarchisch.

Zwischen 1981 und 1991 wurden 29 Folgen mit George ausgestrahlt, zwei schaffen es sogar ins Kino; später kommt es unter dem Titel „Schimanski“ zu weiteren Fällen.

So wie man sich Schimanski nicht ohne seinen in vielen Dingen gegensätzlich angelegten Partner Christian Thanner vorstellen kann, so lässt sich auch die Figur des Paul Stoever nicht ohne Peter Brockmöller denken. Dabei ermittelte Manfred Krug in der Rolle des Stoever ab 1984 zunächst allein, bis 1986 Charles Brauer als Brockmöller hinzukam. Gemeinsam brachte es das Team bis 2001 auf 37 Folgen, und ihr Erkennungszeichen waren die gemeinsamen Gesangseinlagen.

Die exzentrische Note, die hier durchscheint, ist auch einigen aktuellen „Tatort“-Ermittlern durchaus zu eigen.

Holm, Odenthal, Batic: Schlagkräftige Ermittler von heute

In den ersten Jahren ermittelten fast ausschließlich Kommissare am und im Tatort. Und heute? Die Frauen kommen. Und zwar gewaltig. Seit 2002 ermittelt Maria Furtwängler als Charlotte Lindholm für das LKA in Niedersachsen. Erste „Tatort“-Kommissarin war allerdings Nicole Heesters als Mainzer Kommissarin Buchmüller, ab 1978 wurden drei Folgen produziert. Charlotte Lindholm ist eine nuancenreiche Figur, deren Privatleben in den Episoden immer wieder thematisiert wird, auch sind die Folgen miteinander verzahnt. Die meisten Auftritte als Kommissarin hatte bislang Ulrike Folkerts als Lena Odenthal: Über fünfzig Folgen seit 1989, davon mehr als vierzig mit Andreas Hoppe als Assistent Mario Kopper.
 

Wo ist der Professor – In meinem Bett

 

Betont eigenständig wartet auch der Münsteraner Tatort auf. Die Fälle selbst geraten auf Kosten markanter Rededuelle zwischen Kommissar Frank Thiel und Gerichtsmediziner Prof. Karl-Friedrich Boerne oft in den Hintergrund. Axel Prahl und Jan Josef Liefers setzen das mit sichtlicher Spielfreude um. Dabei ist die unterschiedliche Konzeption der Figuren, die Erdverbundenheit gegen Snobismus setzt, zweifellos eine große Hilfe. Doch auch Professor Boerne schlägt mal über die Stränge.

 

Butterdieb

 

Nicht vergessen werden dürfen allerdings die Teams aus München und Köln. Ivo Batić und Franz Leitmayr, dargestellt von Miroslav Nemec und Udo Wachtveitl, haben bereits 55 Fälle hinter sich. Mit 47 Folgen sind ihnen Max Ballauf und Freddy Schenk, gespielt von Klaus J. Behrendt und Dietmar Bär, aber dicht auf den Fersen.

 

Wiedersehen macht Freude: Kultepisoden

 

Nicht nur die Ermittlerteams erfreuen sich großer Beliebtheit - es gibt auch Episoden, die unterdessen Klassikerstatus genießen. Hierzu gehören natürlich nicht wenige Schimanski-Episoden, allen voran der Auftakt Duisburg-Ruhrort vom 28. Juni 1981. Doch es kam schon 1973 zu einem Ausnahme-Tatort. Er hieß Tote Taube in der Beethovenstraße, wurde von dem Amerikaner Samuel Fuller geschrieben und in englischer Sprache gedreht. In den USA lief er 1974 auch im Kino. Das deutsche Publikum reagierte auf den experimentell angelegten Film, in dem Zollfahnder Kressin nur in den ersten Minuten die Hauptrolle spielt, ablehnend, dennoch wird er bis heute als formales Experiment gerühmt. Die Musik dazu stammte übrigens von der deutschen Krautrock-Avantgardegruppe Can.

 

Tatort Reifezeugnis

 

Berühmt wurde ebenfalls Reifezeugnis aus dem Jahre 1977. Der sechste Tatort des später durch Hollywood-Produktionen weltberühmt gewordenen Regisseurs Wolfgang Petersen gab den Startschuss für die Karriere von Nastassja Kinski. Die Tochter von Klaus Kinski drehte nachfolgend mit Wim Wenders, Roman Polanski und Francis Ford Coppola. Doch auch inhaltlich erfreut sich die Folge, die mit einem Lehrer-Schülerinnen-Verhältnis ein klassisches Thema umsetzt, nicht zuletzt dank freizügiger Szenen großer Beliebtheit.

 

Tatort Auf der Sonnenseite

 

Einen Neuanfang versuchte hingegen 2008 Auf der Sonnenseite. Kriminalhauptkommissar Cenk Batu ist nämlich konsequent als verdeckter Ermittler unterwegs, was die Konzeption der Reihe aufbricht. Außerdem stellt Mehmet Kurtuluş den ersten türkischstämmigen Hauptermittler dar. Die Kritik feierte den spannenden Fall als „rundum erneuerten“ Tatort und verglich ihn in seiner Neuartigkeit mit dem ersten Auftritt von Horst Schimanski.

 

Krimi kurios: Was es sonst noch gibt

 

In vierzig Jahren kann viel passieren. Ein Kuriosum ist beispielsweise die Folge Haie vor Helgoland aus dem Jahr 1984, die das Debüt von Kommissar Stoever markiert: Die Filmhandlung diente als Vorlage für einen realen Raubüberfall. Das war von den Machern zweifelsohne nicht beabsichtigt. Ungewöhnlich ist auch Watt Recht is, mutt Recht bliewen, eine vom NDR gedrehte Episode, in der das Lokalkolorit sprachlich so dominant wurde, dass Untertitel zum Einsatz kamen. Seither wird in den „Tatort“-Folgen verstärkt Hochdeutsch gesprochen. Leider.

Politikerreaktionen gab es übrigens auch. Tatort-Erfinder Gunther Witte erinnert sich an Franz Josef Strauß: „Der schickte 1975 nach dem SFB-Tatort Tod im U-Bahn-Schacht dem Intendanten ein Fernschreiben und bezeichnete den Krimi darin als ‚Banditenfilm aus Montevideo mit Bordelleinlage’ und verdonnerte gleich das ganze Genre. Wir haben darüber Tränen gelacht.“

Grundsätzlich gilt übrigens, dass nur „Tatorte“ der jüngsten zehn Jahre wiederholt werden – ältere Episoden sind meist speziellen Filmnächten vorbehalten. Allerdings gibt es auch eine Reihe von Folgen, die aus juristischen oder künstlerischen Gründen gar nicht mehr gezeigt werden dürfen. Es handelt sich dabei allerdings bloß um ein halbes Dutzend, darunter die Lindholm-Episode Wem die Ehre gebührt aus dem Jahr 2007, die wegen möglicher Verletzung religiöser Gefühle in Misskredit geriet. Doch manchmal werden solcher Episoden auch überarbeitet oder Jahre später neu geprüft und als unbedenklich eingeschätzt. Dazu gehört auch die Schimanski-Folge Blutspur, die nach ihrer Erstsendung 1989 einige Jahre nicht wiederholt worden war, nun aber wieder gezeigt wird.

Doch es gibt auch „Tatort“-Folgen, die in Deutschland noch nicht gesendet worden sind. Grundsätzlich ist die Serie eine Gemeinschaftsproduktion zwischen ARD, dem Österreichischen Rundfunk und zeitweilig auch dem Schweizer Fernsehen. Zwischen 1985 und 1989 hat der ORF im Alleingang dreizehn Episoden produziert, deren Erstsendung ausschließlich in Österreich ausgestrahlt wurde. Erst später gelangte die eine oder andere Folge nach Deutschland – was sie für Liebhaber der Serie natürlich zu Sammlerstücken macht. Zu offiziellen „Tatorten“ werden sie nicht gezählt.

 

Berti Vogts im Tatort

 

Nicht vergessen werden sollen zum Schluss aber die vielen Gastauftritte – ob Udo Lindenberg oder die Toten Hosen, ob Berti Vogts, Reinhold Beckmann oder James-Bond-Darsteller Roger Moore, sie alle verliehen und verleihen dem „Tatort“ zusätzliche Aufmerksamkeit.

 

Das Mädchen auf der Treppe

 

Und: Nicht nur die legendäre Titelmelodie von Klaus Doldinger, auch die Musik in einzelnen Folgen erreichte teilweise große Popularität – darunter Stücke von Frank Duval, Chris Norman oder dem lang vergessenen Horror-Elektronik-Duo Warning. In einigen Fällen wurde die Musik einer bereits erschienenen LP entnommen, mal extra für den „Tatort“ komponiert oder abgeändert. Bis heute bekannt ist Das Mädchen auf der Treppe von Tangerine Dream und natürlich das Stück, das Klaus Lage 1990 Horst Schimanski auf den Leib geschneidert hat: Hand in Hand.

 

Klaus Lage: Hand in Hand

 

Faust auf Faust - hart, ganz hart
Alles das kannst du verdau'n
Doch gib zu, zart, ganz zart
hat ihre Hand dich umgehau'n
Und das ist hart für Schimi --
dein ganz privater Krimi.

 

… und wie geht es weiter?

 

Über ein Dutzend Ermittlerteams gibt es im Jubiläumsjahr 2010, doch neue Charaktere warten schon – gespielt unter anderem von Ulrich Tukur, Barbara Philipp, Joachim Król und Nina Kunzendorf. Und für den Kieler Tatort um Kommissar Borowski, der nun durch die unkonventionelle Sarah Brandt alias Sibel Kekilli Verstärkung erhält, hat kein geringer als Henning Mankell Drehbuch-Ideen beigesteuert. Es bleibt also spannend beim „Tatort“ – im vierzigsten Jahr, und auch darüber hinaus.


Kai Jürgens

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